Veröffentlicht bei Ad Fontes International

Ausgabe Januar 2024

 

Versuch einer Einbringung der alten Glaubensbilder in unsere Zeit

                                                 (1.Teil)

Von Dietrich Kothe

Auf der Zielgeraden seines Lebens befindlich (und das ist schließlich seit Geburt der Fall), scheint es angebracht zu sein, den mutmaßlichen Endpunkt näher ins Auge zu fassen. Auch schadet es nicht, sich die Frage zu stellen, weshalb man überhaupt unterwegs ist (wohl wissend, dass diese nur glaubend beantwortet werden kann, bevor das eigene Omega überschritten ist).

 

 

Inhalt

Vorbemerkung  1

Versuch der Einbringung der Glaubensbilder in unsere Zeit 3

A. Der Beginn des Kosmos nach gegenwärtiger Vorstellung  3

B. Zur schöpfungsbezogenen Anschauungen der Ursache allen Seins  5

C. Zum Menschsein und der Göttlichkeit 8

D. Bemerkungen zur Beseeltheit 9

E. Einlassung zur Verantwortungshaltung  10

F. Dem christlichen Kerngebet begegnen mit den Erkenntnismöglichkeiten unserer Zeit 13

F. a) Die Bethandlung als solche und ihre möglichen Positionen  13

F. b) Zur biblischen Aussage bezüglich des Betens  14

G. Gebetsformel: Deine heilige Hand über alles Sein  16

H. Kulthandlungen besonderer Form    17

I. Vermerke zur Eucharistie aus katholischer Sicht 18

J. Einlassung zur Entwicklung der Bibelworte  20

Anhang  21

 

 

Vorbemerkung

I.

Die Glaubensfreiheit ist uns (lt. GG 4) zugesichert – wir benötigten nur noch den Glauben, um diese Freiheit wahrnehmen zu können. (Nach einem sarkastischen Wort zur Gedankenfreiheit, Karl Kraus zugeschrieben.)

Es fällt den im heutigen Wissensstand Aufgewachsenen und nicht bereits in eine Glaubenswelt sozusagen Hineingeborenen allerdings schwer, sich bei ihrer Glaubenssuche an überkommenen biblischen Bilderwelten zu orientieren. Dass sich die Kirchen äußerlich strukturell wandeln müssten, ist zwar eine unumgängliche Notwendigkeit zu ihrer Selbsterhaltung. Das öffnete allerdings nicht schon den Zugang zu ihrer religiösen Glaubenswürdigkeit für die rational geprägte, meist religionsferne Denkweise der Zeitgenossen.

II.

Der kritische Blick auf unsere frühkindlich grundgelegte, umfeldlich beeinträchtigte Prägung ermöglichte es uns, unsere Selbstgewichtung aus unserer "Man"-Haltung* und unserer angepassten Alltäglichkeit in einem wirklich selbstbestimmten Dasein zu verorten. Aber auch diese Zubilligung einer eigenständigen Wesenheit entledigte uns nicht, ist sie glaubenlos, der Hilflosigkeit gegenüber der quasi tragischen Ausweglosigkeit des Daseins. *(Martin Heidegger, »Der Begriff der Zeit«, Tübingen 1989, S. 13 ff.)

III.

"Warum ist überhaupt Sein und nicht viel mehr nichts?" (Martin Heidegger, "Einführung in die Metaphysik", Tübingen 1987, S. 1) Diese Frage scheint unsinnig zu sein, da sie nie zu beantworten sein wird. Dagegen hat die Astrophysik Erklärungen für den Beginn und in Verein mit anderen Naturwissenschaften für viele der Gegebenheiten des Universums gefunden.

Dem vor gut einem Viertel Million Jahren aus den Hominiden heraus entwickelten Homo sapiens hat sich im steten Wandel schließlich Bewusstsein in einem über die rein vitalen Bedürfnisse hinausreichenden Maße gebildet. So begab sich das menschliche Wesen wohl, wie künstlerische Hinterlassenschaften an Höhlenwänden bezeugen, in Erkundigungen zu seinem Dasein, jedenfalls in Abbildung desselben. Rein dieszeitlich bezogen, ergaben sich ihm zumeist die entsprechenden Lösungen vielfach zwangsläufig. Anders verhielt es sich allerdings wie bei uns Heutigen noch beim Überzeitlichen, das gelegentlich im Denken sichtbar wird. Das Woher und Wohin der Existenz macht zumindest zunächst ratlos. Es wird folglich verdrängt oder treibt einen zu Mutmaßungen. Wird nun die alltägliche Begegnung erinnert, dass alles eine Ursache hat, nämlich reale, also in der Wirklichkeit fassbare und ideale, demnach nur vorgestellte Dinge und Vorgänge, so erscheint einem die Einsicht, dass alles Gegebene als Gebilde eines wirkenden Gesamt zu denken sein könnte. Mit diesem als Urgrund allen Seins Erkannten kann ein Schritt auf dem Glaubensweg getan werden, bei dem diese Kraft schließlich als Göttlichkeit zu setzen wäre. Wobei es sich lohnen könnte, einen Blick auf das mythische Erbe des Christentums zu werfen.

 

Versuch der Einbringung der Glaubensbilder in unsere Zeit

A. Der Beginn des Kosmos nach gegenwärtiger Vorstellung

Wir gehen heute aus von einer vor gut achtzehn Milliarden Jahren gegebenen Basissingularität (George Lemaitre: Uratom). Diese könnte religiös als Schöpfungsvorstellung betrachtet werden und daher die mit frühzeitlichen Erkenntnismöglichkeiten überlieferte Paradiesvorstellung bereichern (in welcher bereits der Fortgang der Entwicklung des Schöpfungsgeschehens mit Ausdrucksmitteln der Genesiszeit abgebildet ist).

In der als unermessliche Energieballung vorgestellten Basis lag demnach alles das Universum Bestimmende als unendlich bildungs- und wandelbarer Grundstoff, versehen mit sozusagen einer Genetik allen Werdens vor. Der Kosmos ist demnach gekennzeichnet durch formende Selbstkraft. Dieses Gestaltungsvermögen der Elemente, das von uns allen in allem zu beobachten ist, wäre als Abbild des Göttlichen zu betrachten, nämlich als Gabe und Auftrag des Seins schlechthin. Und in religiöses Denken geleitet, könnten wir hierin das Gestaltende, in steter Zuwendung zu ihrer Schöpfung Getragene der göttlichen Kraft erblicken. Jegliches Seiende war bereits in der unermesslichen Fülle des Schöpfungsaktes grundlegend vorhanden – als Akt der in der Verkündigung zitierten Fülle der göttlichen Zuneigung. Alles, was ist und noch werden wird, war gegeben und bestimmt zum naturgesetzlich beeinflussten Fortschreiten. Diese Selbstentfaltung konnte seit Beginn des Kosmos zu günstigen oder auch misslichen Gegebenheiten führen und damit selektierend die Entwicklung darstellen. (Als simpler Vergleich zum Prozedere des Schöpfungsprozesses könnte die künstliche Intelligenz erwähnt werden, denn KI funktioniert, indem auf einen konkreten Befehl hin ein eigenständig operierender Algorithmus aus einem schier unendlichen Vorrat, z. B. von Sprachmaterial, systematisch bündelt, sodass ein geeigneter Text entsteht.)

Was daraus mitunter als ziellose Geworfenheit allen Seins durch die Schöpfung erscheinen mag, scheint dennoch von einem, allerdings nicht mit Verstandesmitteln, sondern nur glaubend zu ergründenden Geheiß versehen zu sein: nämlich der Entwicklung zur Vollendung hin, die im Geleit der Bewährung im Sein in der Schöpfung einhergeht. Also fordert das selektive Evolutionskonzept der kosmischen Entwicklung religiös zur Annahme einer ethischen Basisströmung der Bewährung im Sein mit dem Ziel der Vollendung heraus.

