TRAUMGALERIE

Drei Räume der versammelten Wunderlichkeiten

 

"Und heißt das, es sei unsinnig, je die Frage zu stellen: ob der Traum wirklich während des Schlafes vor sich gehe oder ein Gedächtnisphänomen des Erwachens sei? Es wird auf die Verwendung der Frage ankommen."  Ludwig Wittgenstein

 

Inhalt

Traumgalerie. 3

Von Ausreißern und ihren Umständen. 195

Man hieß mich wallen. 254

 

Traumgalerie   

Er hatte so einiges gehört, als es ihm ums Nachttheater ging.  

Zunächst war da behauptet worden, dass der Traum eine Art Selbstverrat sein könnte.  

Na schön, dachte er sich, gleich zu Beginn so eine Ansage. Abbringen ließ er sich dennoch nicht. Das Wesen der häufig sehr lebendigen Schlafereignisse war seinen Informanten zu erörtern gewesen. Dass wir uns im Traum in einer Nebenwelt bewegten. Was da gelegentlich abläuft hinter dem dunklen Teil der Grenze zwischen Wachsein und Schlafen schien ihm nun von Interesse. Die Auseinandersetzung zwischen dem schier haltlos kreativen Tiefbewussten und seiner Bändigung durch Denkvorgän­ge beim Erwachen war besprochen worden. Zu besagter Zügelung im Allgemeinen sei immerhin die aus dem Munde eines gewissen Adorno, einer Iko­ne der berüchtigten 68er Jugend, stammende  An­­­­merkung zu zitieren, wusste er, dass die persönliche Form geradezu der verinnerlichte gesellschaft­­liche Zwang sei. Wer diese Grenze nicht wenigstens zu überschreiten versuche, war er gleich überzeugt, veröde sich selber in seiner Zwangs­weste.

Gewöhnlich verschwinde eben ein Traum im Verschweigen. Denn wer berichtete – auch sich selber! – ganz ungeniert von seiner ureigenen quasi Anderalltäglichkeit?

Weiter ging es ihm zu allem bisher Wahrgenommenem damit, dass die Mitteilungsart des Traums nicht die Sprache sei. Als Instrument wirke die szenische Aufführung. Das Auftreten in der Regel in Unschärfe des Details und in beziehungsloser, willkürlicher Kombination. Träume ließen Personen ohne nähere Begründung auf- und wieder abtreten und wechselten beliebig den Handlungsort. Das war ihm nichts Neues. So treibt es eben die etwas lockere Dame Freiheit, kommentierte er sich, um die bis hierher gefasste Fülle und Strenge der Darlegungen ein bisschen aufzulockern. Da war gleichwohl noch etwas festzustellen: Der die Traum­wirklichkeit beinahe verfremdende Bruch werde durch ordnende und ergänzende Sprachelemente hervorgerufen. Trotz dieses eigentlich gar nicht zu vermeidenden Eingriffs habe man von einem sehr bedeutenden Moment auszugehen: Der Traum verriete einem sein aus der Tiefe wirkendes Vor-Ich! Dieses ziehe die Fäden, an denen jeder hinge und über die jeder fortwährend gesteuert werde.

Ist die Freiheit der Selbstbestimmung mithilfe klaren Bewusstseins eine Illusion?, erschreckte ihn. Ein Schock, ja, bereits eine richtige Verwundung seines Denkvermögens! Er fühlte sich nun in seiner ursprünglichen Rolle ertappt! Und er sah sich selber gegenüber geoutet als Marionette. Was volksmündlich mit Schnürlhanswurst zu übersetzen sei, mit Hampelmann – allerdings wenig charmant klingend! Trotzdem sah er sich schier gezwungen zu bekennen: Ein jeder ist Puppe an von tief innen gezogenen Schnüren – wie das jener bereits erinnerte Adorno mit Blick auf die verinnerlichten äußeren Zwänge verdeutlicht hatte.

Er war bereit, das auf seine Weise abzurunden: Alle Leute hängen am Gängelband vieler tiefgreifender, geradezu ausufernder digitaler Spionage. Alles sei nur dann richtig peinlich, wenn wer damit als ein Einzelner dastände. Da jedoch alle in dieser Rolle steckten, war er überzeugt, neutralisiere das jeden in der Schwarmdummheit.

Er war also mit den zunächst unbehaglichen Umständen des Seins wieder im Lot. In diesem ausgeglichenen Befinden war er in der Lage, sich noch zu erinnern, gehört zu haben, dass der Traum sich aus einer unbestimmten Faktensammlung speise.

Dass das Wesen des Traums die Ballung, Mischung und Bewegung von im Tiefen Vorhandenem sei. Da fügte er noch an, dass der Traum ein Aufleuchtenlassen von Bruchstücken aufgefundener oder eben erzeugter Gegebenheiten im Zusammenspiel der Elemente sei ...

 

Jetzt genügte es ihm allerdings. Er – nämlich endlich: Cassian Bacher! Er wollte sich damit begnügen, erkannt zu haben, was es bedeutet, sich eines Traumes zu erinnern: Auch wenn dieser damit seiner meist tollen Ungebundenheit beraubt werde, sei daraus doch eine Geschichte zu gestalten und festzuhalten. Ein Aufschreiben, vollführt mit dem Beiklang von Überraschung, Erstaunen, Rührung und ähnlichen wie auch immer gearteten, häufig gar nicht so unwillkommenen Unwägbarkeiten.

 

Wenn es Bacher einige Zeit darauf dann doch wieder grundsätzlich um diese Sache ging, tauchten ihm eher die alten Bilder auf – ohne sich freilich darauf festlegen zu wollen! Er erinnerte, dass es sich bei Träumen vielleicht um Nachrichten aus dem Jenseitigen handeln könnte; dass Götter im Schlaf der Menschen ihre Botschaften inszenierten. Da sie sich im Allgemeinen nicht so einfach wie etwa im frühen Griechenland in persona herbeiließen.

Auch dass Träume in die Zukunft weisen könnten, sei schon behauptet worden. Was allerdings durchaus Sinn mache, meinte Bacher. Besonders dann, wenn er ihnen zubilligte, dass sie Vergangenes – auf ihre bunt gewürfelte Weise natürlich – vorführten. So verkörperten sie immerhin Ganzheit, der er doch zugestehen wollte, dass sich Gegenwart und Zukunft auch aus der Vergangenheit speisten.

 

Cassian Bacher malte sich künftig seine Bilder aus den Landschaften, die er im Schlaf durchwandert hatte. Das tat er allmählich immer intensiver. Endlich beschloss er, sich eine Traumgalerie zu schaffen.

(Um das Wesen von unserem C. B. noch etwas zu beleuchten, sei verraten, dass er seinen Vornamen Cassian seinen Eltern lange Zeit übelgenommen hat­te. Er fand allerdings irgendwann heraus, dass es sich dabei um einen frühen Kirchenmann gehandelt hatte. Dieser habe als Bischof in Säben, oberhalb Klausens in Tirol residiert und gelehrt. Was Bacher geradezu bizarr vorkam, das war die Legende, dieser Frühchrist sei von seinen Schülern mit Schreibwerkzeugen zu Tode gebracht worden. Ver­mutlich war Sankt Cassian zunächst – nur von einem Schüler wie aus Versehen – etwas gepikst worden. Dann war Cassian – da er das pädagogisch heiter, allerdings vielleicht ein wenig ungeschickt wegzuspielen versucht hatte und das eher lustig rüberkam – bereits von mehreren gestochen worden. Plötzlich wurden wohl alle Schüler vom Satan erfasst und gerieten in eine bestialische Laune. Sie rannten Cas­sian die spitzen Griffel als nun Mordwerkzeuge tiefer und tiefer und schließlich final in den Leib. Bacher malte sich diese Geschichte in seinem Hang zum Bildlichen ergreifend aus. Er hängte sich sozusagen mit seinem eigenen Cassian daran. Die daraus entstandene Bilderfolge überkam Bacher häufig, wenn es im Dienst wieder so unfriedlich gewesen war. Am Ende konnte er über Mitleid – natürlich nicht zuletzt auch mit sich – seinen Frieden mit dem Cassian schließen, der ihm dem Familiennamen vorangestellt worden war. Um das mit seiner Benennung zu vervollständigen, schenkte er auch seinem Familiennamen Bacher einen tieferen Sinn. Er brachte ihn gewissermaßen zum Sprechen – den alten Griechen zitierend –, dass alles fließe. Er verliebte sich geradezu in die Aussage dieses Heraklits –, was ihn zur eigentlichen Formulierung führte: Du kannst dich zwar immer wieder an derselben Stelle des Ufers in den Fluss begeben. Dich wird aber nie dasselbe Wasser umspülen, denn ...)

 

Es ist jedoch allmählich Zeit, ans Werk zu gehen, um Cassian Bachers Bilderwelt auszustellen:

 

Es hatte sich in der Nacht vom 11. Januar ereignet. Da war auf Cassian Bacher im Schlaf eine Bilderfolge eingeströmt. Wie er später meinte, hatte sich ihm das in einer von ihm noch nie wahrgenommenen Klarheit ereignet:

Ein großes, langgestrecktes Haus war ihm da aufgetaucht. Einige Jugendstilgirlanden um das Portal und um die Fenster. Mehrere Geschosse. Ein Heim etwa. Durchaus, dem Publikum nach, das sich darin aneinander vorbei bewegte, eine Seniorenresidenz. Die Baumschatten, die über dem aufgekiesten Umgriff lagen, deuteten einen in geringer Entfernung liegenden Park an.

Sonderbare, eigentlich doch eher gestaltenlose Bewegung herrschte in den Gängen.

Bachers Suchen dann nach einer Toilette. Öffnen von Türen, deren Aufschrift die Möglichkeit zur Erleichterung verhieß: "Herren". Rückzug. Allerdings unverrichteter Dinge. Stets war der Raum, den er betrat, umfunktioniert: Bacher fand ihn immer als Putzkammer eingerichtet vor – neben den Reinigungsutensilien jeweils mit einem Bett ausgestattet. Weitersuchen, hieß das für ihn.

Dann entschloss er sich, das Gebäude zu verlassen. Die Natur des Parks, bildete er sich ein, würde seine Absonderung als Geschenk aufnehmen. Etliche Personen waren da draußen. Jemand deutete den Namen eines älteren Herren an. Cassian Bacher erinnerte ihn als einen Bekannten. Jetzt sah er ihn. Dieser Mann saß auf so einem Motorroller, wie er früher in Mode war, einen Fuß auf dem Boden. Während er mit den Fingern der linken Hand am Kupplungshebel herumspielte, hatte er die Rechte lässig in der Hosentasche. 

Da gab irgendwer zu verstehen, dieser Herr habe mit seinen gut siebzig Jahren noch geheiratet. Es war verwundert, sogar beinahe vorwurfsvoll rübergekommen.

Bacher fühlte sich entgegnen, dass der alte Herr in diesem Fall der späten Verehelichung eben nicht so viel von seiner natürlichen Lebenszeit verloren habe.

 

Fragende Blicke waren gleich auf ihn gerichtet, erinnerte sich Bacher noch, als er erwachte. Wegen der Sache um die Lebenszeit war das vermutlich. Da er auch nicht gleich wusste, wie er zu dieser Darstellung hatte kommen können, holte er sich selber gegenüber zu einer Erläuterung aus: Das sei dann der Fall, dachte er sich, wenn sich eine Holde zur Unholden wandle. Dass sie ihren Angetrauten in dieser gewandelten Rolle schließlich durchaus umzubringen imstande sei. Wie es auch gelegentlich in der Zeitung stand. Bacher bestätigte sich, dass daher mit dieser späten Bindung eben auch die Möglichkeit eines wesentlich späteren Zu-Tode-Kommens zu Buche schlage. Er wollte gleich dazu ansetzen, dass einer wegen seiner Lebenszeit gar nicht spät genug ..., versagte sich allerdings, den Gedanken zu Ende zu bringen. Er räumte jedoch dem Traum als solchem ein, durchaus gemein und platt sein zu dürfen. Ein Traum zehre bekanntermaßen vom Leben, galt Bacher als Beleg dafür. Cassian Bacher unterließ es zwar, diesen Einfall weiter zu verfolgen. Er war gleichwohl entschlossen, der nächtlichen Erlebniswelt weiter Aufmerksamkeit zu widmen.