Da alles Sein, mit Kräften ausgestattet, in seinem Werden und Wandel im Entstehungsakt bereits vorgehalten war, nichtet sich die Vorstellung eines steten Eingreifens des Urgrundes allen Seins, der Göttlichkeit. (Nach Karl-Heinz Ohlig, Theologe, „Die Welt ist Gottes Schöpfung“, Mainz 1984, S. 109) So beantwortet sich auch die Frage nach Bestehen der vielen Unbilden, ohne dass sich die Schöpfungskraft lindernd einschaltete. (Die menschliche Fähigkeit aber, sich selbst sogar etwa in autosuggestiver Qualität zu beeinflussen – beispielsweise mittels vertieften Betens – könnte zur Erweckung der Selbstheilungskräfte und Bewältigung des Leids beitragen, zumindest aber als seelischer Kräftigungsakt wirken, auch die persönliche Widerstandskraft, Resilienz, fördernd. So ist eine mitunter als Wun­der bewertete Spontanheilung durchaus auch als Gabe des Urgrundes allen Seins zu werten. Sie sollte als eine Schöpfungsgabe einer natürlichen Veranlagung betrachtet werden.)

Die eingangs erwähnte Basissingularität weitete sich aus, was (zunächst abwertend) als Urknall bezeichnet wurde. (Forschungen George Lemaitres und Edwin Powell Hubbles) Alles Elementliche befindet sich, wie erwähnt, in einem immerwährenden Verlauf der Gestaltung. Die Grundelemente Energie, Masse und Bewegung können (nach Albert Einsteins E=m∙c2, dass Energie gleich Masse mal potenzierte Bewegung ist) verstanden und in ihrem Verhalten (z. B. mathematisch) umstellend als Wandlungsform begriffen werden.

Ist das unabdingbare Kennzeichen der sich zum Universum weitenden Ausdehnung durch die angesprochene stete Entwicklung all ihrer Elemente gekennzeichnet, so kann nicht Prädestination, also Vorgegebenheit, angenommen werden: Den Vorgängen wesentlich ist dargelegte Entfaltung, aus der keine Vorherbestimmung der Gebilde und Begebenheiten als Heilsplan Gottes zu folgern ist. (Fraglich ist das wohl von Augustinus ausgehende, sich bei Luther in der Form des „Gnadenwohls“ findende Heilsvorherbestimmtsein, auch ohne Verdienst. Andererseits widerspräche die möglicherweise daraus zu folgernde Annah­me eines vorherbestimmten Verworfenseins, auch ohne Schuld, dem christlichen Erlösungsgedanken.) Der Schöpferwille scheint also versehen zu sein mit der erwähnten Ga­be des Wandels allen Seins – abhängig vom Grad des Bewusstseins des Homo sapiens, auch von diesem bis zu einem beschränkten Grad gelenkt – und dadurch zur Vollständigkeit (religiös: Vollendung) als schöpferische Absicht führend.

B. Zur schöpfungsbezogenen Anschauungen der Ursache allen Seins

Nichts kann aus einem Nichts entstehen. Das Nichts ist philosophisch ein weites Feld: Es gilt Gläubigen in der jüdisch-christlichen Kosmologie als Grund der Schöpfung mit der Behauptung, Gott habe die Welt aus dem Nichts geschaffen: "[...] aus dem Nichts erschaffen [...]" (Makkabäer 7,28) (Ungewiss, ob diese Annahme auch Thomas von Aquin unterstellt werden kann, da bei ihm vor der Schöpfung außer Gott nichts gewesen sei. Denn auch er stand zu der klassischen Formel, dass aus nichts nichts entstehen kann.) Wir sehen die Bestätigung dieses Ex nihilo nihil fit auch bei Kant: "Nichts ist ohne bestimmten Grund." (Karl Jaspers, "Die Gründer des Philosophierens", München 1957, S. 186) Im Übrigen finden wir diese Erkenntnis bereits bei Parmenides: "[...] es könne aus Nichtseiendem irgendetwas anderes als eben Nichtseiendes hervorgehen." ("Die Fragmente der Vorsokratiker", Hermann Diels, Berlin, 1922, S. 148 f.) Das kommentiert hingegen Martin Heidegger aus existenzphilosophischer Sicht: "Dass jedoch das Nichts nicht etwas Seiendes ist, schließt keinesfalls aus, dass es auf seine Weise zum Sein gehört." ("Einführung in die Metaphysik", Heidelberg 1987, S. 85)

Ein Nichts (auch wenn es allgemein begrifflich notwendig auf eine fehlende Vorhandenheit weist, und zwar entweder in der Bedeutung des Fehlens von z. B. Eigenschaften oder als völlig fehlendes Sein) nichtet sich im religiös Ursächlichen. Denn alles, was ist, ist aus dem Urgrund allen Seins.

Daraus ist aus dem Blickwinkel christlichen Schöpfungsverständnisses zu schließen: Da nichts aus einem Nichts sein kann, dieses Nichts sich nach philosophischer Vorstellung also nichtet, ist auch ein Vergehen in ein Nichts ausgeschlossen. Denn alles Sein ist christlich schöpfungsgläubig nur als Geschaffenheit aus dem ewigen Urgrund allen Seins, der Göttlichkeit, zu verstehen.

Aus neueren Forschungen aus dem Bio-Physikalischen könne rein naturwissenschaftlich abgeleitet werden, dass die Unsterblichkeit der als Bewusstseinsfaktor begriffenen Seele eine fortdauernde Existenz gegeben sei. Es wird dabei von der Überlegung aus der Quantenmechanik ausgegangen, welche die zeitliche und räumliche Eigenheit der Quanten, ihre Ortsunschärfe, in Betrachtung zieht und von Vervielfältigung und Übertragung ausgeht.

[Eine Theorie zur "Erforschung des Bewusstseins und damit der Seele heißt 'Orch-OR' (ORCHestrated Objective Reduction) und wurde in den 1990er Jahren von den Physikern Roger Penrose und Stuart Hameroff entwickelt. Ihr liegt die Vorstellung zugrunde, dass das Bewusstsein innerhalb der Neuronen und nicht durch Interaktionen zwischen ihnen (was allerdings die Mehrheitsmeinung darstellt) entsteht. Nach der 'Orch-OR'-Theorie ist das Bewusstsein eine Welle, die im Universum der subatomaren Teilchen schwingt. Die Mikrotubuli fungieren als echte Quantencomputer, die diese Schwingungen in verwertbare Informationen umwandeln. Laut dieser Theorie verlieren die Mikrotubuli in einem Zustand vor dem Tod ihren Quantenzustand, behalten aber die in ihnen enthaltenen Informationen bei. Laut Hameroff hört beim Tod "das Herz auf zu schlagen, das Blut fließt nicht mehr, die Mikrotubuli verlieren ihren Quantenzustand. Die Quanteninformationen in den Mikrotubuli würden hingegen nicht zerstört, sie könnten nicht zerstört werden, sie verteilten sich einfach und lösten sich in das Universum auf." ('Orch-OR'-Theorie©Bereitgestellt von Showbizz Daily International – Internetveröffentlichung 2024)] Eine Ergänzung dazu könnte lauten: Die Seinsinhalte finden sich in der Sphäre des Urgrundes allen Seins wieder.

Alles Sein hat seine Ursache außerhalb seines eigenen Seins. Alles Sein hat demnach ein anderes Sein als Anlass seiner Existenz.

Folglich ist auch der Kosmos aus einem Sein außerhalb von sich entstanden.

An diesem Punkt entsteht die Möglichkeit, hoffend fortzufahren und damit gedanklich in Erwartung zu gelangen (dass alles aus dem Ursprung allen Seins wandelbar, aber als Abbild von diesem nicht endlich ist). Dieser Hoffnung mit vielleicht bereits Überzeugungscharakter kann auch als Begleitgefühl Glauben erwachsen: Das die kosmisch ursprüngliche Singularität verursachende Sein, dabei als Gott­sein begriffen, habe seine Ursache in einer unendlichen Folge der Eigenbegründung. Dem Göttlichen ist demnach die Selbsthervorbringung wesentlich – und zwar entgegen der erwähnten Folgerung der Hervorbringungen des Universums aus jeweils einer Ursache außerhalb vom eigenen Sein. Das Göttliche ist folglich als Urgrund allen Seins zu begreifen. Und zwar in der Weise des den Gegenstandsbereich des in der Erfahrung Gegebenen, des in der diesseitsbezogenen Dingwelt Vorhandenen vorangestellt, nämlich als Schöpfungskraft. Dadurch gelänge auch dem kritischen, rational fundierten Verstand der gedankliche Aufbruch in den Bereich des Übersteigenden, nämlich Jenseitigen, und in Glaubenswelten.

Im Christlichen lastet allerdings bei der Darstellung des Göttlichen auf den Glaubenden die schwer zu erschließende Vorstellung der Dreifaltigkeit. Die drei Personen werden zwar genannt "[...] tauft auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ (Matthäus 28,19) Als Trinität erscheinen sie jedoch an keiner Stelle des Evangeliums. (Karl-Heinz Ohlig, Theologe, "Ein Gott in drei Personen", Homburg 2013, hier Web-Veröffentlichung, S. 125)

Bei der Dreifaltigkeit / Dreieinigkeit ist von der verkünderischen Vorgabe des Jesus von Nazareth auszugehen (der darin allerdings von seiner gewiss jüdischen Prägung, die eine bestimmende, vermenschlichende  Personifizierung grundsätzlich mei­det, abwich). In der

Sprache der Verkündigung gilt (im Übrigen in allen Jenseitslehren) seit je der Zugang zur Bewusstmachung der Göttlichkeit anscheinend zwingend die Vermenschlichung ihres transzendenten Seins (im Christlichen) mit den Begriffen von Vater und Sohn – die dritte Seinsform als göttliche Person oder göttliche Kraft.

Im Alten Testament erscheint Geist Gottes, z. B. in Genesis 1,2: "Gottes Geist schwebte über dem Wasser" und Psalm 104,30: "Du sendest aus deinem Atem [...]".

Die trinitätstheologischen Auseinandersetzungen beginnen im Christentum erst in Folge zunächst des Konzils von Nicäa (325 n. Chr., auf dem die Wesenheit Jesus' mit Gott gegen die

Auffassung der Arianer geklärt wurde). Erst das Konzil von Konstantinopel brachte 381 für die "Pneumatologie", dass der Heilige Geist mit Gott-Vater und Gott-Sohn eine der nun drei Personen oder Hypostasen (Seinsweisen) Gottes als dritte Person zu betrachten ist. Der Heilige Geist erscheint im Neuen Testament an verschiedenen Stellen ausdrücklich, z. B. "Maria empfängt Jesus durch den Heiligen Geist"(Matthäus 1,18–20); "Der Heilige Geist kommt bei der Taufe auf Jesus herab" (Matthäus 3,13–17). Die Eigenständigkeit des Heiligen Geistes, die Vorstellung als dritte Person der Göttlichkeit und die Verehrung neben Vater und Sohn bildete

sich also erst heraus. "[...] Augustin legte in seinem Werk De Trinitate die Grundlage für das abendländische Verständnis des Geistes als personalisierte Gemeinschaft von Vater und Sohn (communio), der als Liebesgabe (vinculum amoris) beide verbinde und daher sowohl vom Vater als auch vom Sohn ausgehe [...]" (Mathias Haudel, Theologe, Gotteslehre, 2011)

Die Westkirche betrachtet das Entstammen des Geistes aus dem Vater und dem Sohn, während die Ostkirche lehrt, der Geist gehe aus dem Vater durch den Sohn hervor. (nach Julia Gerth, Theologin, Pneumatologie, 2015) Klarer zu erkennen als von der personenbetonten Auffassung der Göttlichkeit(en) her ist es von der Perspektive der Hypostasen, der Seinsweisen, aus: Die Göttlichkeit  erscheint als erschaffend, begeistend, erlösend.

 

C. Zum Menschsein und der Göttlichkeit

Betrachtet man beispielsweise die Erzählung des Neuen Testaments vom Versuchtwerden des Gottessohnes (z. B. bei Markus und Lukas), und zwar ohne die dort aufgeführte Teufelsgestalt in Betracht zu nehmen. Er (wahrer Gott und wahrer Mensch) begab sich durch die Annahme des wahren Menschseins auch in die menschliche Versuchung zum Bösen in sich und das stete Ringen um die richtige Entscheidung. Ist es nicht aus der im Evangelium dargestellten Begebenheit möglich, das Ringen des Menschen Jesus mit seiner mit Ihm vereinigten allmächtigen Göttlichkeit herauszulesen? So ergäbe sich dieses Bild: In den an anderen Stellen des Neuen Testaments aufgeführten Wunder Jesus' begab Er sich in seine schöpferische Göttlichkeit als Mittel des Beweises seiner damit zur Offenbarung erhobenen Botschaft. Hingegen widerstand Er der Versuchung der Gottesstaatlichkeit: "Alle Reiche der Welt / alle Macht und Herrlichkeit". Da hierdurch Sein Schöpfungsgrundsatz aufgehoben gewesen wäre. Denn dieser besteht neben der Entwicklungs- und Entscheidungsfreiheit auch in der Herausforderung des mit weitentwickeltem Bewusstsein begnadeten Menschen zur eingesetzten Bewährungsforderung. Einen in seine Schöpfung direkt eingreifenden und ausgleichend zugetanen göttlichen Weltenherrscher wäre durch sich selber die grundlegende Zielsetzung aus der Hand genommen und in ein dauerhaft paradiesisches Weltengeschehen gesetzt (das solchergestalt im Übrigen auch sinnlos wäre, weil es – wie erwähnt – der offensichtlichen Intention der Schöpfung widerspräche, die in der Bewährung des Seins in seiner Geworfenheit zu erblicken ist).

[Das Bedürfnis der Personifizierung des Transzendenten, nämlich des die reale Erfassbarkeit Übersteigenden, begründete sich im menschlichen Bewusstsein im Fortschreiten seiner kognitiven Ausweitung während der Evolution durch das von ihm zunächst entwickelte ideelle Sein als Ursache seiner Wahrnehmungen. Mit der also nur gedanklich zu schaffender Auffassung vom Grund der Dinge und Ereignisse des eigenen Umfeldes drängte sich ihm als Lösung all des seine Einsichtmöglichkeit Überschießenden auf. Reale Gestalt verleihend, wurde es natürlichen Gegebenheiten und Beobachtungen, magisch wirkungsverheißend ausgestattet, zugeschrieben und mythisch erzählerisch ausgeweitet. Schließlich gelangte es zur verbindlichen Glaubensvorstellung, zudem rituell umfasst, über das Private hinausreichende Markierung gesellschaftlichen Handelns. Im Fortgang geistiger Entwicklung zu philosophischer Qualität schritt die Seinsvorstellung zur Auffassung von einem Glauben an eine Urgrundlichkeit allen Seins, und zwar auch in Sich auf die Ur-Bildlichkeit in Platons Ideenlehre – neuplatonisch gedacht, von der Ausstrahlung des obersten Weltprinzips. Diese Glaubensbegründung wurde weiterhin begleitet, getragen, mitunter sogar überlagert von Elementen magischer – nämlich ereignisgläubiger – und mystischer – nämlich erzählender phantastischer Gebilde.

Diese Zuflucht im schließlich irdisch Erfassbaren ist auch im Altjüdischen aufgeführt. Der "Engel des Herren" spreche "aus flammendem Busch" (2. Mose 3). Dieses Abweichen von der rein vergeistigten Eingöttlichkeit fand in der Anbetung des goldenen Kalbes seinen alttestamentarischen Höhepunkt. Mehrgöttlichkeit und Glaube an Göttlichkeit, z. B. von Tieren, hat sich vermutlich auch noch nach Hiskijas/Ezechias Reform im siebten Jahrhundert v.Chr. erhalten, welche eigentlich zur alleinigen Verehrung JHWHs (2. Buch der Könige 29,1) führen sollte.