 

 

Etliche Tage, besser Nächte vergingen. Bacher hatte beinahe nicht mehr an seinen Plan der Pflege der Traumerinnerung gedacht. Denn sein Schlaf war in dieser Zeit ereignislos gewesen.

Anfang Februar fand er sich immerhin in seiner Nachtwelt in einer Arztpraxis wieder.

Er war dort behandelt worden: ein Herummachen an ihm – nicht eben schmerzlich, allenfalls lästig. Schließlich sollte er sich waschen, denn sein Rücken war von Blut verschmiert. Was verursacht zu haben der Arzt nicht nur wort-, sondern vor allem gestenreich energisch von sich wies, und zwar, noch bevor ihn jemand dessen bezichtigt hätte. Von ei­nem Vorhang halb verdeckt, kam Bacher der Weisung zur Reinigung seines Oberkörpers nach.

Er bediente sich eines Waschhandschuhs. Auch eine kleine weiße Schüssel war ihm gereicht worden. Deren Überzug aus Emaile schien brüchig zu sein, jedenfalls waren rote Stellen zu sehen. Bei denen konnte es sich allerdings auch um Blut gehandelt haben, bei dieser Örtlichkeit dort.  Bei seiner Waschung setzte er das Behandlungszimmer völlig unter Wasser. Er war gezwungen, sich auf den Medikamentenschrank zu retten. Von dort oben herabblickend, sah er den Arzt auf dem Rücken der Krankenschwester, die in der Brühe umherschwamm. Der Arzt war vielleicht Nichtschwimmer oder hatte einfach keine Lust, sich eigenständig über Wasser zu halten. Er klammerte sich mit einer Hand an seine Helferin und patschte mit der anderen auf die Blutbrühe ein. Bacher meinte, ihn grinsen gesehen zu haben. Das Unterhemd sei ruiniert von dem vielen Blut, diagnostizierte der Doktor, den Bacher plötzlich auf dem Schrank neben sich hatte. Kopfschüttelnd reichte er Bacher das schwarze, ärmellose Trikot. Ein kaum verhüllter Ekel war in seinen Zügen auszumachen. Bacher nahm das Knäuel an sich, entfaltete es und streifte es sich über, erleichtert, nicht mehr so entblößt zu sein. 

 

Tagsüber musste Bacher wiederholt an diese sonderbare Szene denken. Da kam ihm in den Sinn, darüber mit jemandem zu sprechen. Wir erhalten diese Geschenke in unseren Schlaf hinein, widmen uns ihnen jedoch nicht sonderlich, war er überzeugt. Wir fliehen sie geradezu, besonders natürlich, wenn sie uns erschreckt hatten. 

Also darüber reden, war er überzeugt. Gleich fasste Bacher auch eine weibliche Person aus dem Bekanntenkreis dazu ins Auge. Diese stand ihm bereits etliche Zeit unter dem mitunter etwas verliebten Decknamen "Sonnenschein" im Kopf – was er sich hingegen einigermaßen strikt weigerte, sich einzugestehen. Sie war etwa Anfang dreißig und voll Temperament – jedenfalls im Verhältnis dazu, wie er sich diesbezüglich selber einschätzte. 

 

 

Nachts darauf dieses Bild: "Nach hinten dankbar", wies eine ältere Frau allen, die ihr begegneten, "nach vorne zuversichtlich und nach oben ..."  Da war allerdings die Nacht auch bereits vorüber gewesen, die Handlung war abgebrochen worden oder sie entzog sich der Erinnerung. Jedenfalls erwachte Cassian Bacher nur damit und der Vorstellung dieser beinahe vermummten Person im Gedächtnis. Die Frau hatte da auf dem Flohmarkt gesessen und Gegenstände angeboten. Bacher schränkte ein, dass sich dieses Ereignis wohl nicht in dem zurzeit kalten, verregnet-verschneiten Februar zugetragen haben konnte. Denn wer setzte sich da stundenlang ins Freie. Er kam dann darauf, dass es aus dem Fernsehen stammte. "Nach hinten dankbar", hatte dort eine betagte Frau gesagt, "nach vorne zuversichtlich und nach oben ..." Nach oben? Eben das war Bacher entfallen. Oder er hatte es nicht richtig wahrgenommen. Wegen der Beschäftigungen nebenbei, denen sich einer beim Fernsehen immer wieder widmet – wenn er nicht sogar ab und zu einschläft. 

Diese Leerstelle nistete sich ihm allmählich richtig als Mangel ein. Er vermutete, dass es eine merkenswerte Lebensauffassung sein könnte – eine Grundeinstellung, die vielleicht auch für ihn von Vorteil sein könnte. Und das unter Umständen sogar mit dem schonenden Begnügen, lediglich davon wissen zu sollen. "Denn keiner müsse die idealen Dinge stets gleich selber vollführen und sich damit womöglich peinigen", menschelte er vor sich hin.

Es ließ ihn jedenfalls nicht aus. Er musste daran denken und überlegen, wie das Zitat zu Ende zu führen wäre.

 

 

Am Morgen des 9. Februar ging Cassian Bacher durch den Kopf, dass er sich in der Nacht in einer Zelle eingeschlossen gefühlt hatte. Eine selbst noch am Morgen beklemmende Situation für ihn. Es war ihm gleich so vorgekommen, wusste er noch, als sei da noch irgendwer. Dort hinter der Ecke seiner Traumzelle mochten sich noch etliche mutmaßliche Schicksalsgenossen aufgehalten haben. Jedenfalls hatte er ein gedämpftes Stimmengewirr wahrgenommen, das allerdings auch wieder so klang, als komme es von viel weiter her.  Ehe sich Bacher versah, befand er sich in seinem bloßen Nachdenken darüber, sozusagen wieder mitten in diesem Vorgang: Die Anderen hielten sich immerhin – wenn sie denn wirklich in seiner Umgebung vorhanden waren – so weit von ihm entfernt auf, dass sie nicht zu sehen waren. Die Örtlichkeit befand sich im Dachgeschoss einer großen Anlage, war ihm gleich bewusst. Er stellte sie sich als ein, wenn auch sonderbar kahles, jedenfalls kein verschnörkeltes barockes Kloster vor. Ödnis, wenn er aus dem vergitterten Fenster in den Hof hinunter und zu dem abgewinkelten Gebäudeteil hinübersah: Graue Wände mit Fenstern, wie Schießscharten so schmal und klein, obendrein vergittert; auf dem Hof kein Halm Grün; mannshohe Mauern umfingen das Gelände. 

Gestalten, eher nur Schemen, schatteten in der Zelle an ihm vorüber. Alles spielte sich immer noch in einiger Entfernung ab und war kaum auszumachen.

Es konnte also eine Täuschung sein. Dennoch kam es ihm so vor, als leerte sich der Raum allmählich. Als er dann meinte, alleine zu sein, kam ihn Einsamkeit an. 

Später wurde ihm von einer zwar deutlich auszumachenden, allerdings und deswegen auch wieder erschreckend körperlosen Hand ein Schlüssel gereicht. Er versuchte, mit einigem Schauder, die zu der Extremität mit dem Schlüssel gehörende Gestalt zu erkennen. Vergebens. So fiel sein Blick auf die Reichung: ein Miniaturschlüssel mit schwarzem Kunststoffgriff, augenfällig für ein Zylinderschloss.

Dieses Ding sah gerade so aus wie jenes zu dem Fach, in dem in seiner Dienststelle die Kasse weggeschlossen war. Bei dieser handelte es sich immerhin um eine so genannte schwarze Kasse. Deren Existenz bereitete einem stets ein wenig schlechtes Gewissen, wenn man auch nur daran dachte. Diese Kassen enthielten Beträge, die an der Buchhaltung vorbei irgendeinem Zweck, der ebenfalls außerhalb des Regulären lag, zugeführt wurden. Man durfte nicht erwischt werden. Es war gnadenlose Ahndung zu befürchten.

Irgendetwas in ihm bedeutete ihm, seinen Schlüssel einzuführen. Das war ein überaus wohltuender Akt, den er mehrmals wiederholte. Er genoss das Hineingleiten des Schlüssels. Es bescherte ihm ein angenehmes Gefühl, so etwas Märchenhaftes wie aus der Verheißung des Sesam-öffne-Dich. Es erregte ihn. 

Er konnte sich jetzt nach vollführter Handlung aus dem Gebäudekomplex hinausbegeben – und das allerdings mit einem verwirrenden Gefühlsmix aus Befreiung und Hilflosigkeit. 

Eine ältere männliche Person gesellte sich zu ihm. Ein Deut von Beziehung entstand sofort, sogar etwas Vertrautheit war augenblicklich fühlbar, empfand er. Ein Hauch von Geborgenheit kam auf. Es könne ja auf keinen Fall schaden, in Begleitung zu sein, meinte er angenehm berührt. 

Mit dieser Person befand er sich vor dem Tor unversehens in einer Menge offenbar ebenfalls Befreiter. Alle zogen an einer großen, schwarz bemantelten Gestalt vorbei. Diese sah so aus, wie sie bei Don Giovanni gerne den Komtur als Wiedergänger darstellen. 

Dieses im Grunde furchterregende Gespenst hatte etwas zu verteilen. Es war wohl Geld, stellte Bacher fest. 

Als sie an der Reihe waren, erhielt sein Begleiter tatsächlich etwas. Bacher konnte es in dessen Hand klimpern hören. Für sich hingegen war nur noch ein Stückchen Stanniol übrig. So eine leere Geldimitation aus etwas stärkerem Blattzinn, wie sie zur Umhüllung von Schokoladetalern verwendet wird.

Sie war nicht goldfarben, sondern nur schnöde grau. 

Ihre Wege trennten sich, da der Andere vorgab, von seinen Angehörigen zu wissen und diese gleich aufsuchen zu wollen. Bacher konnte nicht mit so etwas aufwarten. So irrte er umher und lief im Grunde ins Leere. 

 

Bacher verfolgten diese Eindrücke über sein Frühstück hinaus. Auf dem Weg zum Dienst wurden sie aber von dem Gedanken verdrängt, doch mit dieser Dame Sonnenschein über Träume zu sprechen. Sein Planen an diesem privaten Vorhaben beflügelte ihn dann bei seiner Arbeit ungewohnt. Ob es deren Qualität auch steigerte, mag dahingestellt sein – zumal Cassian Bacher das mit der alten Frau da vom Flohmarkt auch noch verfolgte. Dem wollte er jedoch später auf der Bahnfahrt während seines Nachhausewegs wieder etwas weiter nachgehen. So ließ er sich dann darauf ein, dass es zwar allein respektabel sei, dass diese Frau neben Vorausschau und Rückblick ein besonderes Oben für gegeben hielt. Möglicherweise dieses vielzitierte, merkwürdige Allesbeherrschende. 