Die Vorstellung realpersönlicher Göttlichkeit lässt sich ebenfalls am Fortschreiten der menschlichen Reifung, der Entwicklung vom Kindes- zum Erwachsenenalter, im Grunde an der Evolution schlechthin aufzeigen. Als Vorstufe des rationalen Denkens tritt bei Kindern magisches Denken etwa in Form des Glaubens an Wirkungen von Zauberei, Beschwörungen oder Wunschdenken auf. (Sabine Schrader, Psychologie, München 2008) Die Phantasie als wahrnehmungsfreie Vorstellung (Aristoteles) und deren Einschätzung als Wirklichkeit spielt dabei eine ausschlaggebende Rolle. Magisches Denken besetzt ein weites Feld in der menschlichen Ideenwelt. Annahmen bei magischem Denken zeigen sich mitunter darin: "[...] es gebe übernatürliche Fernwirkung; Gegenstände könnten Eigenschaften ihrer Besitzer übertragen; Dinge, die eine Eigenschaft gemeinsam haben, seien auch in anderem ähnlich; man könne die Außenwelt durch Worte, Formeln, Sprüche oder bloße Gedanken beeinflussen; die Zukunft sei vorhersehbar, bestimmte Dinge oder Vorgänge hätten eine Vorbedeutung, auch ohne Verbindung mit künftigen Ereignissen; Symbole, zum Beispiel Amulette, hätten eine Wirkung; bestimmte Menschen hätten übernatürliche Kräfte oder könnten Wesen mit solchen Kräften in ihren Dienst bringen; Geister, Götter oder Geheimgesellschaften könnten voneinander getrennte Ereignisse oder Phänomene verbinden." (Thomas Günter, Frankfurt, 2010) Siegmund Freud formulierte die im Grunde alte Erkenntnis, dass unser Handeln auch aus dem Unterbewusstsein motiviert ist, und zwar in nicht ausschließlich kontrollierbarer Weise. Über die Kindheit hinaus wirken also immer auch Elemente frühen magisch-mystischen Denkens selbst bei rational orientierten Menschen nach, selbstverständlich graduell sehr unterschiedlich. Für unsere Zeit könnte gelten: "Heute nun ließe sich ein Übergang zum 'mystischen Denken' ('post-rationales Denken') erkennen." (Ken Wilber, 2016) Der Anthropologe Edward Burnett Tailor prägte den Begriff „assoziatives Denken“ als eine Form des vorrationalen, magischen Denkens [...] (E. E. Evans-Pritchard, 1977)]

Der bewusste, kritische Umgang mit den magisch-mystischen Inhalten des Glaubenslebens könnte allerdings durchaus zur Glaubensbelebung führen, wie das beim Wissen um die Dinge des Daseins für gewöhnlich der Fall ist. Bedenklich erscheint hingegen, dass die Zahl Glauben praktizierender Katholiken in den quasi aufgeklärten Ländern der Welt stark rückgängig ist, während beispielsweise in Afrika, mit seinen dem sozusagen geistig Archaischen näherstehenden Menschen, die Zuwendungszahlen steigen.       

D. Bemerkungen zur Beseeltheit

Die Ausweitung der Anfangssingularität (des Lemaitre‘schen Uratoms) führte bekanntlich zu Bildung von Elementen mit innerer Ladung, Bewegtheit, Bindungsverhalten usw. Vor etwa fast fünf Milliarden Jahren entstand die Erde, auf der sich die Entwicklung vom Unbelebten auch zum Belebten bewegte, das in einer seiner Ausformungen in Richtung Menschsein fortschritt. Aus der Gruppe der Primaten führte die Wandlung zum Homo erectus mit all seinen Abzweigungen, und es folgte der Homo sapiens. Letzterem erwuchs zunehmend Bewusstsein (allerdings als "Baum der Erkenntnis" biblisch gewissermaßen verteufelt – was vielleicht, mit dem Blick auf die persönliche Entwicklung vom kindlichen Unbefangensein zur erwachsenen kritischen Grundhaltung und damit als Paradiesverlust bildlich ausgemalt betrachtet werden könnte). Der sich entwickelnde Verstand und die darauf aufbauend wertende Vernunft ermöglichte "der Krone der Schöpfung", des Menschen als entscheidungsfähiges Wesen, sich planerisch und vorausschauend einzustellen und vor allem in seiner Eigenschaft der Gruppengebundenheit Verantwortungshaltung zu entfalten und Regeln zu formulieren. Diese Zieleigenschaften der Entfaltung des Homo sapiens sind als die fortschreitende Begabung, die kognitive Ausweitung, und als die in der Schöpfungsgeschichte aufgezeigte Beseelung zu begreifen. Seele ist als geistiger, nämlich göttlicher Kern der körperlich bedingten Seelenhülle, der Psyche, zu erkennen.

So sei am Ende des göttlichen Schöpfungsvorgangs laut Genesis der Mensch geschaffen worden: nach der bildlich dargestellten Formung des Körpers, schließlich die "Behauchung", Begeistung, Beseelung – unter evolutionärer Anschauung.

Wird dieser Vorgang der Artenentstehung mit heutigen Erkenntnissen betrachtet, bereichert sich das Bild, das ursprünglich mit den Erkenntnismöglichkeiten der Zeit (etwa des siebten vorchristlichen Jahrhunderts) der Niederschriften des Schöpfungsvorgangs entstanden war.

E. Einlassung zur Verantwortungshaltung

Mit Entwicklung des Bewusstseins und seinem Träger dem Ich des Homo sapiens ist dieser in die Lage und Verpflichtung der verantwortlichen Steuerung geraten. Denn er ist zum Interessenausgleich von Mein und Dein befähigt, verfügt über Zielgerichtetheit, Planungs- und Vorstellungsvermögen und hat das Sterblichkeitsbewusstsein, aus dem ihm eine Jenseitsahnung erwächst.

Eine Rolle spielt in seiner Geworfenheit zunächst der Umgang mit den Gefühlslagen, etwa dem Glück, der Lust. Ferner ist ihm die Bildung einer Haltung zu Gütern, Werten und Leistung ein Bedürfnis. Dem kann er (allerdings nur) nach Maßgabe seiner ihm gegebenen Befähigungen gerecht werden. Über die Selbstregulierung hinaus entwickelt sich ihm im Wir-Bewusstsein die Bindung an Richtmaße des Über-sich-Hinausseins. Wobei zu erkennen ist, dass eine Gruppe mit Wir-Bewusstsein nicht nur die Summe ihrer Glieder verkörpert, sondern mit ihrer Formung eigene Merkmale entwickelt. Das führt in ihr mitunter zu Ich-fremdem Verhalten des Einzelnen. Hierin erscheint die Eigenheit des Rollenverhaltens: Die Verfasstheit des Sich-Gebens unterscheidet sich bei jedem entsprechend der jeweiligen Gruppenauftritte und hängt allerdings in Form und Ausmaß vom Selbstbewusstsein des Einzelnen ab.

Allgemein kann gelten: Die geltenden Regeln der Haltung und Entscheidung bilden sich in den Verhaltensmustern einer gesellschaftlichen Ordnung (nach Aristoteles).

So entsteht Verhaltens-Norm durch gesellschaftliche Mehrheiten und wird als statistische Norm sichtbar; gruppenbedingte Leitfäden erscheinen als ideale Norm; letztlich wird in der persönlichen Auswahl daraus die situative Norm (Peter Robert Hofstätter, Sozialpsychologe, "Psychologie", Frankfurt 1957, S. 219 f.) Bei Letzterer als persönlich gehandhabter, alltäglich moralischer Verhaltensweise wird gewöhnlich unterschieden die Muss-Erwartung (etwas ist nur in bestimmter Weise zu handhaben) von der Kann-Erwartung (etwas kann so oder anders erfolgen) – dazwischen liegt die Soll-Erwartung.