Dieses Oben jedoch aus heutiger Sicht des Alls, des Orbits?, fragte sich Bacher. Kann da im Bewusstsein der Zeitgenossen wie vielleicht ehedem eine Allsicht als Jenseitsbewusstsein entstehen? Wohl keiner kann es sich so vorstellen bei all dem Gefühl von Aufgeklärtheit über die Himmelskunde. Das hinwiederum auch ohne tiefere Einblicke in die Astronomie, die freilich besser der Wissenschaft zu überlassen ist. Bacher betrachtete es als überflüssig, seine Gedanken weiter auf etwas Jenseitiges, noch dazu Unergründliches zu lenken. Lasse den Himmel doch besser als jenen der kindlichen Sicht und den aus dem Gebet mit dem Vater im Himmel sein, riet er sich. Diesen Himmel, dessen sich einer, wenn überhaupt, dann meist nur in misslichen Lagen zu erinnern trachtet. 

Obendrein sind da auch noch die vielen Himmel, kam ihm später. Der Zug hatte gerade den kleinen Tunnel durchfahren und das schöne Abendrot drang einem fast ins Herz. Diese Himmel, die jeder, aus welchem Anlass auch immer, benennt und natürlich auch ersehnt. Denkt einer nur an den so genannten siebten Himmel. Der Himmelsbegriff ist bekanntermaßen dem Wertverlust unterworfen, einer Inflation. Schließlich ist da das in weiten Kreisen sehr ernst genommene Angebot von mehr als einem halben Dutzend Himmeln mit der Himmelsleiter irrwitziger Verheißungen. 

Bacher fragte sich, was es solle – wollte das allerdings ebenfalls in seinem geplanten Gespräch mit Sonnenschein einbringen. Er war gespannt darauf, ob überhaupt und wenn doch, wie so etwas wohl bei ihr, dieser Sonnenschein, ankommen würde.  So ein wuchtiges Ding bei einer Frau, kicherte er sich davon weg, als sozusagen Anmacheplauderei!

 

 

In der Nacht des 14. Februars mochte es dann daran gelegen haben, dass Bacher vom Winter genug hatte und ihm der Traum deswegen etwas Sommerliches bescherte:

Eben feixte da dieser Mensch – eine als seriös eingeschätzte, stadtbekannte Person – noch am Straßencafé vorbei: Aus einem sommerlich offenen Benz äugte er langhalsig hervor und bewegte sein Schmuckstück mit einer Langsamkeit wie im Kriechgang. 

Eigentlich doch etwas extrem für einen pensionierten Direktor, so eine Show, dachte sich Bacher hinter seinem Cappuccino. Da war dieser alte Dandy natürlich auch gleich weg. Als Bacher nach seiner Tasse greifen wollte, war der weiße, eigentlich kakaobetupfte Schaum auf seinem Getränk beschriebenes Papier. Als er noch einmal und nun genauer hinsah, fand er sich hinter seiner Steuererklärung wieder. Er blickte umher. Da war sonst niemand. Also führte er das Gebilde ungläubig zum Mund. Und das in der Absicht, den Zustand zu prüfen. Er wollte sehen, ob es sich um so eine Wandlung handelte. Ähnlich der Annahme bei religiösen Vorgängen. Natürlich hätte es Bacher als vorteilhafter empfunden, wenn doch noch ein Schluck zu nehmen gewesen wäre. Er erkannte bei der Sinnenprobe jedoch tatsächlich auf Papier. Siehe da, es stellte sich sofort die übliche Wirrsal ein, in die sich der Steuererklärende stets geworfen fühlt.  Da bemerkte Bacher, dass der Herr, tatsächlich jener aus dem offenen, sportlichen Luxusgefährt, an seinen Blättern saß. Bacher traute ihm sofort Ein- und sogar Durchblick zu. Diese Erscheinung wollte gleich wissen, ob er denn mit dem Rad unbedingt jene Strecke hatte fahren müssen. Ein Hund war Bacher vor einiger Zeit, jedenfalls im darzustellenden Steuerjahr, an die Beine gesprungen. Bacher war so auf äußerst unsanfte Weise vom Drahtesel gebracht worden. Damals. Und Bacher – zur Erinnerung, die sich auch sofort einmischte – hatte seit einiger Zeit geplant, die entstandenen Arztkosten von der Steuer abzusetzen. 

Bacher war durch das Ansinnen, das immerhin auf sein Verhalten abzielte, irritiert und wusste nicht gleich, etwas zu entgegnen. Als Bacher dann doch einfiel, dass es im Leben meistens mehrere Möglichkeiten für Wegstrecken gebe, war der vermeintliche Helfer bereits wieder verschwunden. Alles Wegliche führe nach Rom, heißt es, wollte Bacher noch versichern. Es blieb ihm hingegen gewissermaßen im Kopf stecken. 

 

Am nächsten Tag befand sich die Steuererklärung unter Bachers Plänen. Er werde sich ihr widmen müssen, erkannte er. Denn er erinnerte sich, gehört zu haben, dass eine Arbeit, die hinausgezögert wer­de, so oft zu erledigen sei, wie sie einem in den Sinn komme bei seinem ganzen Aufgeschiebe.

 

 

 

Am 20. Februar erschien Bacher in seiner nachtschlafenden Zeit ein Gewirr von Straßen, Geleisen, Kanälen, Unterführungen und Brücken. Züge rasten vorüber. Autos flitzten daher, um sich bald an Schlangen ihresgleichen zu hängen. Schiffe durchpflügten das Wasser. Weit darüber stachen Jetts ins Himmelsblau und zeichneten ihre Flugbahn brüchig weiß. Es musste drüben in den Staaten gewesen sein, wo sich Bacher gleich selber in einem Straßenkreuzer fand, einem geräumigen, wohligen Käfig, der ihn so dahinschaukelte. Er fühlte sich mitten in diesem ganzen Geflecht und dazu auf sonderbare Weise als einen Teil davon: Ich bin die Straße, die Schiene, der Wasserweg und der Luftraum, wollte sich Cassian Bacher zumessen. Ein Gefühl des Schwebens stellte sich ein. Er lauschte dann, angeregt durch die wohltuend belebte Situation, den Einlassungen von irgendwoher. Da konnte gut ein Mitfahrer sein oder auch nur das Radio, aber immerhin, es rieselte angenehm auf ihn ein. Plötzlich stach er in einen Tunnel. Dieser verjüngte sich auf den ersten Blick. Er schrumpfte gleich zum Schacht. Im Nu von allem völlig entledigt, ganz al­lein, bewegte sich Bacher bald in dieser ständig enger werdenden Mine, die sich finster und kaltwandig dahinzog. Bacher kroch bereits auf den Knien voran. Die Röhre schloss ihn ein, fühlte er entsetzt. Da, ein heller Punkt. Winzig. Ganz weit weg. Licht. Da vorne. Von etwas weiter oben schien es auf. Eine Öffnung, ein Ausgang? Die Freiheit? Erleichterung. Bacher, nun bereits auf allen Vieren. Schließlich robbte er darauf zu. Ein unbändiger Drang trieb ihn voran, wie Angst im Nacken. Die Röhre verjüngte sich indessen immer mehr, lief, immer enger werdend, auf den verheißenen Ausgang zu. Die Schultern streiften bereits die Wandung. Am Ende war da kaum noch Kopfesweite. Eingezwängt sein! Höllisches Grauen! Das Licht – Weite, Breite, Raum verheißend. Unerreich­bar? Kein Durchkommen? Es muss doch gelingen! Raus hier! Wieder ein Versuch und wieder. Ein Ruck vorwärts, auf die Befreiung, auf die Erlösung zu. Der Druck um den Kopf. Steckenbleiben. Horror! Nachgedrückt, vielleicht ist ein Durchzwängen zu schaffen! Alles riskieren. Noch fester eingeklemmt. Der Kopf, um Gottes willen! Zurück! 

Es gibt keine Umkehr ...

 

Bacher war ums Erwachen und um den hellen Mor­gen froh. Die Beklemmung vermischte sich in ihrem Abklingen versöhnlich mit der plötzlichen Befreiung. In diesem Zustand griff Bacher sich mit beiden Händen an den Kopf und atmete tief durch.

Es tat wohl.

 

Die Tagesgeschäfte angehen, hieß er sich. Ein Blick in den Kalender – und gleich dieses Herzklopfen: "Treffen mit S.", stand dort. Ein lautes Lachen fuhr ihm heraus. "Ich gehe auf die Vierzig zu – und immer noch dieser Pulsschlag bei dem ...", wunderte er sich laut vor sich hin. Jung oder dumm geblieben?, fragte er sich und wich sich aus, indem er feststellte, dass Verschiedenes so drin ist in einem, ein Leben lang. Er setzte noch hinzu, dass dieses Angehäufe kaum danach befragt wird, ob es jeweils noch Bedeutung habe. Letztlich empfand er diesen Gedankengang jedoch in seinem Fall als wesentlich zu abgestanden und wollte es sein lassen. Er setzte nur noch nach, dass es eben eine ganz angenehme Dummheit sei.

 

 

Am 05. März hatten sich die beiden dann getroffen. Ein schöner Abend im Kaffeehaus war daraus geworden. Bacher war selbst, wenn auch eher nur am Rande, mit seinem Anliegen bei Sonnenschein, wie es so schön heißt, durch offene Türen gegangen. Sie waren sich darüber – oder vielleicht sogar über­haupt? – beinahe richtig nähergekommen. Die große Überraschung beherrschte seine Stimmung eine ganze Weile. Er wünschte sich, dass das Tage dauern möge!

Getragen von überaus guten Gefühlen, überkamen

Bacher auch noch auf dem Heimweg Szenen ihrer

Unterhaltung. Der Austausch eigentlich belangloser

Alltäglichkeiten – wenn auch nicht gerade nur auf Niveau vom Gespräch übers Wetter. Dazwischen allerdings gelegentlich von ihm eingebrachte Anmerkungen zum Beispiel über die alten Römer und ihre Träume als Bilder des Todes. Wobei ihn Sonnenscheins nüchterne Entgegnung beeindruckte, Träume seien Sammlungen von Tagesresten. Er wollte darauf sein Römerzitat heiter abrunden mit der Bemerkung, dass der Tod den Alten allemal auch ein freundlicher Geselle gewesen sei. Einer, der ihnen am Ende oder vielleicht zwischendurch, eben zu welcher schlafenden Zeit auch immer, ei­nen Lebensfilm in Kürzestfassung vorführte.  Ihr Date war ihnen also eine sehr angenehme Veranstaltung gewesen, in der sie sich auch kleinere ge­sprächliche Ausrutscher nachsehen konnten. Der beiderseitigen Aufgekratztheit wegen.

 

 

Nachts (auf seine Begegnung mit Sonnenschein hin?) stellten sich bei Cassian Bacher diese Szenen ein: 

Ein 2CV war da vorne abgestellt. Diese Schachtel wackelte sonderbar. Da musste ein Parkplatz sein – und dort diese Bewegungen? Das irritierte Bacher ausgesprochen. 2CV heute noch? Nur noch was für Liebhaber und auch nur, wenn sie Bastler sind. "Döschöwo", fühlte er sich erklären. Wie das auch klang! Dieser kessen Bescheidenheit auf vier Rädern trauten es alle zu, dass sie sich irgendwie und auch aus keinem Grund bewegte. Das nicht nur ge­radeaus, sondern auch zur Seite und sonst wie. Alle hatten ihr immer alles Sonderbare nachgesehen – so er auch jetzt, wo sie im Stehen schwankte. Sie hatten das Ding nicht Auto genannt. Ente sagten al­le dazu. Gleich waren bei Bacher die späten Sech­ziger wieder da. Als junger Mensch mit so etwas herumkurven, das war cool.  

Das Schwanken war jetzt stärker geworden. Es sah wunderlich und schier zum Lachen aus, wie dieses komische Ding immer stärker wippte, gewissermaßen in die Knie ging und wieder emporsprang. Bacher kam es so vor, als ob sich beim Aufschwung gar die Räder vom Pflaster hoben. 