Bei der sich nach Mehrheiten richtenden Norm ist zu unterscheiden die sich in einem über die Zeiten im sog. Kulturkreis entstandene und durch Überlieferung weitergetragene Form (beispielsweise unser bürgerlich aufgeklärtes Verhalten) von den durch gegenwärtige Umstände sich bildenden und verbreitenden Denk- und Verhaltensweisen. Sind Brauch und Sitte verhältnismäßig stabil, ändert sich der zeitgebildete Gesinnungshorizont mit dem Wandel der Gegebenheiten.

Die ideale Norm, dargestellt in Regelwerken wie Gesetzen und Verordnungen, entsteht mittels Abstimmung in als zuständig anerkannten Gruppierungen. Eine Besonderheit stellen die Gebote des Religiösen dar, sie erscheinen als Glauben-gesteuerte Offenbarungen, die als solche ebenfalls von als zuständig geltenden Einrichtungen erklärt werden. Sind Erstere wandelbar in Veränderung von den sie bildenden Mehrheiten, welche die Zuständigkeit besagter Gruppierungen bestimmen, handelt es sich bei religiösen Geboten um weitgehend unveränderliche Muss-Erwartungen. Ihre Beeinflussung geschieht nur im Wege des Wandels ihrer Auslegung.

Bei Betrachtung der situativen Norm ist zunächst festzustellen, dass es sich dabei überwiegend um die Verhaltensregelung im Grunde jedes Einzelnen im Alltag handelt. Stets ist abzuwägen, wie weit man sich nach sich Wandelndem seiner gesellschaftlichen Sphäre oder nach eher stabilen Leitfäden gesetzlicher oder gar gebotlicher Vorgaben richtet.

Bei der Verhaltensregelung des idealen Normbereichs spielt ein in gänzlicher Entsagung mündendes Bestreben bezüglich natürlicher Antriebe eine als zweifelhaft einzuschätzende Rolle. Sie stellt eine Überzeichnung an sich notwendiger Regelungen dar. Ihre Begründung reicht jedoch von Belanglosigkeiten (wie die äußere Erscheinung) über Willensstärkung bis ins religiös Jenseitige (erlangen der Seligkeit). In verschiedenen Religionen steht diesbezüglich die Sexualität im Vordergrund. Im Katholischen gilt als schwere Verfehlung, wenn beim sexuellen Vollzug die Zeugungsabsicht ausgeschlossen ist. Diese überwiegend auf Reproduktion, also auf Vermehrung bezogene, zwar sich auf das gottgegebene Naturrecht berufende Idealnorm vernachlässigt jedoch die Erkenntnis der seelisch viel weiter reichenden Bedeutungen der Sexualität.

So kann allein der ausgewogene, verantwortliche Umgang mit den natürlichen Antrieben, den Grundbedürfnissen, nämlich vom Bewegungs-, über den Nahrungs- bis hin zum Geschlechtsdrang und schließlich den dem Selbsterhaltungsdrang entspringenden Bedürfnissen nach Anerkennung und Geltung als seelisch und körperlich angemessen gelten. Dabei ist allerdings die grundsätzlich gegebene Freiheit der Entscheidung nicht als uneingeschränkt verfügbares Gut zu betrachten.

Der Autor und Bildhauer Dietrich Kothe (*1938) Studiendirektor a.D. ist durch verschiedene literarische und bildhauerische Werke, auch unter seinem Pseudonym Hannes Kothe-Opperau, bekannt. In seinem literarischen Schaffen (in Epik und Lyrik) steht der Mensch, häufig aus existenzphilosophischer Sicht, im Mittelpunkt. Sein bildhauerisches Material ist zumeist Holz. Weiterführendes in: Confessio20 - Notizen zur Glaubenssuche in unserer Zeit, Aachen 2021. In einem zweiten Teil wird sich der Autor mit dem christlichen Gebet und Gottesdienst beschäftigen.

 

 

 

 

 

 

 

Zur 2. Ausgabe von Ad Fontes – International April 2024

Versuch einer Einbringung der alten Glaubensbilder in unsere Zeit

                                                 (2.Teil)

Von Dietrich Kothe

F. Dem christlichen Kerngebet begegnen mit den Erkenntnismöglichkeiten unserer Zeit

Wie erwähnt, zählt zu den menschlichen Fähigkeiten, sich selbst sogar etwa in autosuggestiver Qualität zu beeinflussen – beispielsweise mittels vertieften Betens. Diese könnten zur Erweckung der Selbstheilungskräfte und Bewältigung des Leids beitragen, zumindest jedoch als seelischer Kräftigungsakt wirken. So ist eine mitunter als Wun­der bewertete Spontanheilung durchaus auch als Gottesgabe zu betrachten. Sie sollte als eine Schöpfungsgabe einer natürlichen Veranlagung angesehen werden.

F. a) Die Bethandlung als solche und ihre möglichen Positionen

Sie kann Bedeutung-erforschend also interpretierend gedacht werden: Dabei ist das Gebet als ein im Maße der Konzentration auf gänzliche Bewusstheit psychisch aufbauender, stärkender Akt zu betrachten. Es gilt in diesem, die Bedeutung der Formeln zu erfassen, zu vertiefen und gegebenenfalls in ihrer Auslegung zu weiten. Dazu nachfolgend das Beispiel zum Vaterunser.

Zum anderen kann die Gebetsübung als reiner Wortvollzug praktiziert werden. Diese sozusagen Vokabulisierung erfolgt unter Abschaltung von Denkfunktionen und einem quasi Hineinfallenlassen in die rein verbale Verrichtung der Gebetformeln, beispielsweise im Rosenkranzgebet. In Steigerung kann das sogar erfolgen in einem Betgesang – mitunter in anderer Sprache, zum Beispiel Latein. Die sich einstellende regulierende, reduzierende Körperlichkeit (z. B. des Herzschlags) ist Erfahrungstatsache und wissenschaftlich belegt (Padua 2010).

(Wenn jedoch Sprache als Bildungsorgan des Denkens zu verstehen ist (wie es W. v. Humboldt sieht), wäre auch dem Sprachniveau, der Sprachverwendungsebene, und der Wahl des Ausdrucks Augenmerk zu widmen – vor allem bei der Umsetzung der interpretierenden Gebetsform.

Es ist hierbei hingegen nicht auszuschließen, dass die herkömmliche, auch in der Übersetzung aus dem Lateinischen noch von tridentinischem Charakter gekennzeichnete Ausdrucksweise die Entrücktheit von der banalen Alltäglichkeit fördern. Und dies besonders bei älteren Menschen, die in dieser Sprachritualität aufgewachsen sind, denen diese – jungen Zeitgenossen allerdings archaisch fremde Sprechweise – eingeprägt und zur Gewohnheit innewohnend ist.)

In der Glaubenspraxis kommt bei den meisten Betern eine Mischform beider Möglichkeiten zur Anwendung, und zwar gepaart mit Abschweifungen aller Art.

Formell ist im Allgemeinen von Bedeutung der rituell gefasste und strukturierte Vorgang des Betens als Alltagsgläubigkeit in gemeinschaftlicher Identifikation mit sich gleichschaltend Handelnden.

Grundsätzlich jedoch ist Beten als eine Aufbruchhandlung zur Erlangung des schöpferisch gegebenen Potenzials zu begreifen. Beten ist als Aktivierung der dem Menschen in der Evolution zugewachsenen Bewusstseins-Fähigkeiten zu erfassen und anzuerkennen, und zwar bis hin zu Funktionen der Heilung und halluzinativer Einstellung – im Ausnahmefall auch außergewöhnliche Zustände erzeugend, nahe dem parapsychologischen Ereignisbereich.