Kopfschütteln über sich selber. Offenbar misstraute er seiner Einbildung. Zum Ersatz war da wieder die Erinnerung an früher: Kein Fahrzeug im engeren Sinne war es ja, hatte es geheißen. Eher eine rollende Weltanschauung. Da waren tatsächlich die Endsechziger wieder. Wo sich die alte und die heraufziehende Zeit in den Haaren lagen. Diese Bilder, lange versteckt gehalten, kamen hervor. Die Staatsanwaltschaft wachte sogar über die Tiefe der Dekolletés bei den Evastöchtern in den Illustrierten. Justiz. Gericht ...

Bacher bewegte sich in die Nähe der wackelnden Nuckelpinne. Dieses Wort von früher! Er wollte an sich selber hinuntersehen, ob seine Kleidung auch aus der Zeit stammte. Alles verschwamm für einen Augenblick. Er konnte an sich nichts erkennen.  Jetzt war er so nahe, dass das Quietschen und Ächzen der Federn zu vernehmen war. Er wagte einen neugierigen, wenn auch unverfrorenen Blick durchs Fenster hinein. Oh, was ging denn da ab? Ein Staunen überkam ihn. Ein enormes Kribbeln durchfuhr Bacher. In dem Wackelding lief ein Film – und was für einer! Tief durchgeatmet! Den Blick nicht mehr abgewendet. Ein blanker Rücken hob und senkte sich in so etwas wie beharrlicher, unentwegter Genussarbeit. Dieser Eindruck bewegte Cassian Bacher tief. Er fühlte diesen Takt sogar in sich. Das enthüllte Individuum war über einem anderen, einem ebenso bloßen, aber in Vorderansicht, entdeckte er. Bebendes, sich hebendes und sich senkendes Fleisch. Verschlungen und ineinander sein. Im Augenblick vereinigten sich auch die Laute aus dem fast hüpfenden Behältnis mit denen vorhin wahrgenommenen Geräuschen. Eine lustvolle Addition: Vierfaches Federnquietschen plus zweifaches Stöhnen ist gleich Sextett, zählte er zu­sammen. Sextett, drängte sich ihm wollüstig auf! Beide Hände gegen den immer wilder auch zur Seite ausschlagenden Wonneraum gedrückt. Solidarisch als Außenhelfer sein Umschlagen und die Störung dieser elementaren Besorgung zu verhindern. Bald erhob sich ein hohes, steil ansteigendes Solo aus dem Sextett. Es überschwebte alles, flatterte für wunderbar mitreißende Sekunden schier über dem ganzen Zustand – und da stand auch gleich eine schwarze Robe neben der immer noch wild bewegten Schnuckelpinne. Dieser Schatten hatte die erhoben ausgestreckten Arme als Geste der Konfiskation über das Corpus Delicti gebreitet: Der Staatsanwalt aus den Sechzigern war da. Genau so, wie er zu erinnern war! Die geballte Wucht allen moralisierenden Über-Ichs, die diese Vorstellung wohl zu fassen gedachte ... 

 

Schließlich die Flucht Cassian Bachers in den Tag.

Ein schweißgebadetes Erwachen auf eindringliches Geheiß des Weckers hin und dann prüfendes Tasten nach dem Zustand der vielleicht ausgeworfenen Körperflüssigkeiten.

Beim Rasiergeschäft und beim dabei nicht zu vermeidenden Blick in den Spiegel kam es Bacher unvermittelt sonderbar an. Er stellte sich vor, wie sein Schädel ohne sozusagen Befleischung aussähe – aussehen werde. Es graute ihm allein bei dem Ge­danken, seines jetzt noch die Kopfhaut deckenden brünetten Haares entledigt zu sein. Er schämte sich allerdings sofort, sich diese Betrachtung überhaupt gestattet zu haben. Allerdings war er auch gleich wieder bei der Ursache dieses Einfalls, etwa dem Teil des Gespräches mit Sonnenschein, in welchem es um die Träume als die Bilder des Todes gegangen war. Er wollte sich da wieder heiter herauswinden. Er wolle dem Knochenmann in Zukunft dadurch Respekt erweisen, dass er ihn nicht mehr für jemanden halte, der nur wegnehme, nämlich das Leben, sondern der auch gebe, nämlich die besagten Bilderfolgen vom Leben. Und wohlgelaunt bekräftigte Bacher seinen Vorsatz dadurch, dass er sich seiner Nachterlebnisse weiterhin mit Sorgfalt annehmen wolle.

 

 

 

Irgendwann, gegen Mittag mochte es gewesen sein, war Cassian Bacher wieder mit Gedanken an diese Frau mit dem entgangenen "Oben" ihres Ausspruchs beschäftigt.

Im Grunde neide er ihr diese allein durch jene Blickrichtung gegebene geistige Haltung. Die sich gewiss auch körperlich darstellte und das Rückgrat entlaste – wollte er sich davon wegblödeln. Vielleicht vermute sie in diesem Oben die ganze Palette von idealen Werten hängen, holte er sich zurück. Diese idealen Werte, die ja wegen ihrer Entfernung vom Menschen, dem man sie dort hinauf philosophiert hatte, nie ganz zu erreichen sind? Aber dass sie ihm doch als leitender Ausblick erforderlich seien, die Werte. Diese Frau kann jedenfalls mit erhobenem Haupt, eben mit dem Blick nach oben, durchs Leben schreiten. Wenn sie es geschickt anstellte, abwechselnd mit dem von ihr auch zitierten Blick nach rückwärts und voraus, gewänne sie zum einen Umsicht und käme andererseits auch nicht wie der im Märchen zitierte Hans-guck-in-die-Luft daher, packte ihn wieder die Laune. Das ist selbstredend bildlich gemeint, holte Bacher seinen Einfall aus der anklingenden Wunderlichkeit zurück – und wollte es damit für heute sein Bewenden haben lassen. Allerdings überkam es ihn dann doch noch, dass alles seine ganz persönliche Bewandtnis habe mit diesen Dingen, dass alles zunächst innere Schau sei. Ach ja, "Schau - Show"!, rutschte ihm vernehmbar in diese Betrachtung. Was geht es die Anderen an? "Höre auf die Anderen nicht. / Tue redlich deine Pflicht. / Gott fragt auch die Andern nicht, / wenn er das Urteil über dich spricht.", hatte jemand groß und in schönen Lettern an seine Haus­wand gepinselt, fiel Bacher ein. Er wunderte sich darüber – und wollte nun wirklich von diesen hochfliegenden Gedanken lassen. 