F. b) Zur biblischen Aussage bezüglich des Betens

Jesus habe seinen Jüngern den Auftrag erteilt, das von Ihm vorgestellte, sozusagen Kern-Gebet zu sprechen. Jesus hat jedoch seine Lehre weder selber niedergeschrieben noch die Weisung erteilt, sie in Buchstaben zu fassen und auf diese Weise festzuschreiben. Es ist daraus zu folgern, dass es unbedingte Glaubensübung ist, sich um die Bedeutung des überlieferten Gesagten zu bemühen. Denn die Sprache unterliegt seit je einem Wandel und ist immer auch Erzeugnis aus dem Zeitgeist – und Übersetzungen sind immer auch kreative Handlungen. So fallen (fest-)geschriebene Worte allmählich aus der Zeit. Fügt man dem an, dass die Niederschrift der Überlieferung der Jesusworte bekanntlich etwa ein Menschenleben nach dessen Hinscheiden vom Aramäischen über das Griechische ins Lateinische und schließlich in die Landessprachen erfolgte, so ist von erheblichem Sprachwandel auszugehen, der die Inhalte zumindest zum Teil in fernes Licht rückte.

Zum Vaterunser:

Vater unser, Urgrund allen Seins.

Wir beten Dich an durch Jesus Christus im Heiligen Geiste.

Geheiligt ist Dein Sein.

Dein Reich werde in uns.

Dein Wille geschehe an uns.

Unser tägliches Brot gib Seele, Geist und Leib.

Vergib uns unsere Fehler.

Verleihe uns die Kraft, denen zu vergeben, die an uns schuldig geworden sind.

Führe uns aus der Versuchung.

Und löse uns aus unseren Befangenheiten, die Ursache unserer Fehler sind.

(Auch: Erleichtere uns von uns für den weiten Weg zu Dir.)

Begründung zu dieser Auslegung des Vaterunsers:

Die Bezeichnung mit der irdisch geprägten, geschlechtsgebundenen Benennung 'Vater' dient als Darstellung der Nähe und Verbundenheit der Allursächlichkeit der Göttlichkeit – kann jedoch logisch ergänzt werden.

Die Anbetung 'durch' (mit Hilfe / als Vermittler) Jesus Christus 'im' (in seinem) Heiligen Geiste ist der Versuch, die unfassbare Trinität zu benennen, die 'wir' anbeten. Der Name ist (vollendet, 'wird' nicht erst in Zukunft) geheiligt.

"Dein Reich komme, Dein Wille geschehe" wird: Dein Reich werde in uns, Dein Wille geschehe an uns. Die im währenden (da stets im Gange befindlichen) Schöpfungsakt gegebene Entstehung des Gottesreiches in uns bewirken – sich erbeten. Ist sie nicht in uns begründet, kann sie auch nicht in die Welt gelangen – die göttliche Willensverwirklichung an uns vollzogen sehen, macht sie auch umfeldlich wirksam, den Gedanken ans Gottesreich in uns vollendend. Bei diesen beiden Versen des Gebets kann davon ausgegangen werden, dass sich uns in der willentlich schaffenden und gestaltenden Urkraft allen Seins, der als Göttlichkeit erscheinenden Gestaltlichkeit, Selbstsein darstellt. Dieses Grundsein allen Seins legt in sein schaffendes Begehren, das in der Anfangssingularität gegeben war und weiter ist, sei­ne Wesenheit, zu der alle Entwicklung zu führen begabt ist – und sich im Vers "Dein Reich werde ..." sprachlich wiederfindet. Es stößt also Entwicklung in diese Richtung an (die durch ein verstärktes Sich-nach-innen-Kehren zu steigern ist).

Das Gebet als das Bemühen betrachten, aus der unendlichen Fülle der schöpferischen Gaben, den erforderlichen Abruf zu tätigen, um sie zur Wirkung zu führen. Und da­mit den Wirkbereich des Schöpfers auf Seine Gegebenheiten des Einflusses auf das Sein zu tätigen: Das stellte das Bitten um Gotteshilfe dar. Und zwar im bemühenden Gestalten, an der veranlagten Fülle des Ursprungs allen Seinkönnens teilzuhaben, sozusagen in Selbstgestaltung – oder einfach im Abruf dessen. In dieser Eigengestaltung könnte die Einsicht liegen, eine Art der schöpferischen Ebenbildlichkeit gespendet bekommen zu haben. Es kann unterstellt werden, dass eine solche Haltung sta­bilisierende, stärkende seelische Nebenwirkungen zeitigt.          

Du vergibst uns, so wie wir ...

Die Bitte um Vergebung ist begleitet von einer zweiten Bitte, nämlich der um die Gnade, die Kraft, all denen zu vergeben, die an uns schuldig geworden sind. Denn in der Regel sind wir, meist emotional gebunden, viel zu schwach zum Verzeihen.

Die Bitte darum, nicht in Versuchung zu fallen oder zu geraten – oder auch aus der Versuchung herausgeführt zu werden. Die Darstellung: "Führe uns nicht in Versuchung" ist nach heutigem Sprachverständnis eher abwegig. Sie lässt Gott als Versucher erscheinen. Das ist durch den Sprachwandel begründet, denn in alter Zeit stand "Versuchung" für Prüfung. Statthaft wäre auch: "Führe uns in der Versuchung", besser "aus ihr heraus".

(Sondern) erlöse uns aus unseren Befangenheiten, die Ursache unserer Fehler sind (die Bezeichnung 'Sünden' scheint vielen Zeitgenossen ein abgenutzter, eher überstrapazierter Begriff zu sein). Ein diesem und jenem Verfallen-zu-Sein hindert uns an wirklicher Umkehr.

Schließlich die Versicherung an die Göttlichkeit als die Energie des Ursprungs allen Seins zu glauben (die archaische, aus dynastischer Zeit stammende Formel von Macht, Kraft und Herrlichkeit sollte als überholt gelten).

G. Gebetsformel: Deine heilige Hand über alles Sein

Da alles aus dem unendlichen Urgrund allen Seins, der Göttlichkeit, hervorgegangen ist, kann es ebenfalls als unendlich begriffen werden. Denn es ist davon auszugehen, dass alles bestehende und sich im Wandel noch bildende / verändernde Sein – wie bereits erwähnt – in der Anfangssingularität in unendlicher Vielfalt der Möglichkeiten vorgehalten ist. Ferner erscheint es als sicher, dass sich daraus der Schöpfungsvorgang Kosmos-lang in seiner ihm verliehenen Regelungskraft, beispielsweise der Naturgesetze, fortentwickelt zu in ihrer Beständigkeit unterschiedlichen Formen.

Das Beten kann verstanden werden als eine Abrufhandlung aus dem möglichen Vorrat – was beispielsweise durch Tätigkeiten der gesteigerten Gerichtetheit, wie Meditation, sogar zu steigern ist. So gesehen und schließlich gehandhabt, wirkt die Bethandlung als Beteiligung zumindest im Kleinen, Persönlichen, aber immerhin am Wandlungsgeschehen der Schöpfung.

Aus all dem Erörterten ist es angesagt, die als Segenshand des Urgrundes allen Seins, der Göttlichkeit, betrachtete über alles aus dem Schöpfungsgeschehen Hervorgegangene in die schlichte Gebetsformel einfließen zu lassen: "Deine heilige Hand über alles Sein". Und dieses Erbeten gerade aus der Ahnung heraus, dass alles Geschaffene zu seinem Ursprung zurückkehren werde. Womit die Verbundenheit über alles Versagen hinweg, mit dem menschlichen Begriff Liebe bezeichnet, der Göttlichkeit mit Ihrer Hervorbringung nur irdisch verstandlich umrissen sein kann (was allerdings gegen die Annahme ewiger Verdammnis spräche). Das in der Begrifflichkeit Gläubiger seit je und in allen Glaubensgebilden gegebene Bedürfnis, das Jenseits zu gliedern, muss damit allerdings nicht als angezweifelt gelten. Der menschliche Verstand in seiner vergleichenden und gegenüberstellenden Denkweise scheint Himmel und Hölle als Bestandteil von Glauben zu benötigen.

H. Kulthandlungen besonderer Form

Riten sind gestaltete Wesensäußerungen, die im menschlichen Beisammensein als bedeutende Elemente zu begreifen sind. Sie wirken zumindest als Mittel der Kommunikation.

Im Allgemeinen und auch auf religiösen Glauben bezogen, könnte etwa in Betracht gezogen werden: Dass Handlungsweisen sich aus einer Vorstellung und/oder Notwendigkeit ergeben. Sie kommen in Gebrauch, erhalten durch Wiederholung den Charakter von Gewohnheiten, "gehen einen in Fleisch und Blut über". Womit das jeweilige Begründen ihrer Handhabung schwindet, solange die Anwendung wirkt – oder sie gar mittels Legitimation, im Religiösen durch Kanonisierung ihrer Auslegung enthoben ist. (Selbst bei Seinem letzten Abendmahl geht Christus vom jüdischen Ritus etwa des Pessachs aus, indem er es als künftigen Kern der Eucharistie als sakrosankt erhebt und damit den Befreiungscharakter der jüdischen Pessach-Tradition übernimmt und ihm quasi als Erlösung aus der Gefangenschaft der Untugend in seinem, nämlich christlichen Sinne Vervollkommnung verleiht).

Aus Gebrauch spezifischer Abfolgen, durch Handlungsweisen, Verhalten und Einstellungen, entsteht Brauchtum. Aus gefestigten, als bewährt angesehenen und verbreiteten Verhaltensweisen entwickelt sich Sitte, nämlich als formbestimmendes Verhalten. Schließlich entsteht die Vorstellung von Moral als Gesinnungs-betonte Grundeinstellung.

All diese etablierten Handlungsweisen führen, zwar graduell unterschiedlich, zu Normierungen, also zur Regelbildung. Verbindliche Geltung erlangen diese Gebilde mittels Legitimation durch offizielle, als kompetent anerkannte Institutionen.

Folgerungen daraus sind möglich: Es sind dauerhafte oder Übergangsriten (Wandel im Laufe eines Lebens) zu unterscheiden. Riten erzeugen Solidaritätssinn, bewahren diesen und wirken als dessen Bekundung, eben Identifikation. So stiften sie zumindest nach außen hin Sinn, fördern Gruppenbildung und bewirken dabei auch Rollenzuweisung. In außerordentlichen Vollzügen sind Riten sogar Mittel, in mythisch ekstatische Zustände zu führen.

Allerdings ist das Abgleiten in einen Ritualismus gegeben: Durch das Schwinden der kritischen Haltung im Umgang mit sich stets mehr oder minder festigenden Einstellungen und Verhaltensweisen entsteht Stereotypisierung. Es bilden sich automatische, möglicherweise unkontrollierte Reaktions-Schemata. Diese erleichtern zwar vieles, da verhältnismäßig reflektionfrei, können sich jedoch auch situationsfern verfestigen, was zur Fehlleinstellung und -leistungen führt.

Sinne vereinnahmender Ritus durch bindenden, ja fesselnden Ästhetizismus befriedigt das Glaubensmühen oberflächlich, verdeckt es mit dem trügerischen Schein der Begnügung, etwa seine Glaubenspflicht erfüllt zu haben.

Es besteht gleichfalls die Neigung, mit Riten die Mitteilungsdefizite zu überdecken, sie nämlich nicht als Rahmen, sondern als Substanz zu begreifen.

Im Idealfall werden Riten in der Qualität inspirierender Gesten praktiziert.

I. Vermerke zur Eucharistie aus katholischer Sicht

"Das ist mein Leib" – die Worte als "wahrer Gott und wahrer Mensch" beziehen sich auf Seine leibliche Existenz als Element Seiner Irdischheit, in der Er sich laut Schrift und Glaubenssatz dargebracht hatte. Aus dieser begab Er sich durch die Vollendung der Erlösungstat heraus in seine Allwesenheit des Göttlichen. Er lässt die Wirkung Seiner Erdenexistenz, besagter Erlösungstat, all Seinen an Ihn Glaubenden angedeihen. Er hat mit der Wirkung der zitierten Wandlungsworte die Überwindung der Spaltung von realem und idealem Sein zur Bildung des mythischen (sozusagen) realidealen Glaubens im Bewusstsein geschaffen.

Wer sich als Alltagschrist jedoch nicht zu starkem mythischen im Grunde Fühldenken bewegen kann, dem wird kaum rational nachvollziehbar sein, dass Er durch die Transsubstantiation, also als in deren substantieller Wandlung, in Brot und Wein als gegenwärtig zu betrachten sei. Denn die äußere Gestalt der Gaben – philosophisch nach Aristoteles: ihre Akzidenz – verbleiben in ihrer Beständigkeit und erscheinen weiter als Brot und Wein. (Der Lehrmeinung der Transsubstanz und der ständigen Gegenwart von Christus nach der Wandlung folgen auch die orthodoxe und die altkatholische Theologie.) Möglicherweise um den Glaubenden die Last des Zweifels, der immer wieder wegen der rational unlösbaren Problematik auftaucht, zu nehmen, ist es den Katholiken zu glauben geboten, und zwar mittels Dogmas seit Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts des Tridentinischen Konzils. (Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Freiburg 2010)

Auch "praktizierende" Katholiken werden zudem von einer Reihe von Einwänden bedrängt:

Denn gerade alle, die von der unermesslichen Erhabenheit des Schöpfers überzeugt sind, werden sich fragen, ob es nicht zumindest grenzwertig blasphemisch, also beinahe lästerlich ist, von einer beständigen realen Gottesanwesenheit, im "gewandelten" Brot und Wein auszugehen? Sehen sie beispielsweise die Verwahrung des geglaubt Göttlichen in einem Tabernakel.

Hinzu kommen im Katholischen weitere den Kern der Eucharistie begleitende Bedenken. Ausschließlich Männern wird Zugang zur Weihe gewährt. Diese dadurch dann erfolgte Salbung gipfelt immerhin darin, irdischen Gaben von Brot und Wein göttliche Wesenheit als mythische Substanzveränderung angedeihen lassen zu können. Und dies geschieht allein wegen des sozusagen eigenkräftigen Rituals des "ex opere operato", also aufgrund der vollzogenen sakramentalen Handlung. (Katechismus der Katholischen Kirche, München 2005) Etwas vollzogenes Sakramentales, lautet der Lehrsatz weiter, wirke unabhängig von der Einstellung dessen, der als Geweihter "in Persona Christi" handelt. Dies geschieht ferner frei von seiner sittlichen Qualifikation, also auch im Zustand der schwersten persönlichen Belastung durch Verfehlungen.

Im Lutherischen wird nicht von einer Wandlung der Gaben ausgegangen, sondern von Seiner mystischen Realpräsenz etwa bei den Gaben oder deren Umfassung. Dies ist dem Glauben anvertraut und nicht dogmatisiert. Es heißt hier, dass beim Abendmahl Brot und Wein natürlicherweise als ebendiese anwesend sind, während Christi Leib und Blut auf übernatürliche, himmlische Weise, aber nicht das Wesen der Gaben verändernd gegenwärtig sind. Es könnte von Kon- statt Transsubstantiation gesprochen werden – auch wenn dies lutherisch theologisch nicht ganz korrekt ist.

In anderen reformatorischen christlichen Religionen führte das aufklärerische Ringen um die Abendmahlthematik ebenfalls zu abweichenden Überzeugungen:

Huldrych Zwingli betrachtet das Abendmahl als symbolischen Vollzug – wohl mit Bezug auf den Nachsatz des Zitates: "[...] tut dies zu meinem Gedenken". Es gehe um die Vergegenwärtigung im gläubigen Gedenken der Passion Christi. (Walther Köhler: Zwingli und Luther, Leipzig 1953; Martin Werner: Der protestantische Weg des Glaubens, Bern 1962, S. 482 ff.) Johannes Calvin schwankt zwischen Luthers und Zwinglis Auffassung (Realpräsenz und Symbolismus) bei der Bewertung des Abendmahls und kommt schließlich dazu: Das Abendmahl sei eine wirkliche Gabe Gottes, nicht nur die Erinnerung daran. Der Heilige Geist bewirke, dass Jesus Christus in Brot und Wein als Person gegenwärtig sei.

Eine bleibende Gegenwart Jesus' in den Gaben nach dem Abendmahl / der Kommunion lehren die Reformreligionen, entgegen orthodoxer, katholischer und altkatholischer Theologie nicht.

Über allem Ringen um eine graduell gewisse Glaubenshaltung könnte stehen: Sicher ist lediglich Seine Existenz im Bewusstsein der Glaubenden als geistige Kommuni(kati)on bei jedem Gedanken an Ihn.

 

J. Einlassung zur Entwicklung der Bibelworte

Die Texte des Neuen Testaments sind entstanden fast ein Menschenleben nach dem Verklingen der Worte ihres Urhebers, nämlich aus der bereits gebildeten Überlieferung, der Erinnerung Seiner Gefolgschaft und der Formung der Übertragung in andere Sprachen. Die Niederschriften zu ihrer kanonisierten, also verbindlichen Form begann ab der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts, und zwar aus dem Aramäischen, auch Hebräischen und vor allem dem Griechischen – der damaligen Gelehrtensprache des Mittelmeerraumes. Trotz mutmaßlich unterschiedlicher Verfasser wurden die Evangelien benannt nach Matthäus, einem Jünger; Markus, einem Begleiter von Petrus; Lukas, einem Begleiter von Paulus; Johannes, einem Jünger. Es gilt zu vergegenwärtigen, dass Erinnerung und Übersetzung immer auch von Interpretation geleitet ist. ("Wörter des Originals haben in Übersetzungen oft unzulängliche Entsprechungen." Alfred Läpple, Theologe, "Die Schriftrollen von Qumran", Augsburg 1997, S. 61) Die eigentliche Aufgabe bei der Befassung mit den Texten besteht demnach darin, die Bedeutung zu suchen, um den Sinn der textgetragenen Gedanken zu ergründen. Es ist ein herausforderndes Ansinnen, sich beim Befassen mit den zum Wort Gottes erhobenen Darstellungen vom bloßen Buchstabenkonsum zu lösen. Denn das Wort Gottes lässt sich schließlich nur zum Behelf in menschliche Sprache fassen, sollte ehrfurchtsvoll erkannt werden.

Grundsätzlich wäre dazu auch förderlich, das Aussagevolumen vom aus der Zeit gefallenen Ausdrucksklang zu befreien. Die Bedeutung der Textaussage wäre sprachlich über die Jetztbegrifflichkeit ins Verständnis unserer Zeit zu übertragen, in deren Gebrauch sie gebracht werden müsste (was der Urheber, also Er, eben auch mit den Mitteln, nämlich Beispielen Seiner Zeit handhabte).

Ähnliches gilt für das umrahmende Zeremoniell der Gottesdienstpraxis. Es sollte jedoch nicht in "ritualistisches Entertainment"* gebracht werden und sich ihre Vollzieher nicht als "Eventpfaffen"* verstehen. (*Thomas Kaufmann, FAZ 03.11.2022)

Anhang

Ähnlichkeiten in der Antike mit der Jesus-Darstellung und seiner mythischen Abkunft

Die Anthropomorphisierung, die Vermenschengestaltlichung nämlich, ist seit je in allen jenseitsgläubigen Glaubenswelten gegeben gewesen, also die Zumessung von menschlicher Gestalt der mythischen Figuren und darüber hinaus die Irdischheit überschießende Handlungsfähigkeit nebst Überwindungskraft des Diesseitigen, der Geworfenheit.

In der Mythologie von jenseitigen Gestalten bei den Griechen und Römern, ebenso den Ägyptern gab es immer schon Verflechtungen über Grenzen der jeweiligen scheinbar einmaligen und daher festgefügten Anschauungen hinweg, sozusagen "kulturüberschreitende sinnstiftende Erzählungen". Eine andere Perspektive tut sich dabei auf, wenn von im Menschen angelegten Grundbedürfnissen ausgegangen wird, aus denen heraus die sich ähnelnden Konstrukte bilden. Es kann u. U. sogar von Gefügen eines Kollektivbewusstseins gesprochen werden. Bei ihrer Aktivierung handelte es sich wohl um Übernahmen aus dem Bedürfnis heraus, an Bestehendes und vorwiegend urzeitlich Überliefertes anzuknüpfen und es als schöpfungsgegeben auszuweisen. Außerdem könnte als Motiv der Übernahme dieser in äußerster Vielfältigkeit erscheinenden mythischen Erzählungen und Auslegungen eine ordnende, dankbar angenommene Befreiung als förderlich für das missionierende Anliegen des christlich konzentrierten Glaubensgutes erblickt werden. Dadurch erleichterten diese im Grunde Nebeneffekte die Übermittlung des Kerns der geistigen Gehalte. Diese Verbildlichungen wurden somit allerdings zu religiösem Inventar, zumal damit allgemein menschliche Erwartungen, etwa vom Daseinsheil abgedeckt werden konnten. Im Grunde könnten diese Gemenge aus irdischem Dasein und Übernatürlichkeit der im Bewusstsein erzeugten Figuren aber in der mutmaßlich fortgeschrittenen Denkfähigkeit unserer Zeit heraus zur Abstraktion anregen und somit Eingang zur Vertiefung der religiösen Inhalte in geistige Qualitäten dienen. Also von der fabulösen Irdischheit zur logischen Geistigkeit könnte sich die Glaubensrichtung bewegen.

Beispiele aus vorchristlichen Glaubensüberlieferungen, gemessen an der gottmenschlichen Gestalt des Jesus von Nazareth:

- Osiris ist gestorben und sei wieder auferstanden. Und zwar lt. Legende von seinem Bruder Seth ermordet und zerstückelt – von Isis, der Schwester und Gattin, wieder erweckt. (Jan Assmann: Tod und Jenseits im alten Ägypten, München 2003) Osiris galt als Richter der Toten. Wie Jesus diese Rolle innehat, denn er werde "[...] die Lebenden und die Toten richten [...]". (Timotheusbrief 4,1-2)

- Asklepios, römisch Äskulap: Er habe heilende Kräfte und könne Tote auferwecken. "Allerdings fürchtete Zeus – nach Hades' Klage – ob des Erfolges von Asklepios' Heilkünsten, dass kein Mensch mehr sterben würde. Er schleuderte daraufhin einen tödlichen Blitz auf Asklepios."  (Klaus Meister: Die griechische Geschichtsschreibung, Stuttgart u. a. 1990, Diodor 4,71)

- Herakles: Ein Sohn von Zeus (HomerIlias 19,96–99), der nach seinem Tod zum Olymp aufgestiegen sei.

- Romulus und Remus seien göttlicher Abkunft und aus einer mütterlichen Jungfrau hervorgegangen. Mars vergewaltigte die Vestalin Rhea Silvia, und sie empfing von ihm die Zwillinge Romulus und Remus. (Adolf Schirmer u. a., Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Leipzig 1897) Allerdings seien sie von einer Wölfin gesäugt und später in einer Hirtenfamilie aufgezogen worden.  

- Zur Gottes-Zeugung in Verbindung mit der Jungfräulichkeit: In Ägypten verhieß Gott Amun-Re der jungfräulichen Königsgattin den Thronerben, wohnte ihr als Pharao bei. Er erkannte ihn im Himmel als seinen Sohn an. (Emma Brunner-Traut: Die Alten Ägypter. Verborgenes Leben unter Pharaonen, Stuttgart 1987) 

- In Persien galt der endzeitliche Saoschyant als von Zarathustras Samen gezeugt, den eine badende Jungfrau aus dem Wasser empfangen habe. (Mary Boyce, Handbuch der Orientalistik, Leiden 1975)

- Nach Plutarch nahm Alexanders Mutter Olympia für sich in Anspruch, von Achilleus, einem Sohn des Zeus, abzustammen. Gemäß einer von ihr benutzten Darstellung stamme Alexander aus einem traumhaften Beiwohnen von Zeus mit ihr ab. 

Eine der biologischen Wirklichkeit entgegenstehende "immerwährende Jungfräulichkeit" ist in der katholischen und orthodoxen Kirche Glaubensgrundsatz. Während andere Glaubensberichte von Jungfrauenempfängnis, nicht aber von Jungfrauengeburt sprechen.