 

In der Kantine begegnete er zu Mittag Sonnenschein, die zufällig gekommen war, um ein paar Happen zu sich zu nehmen. Die Überraschung hatte Bacher schier die Sprache verschlagen. In dieser

Verlegenheit griff er auf, was er vorhin sein lassen wollte. Er skizzierte Sonnenschein die bloße Geschichte um die alte Frau, ohne tiefer in das einzusteigen, was ihn eigentlich umtrieb. Sonnenschein revanchierte sich mit der Erzählung von einem Mann, der Schafe gehalten habe – bis ihn ein schwe­res Rückenleiden heimsuchte. Er habe die Schafe schweren Herzens weggegeben und sich fortan der Taubenzucht gewidmet, des den Rücken entlastenden Blickes nach oben wegen.

 

 

Tage vergingen. Am 16. März hatte Cassian Bacher wieder so ein – wenigstens in eigener Einschätzung – bemerkenswertes Nachterlebnis: Ihn fröstelte. Bald schritt er, immer noch von diesem unangenehmen Gefühl begleitet, einen Feldweg entlang. Rechts stand üppiger Klee. Von Weitem sah er, dass ihn der Weg vom Ende dieses Flurstücks an rechtwinklig weiterführen würde. Er war damit zufrieden. Die Strecke jedoch nicht ausgehend, wählte er gleichsam eine Hypotenuse, um ein wenig abzukürzen. Er stapfte durch den hohen Klee. Der morgendliche Tau haftete noch an den Pflanzen, so dass Bacher es an den Beinen feucht werden fühlte. Während er noch zweifelte, ob er darüber erst nur erstaunt oder doch gleich verärgert sein sollte, vernahm er hinter sich etwas. Stimmen? Es tönte gar nicht, war aber eigenartig deutlich. Es war nur einfach in ihm. Es hatte den Charakter eines gleichsam vielsagenden Gefühls. Ihm ging gleich auf, dass es die Sprache des Gewissens war. Eine sogar mehrschichtige Rüge! Ja so war es, ein Gefährte des kindlich erinnerten Schutzengels ist ja das Gewissen, fiel ihm ein. Da Bacher annehmen konnte, dass die beiden, Engel und Gewissen, hinter ihm waren, fühlte er den Tadel im Nacken: dass es nicht in Ordnung sei, was er da unternommen habe. Dass er die Pflanzen niedertrampelte, wurde ihm in den Kopf gesetzt. Von diesem geflügeltem Hemdträger, wie er ihm eben seit Kindertagen bisweilen gegenwärtig war, und seinem gestaltlosem, aber gleichwohl durchweg schlecht aufgelegtem Begleiter, dem Gewissen. Ohne sich umzusehen, trotzte Bacher in sich hinein, dass das Grünleben nicht tot sei, wenngleich es unter seinem Tritt auch zu Boden gedrückt werde. Dass es sich nach seinem Passieren gewiss wieder erhebe. Alle müssten eben an die schier unerschöpfliche Kraft der Natur glauben, ergänzte er sich noch.

Die ohnedies zwar kaum voneinander zu unterscheidenden, allerdings sich nicht ganz im Gleichklang artikulierenden inneren Stimmen sanken zum bloßen Befinden herab. Das fühlte sich mit der Ge-

wöh­nung daran endlich kaum mehr unangenehm an, sondern war nur schlicht da. Auch das war Bacher altbekannt. 

Am Ende schwang es sich hinter ihm doch wieder auf, sich mit dem Nass am Beinwerk vereinigend. Es schrumpfte zu einem dann allerdings wenig spürbarem, geschweige denn beeinträchtigendem Unbehagen. 

 

Bacher sehnte sich jetzt richtiggehend nach Wärme. Er erwachte und tastete nach der Bettdecke. Da bemerkte er, dass diese ihm aus dem Bett und auf den Boden gerutscht war. Aha, dachte er und witzelte sich: Die Decke war weg und ein gewisser Sigmund F. war da. Mit seiner Vorstellung vom Über-Ich, womit S. F. einen ja unbestritten bisweilen bedrängt. S. F. hatte mich also nackt und unbedeckt auf seine bekannte Couch gelegt, freute sich Bacher. Er verkroch sich unter dem Plumeau, um sich wieder etwas aufzuwärmen. Lebtest du nicht so schrecklich singelig, fantasierte er ... Da tauchte ihm Sonnenscheins Bild auf. Das förderte seine Erwärmung. Er schlief noch für kurze Zeit ein.

 

 

Weit weg und doch so nah. Cassian Bacher war anscheinend in der Nacht vom 17. März im fernen China: 

Er hatte eine gute Reise gehabt. Historische Stätten waren zu sehen gewesen. Dabei beschlich ihn das Gefühl, das alles bereits gesehen und sogar kennen­gelernt zu haben. Dagegen kamen natürlich Zweifel auf.

Es erleichterte ihn dagegen ungemein, sich auf seine Mutmaßung darüber einzulassen. Es leuchtete ihm ein, dass es gerade in diesen fernöstlichen Gegenden der Erde durchaus seine Bewandtnis damit haben könnte, ein Wiedergeborener zu sein. Er ge­noss schließlich, was sich alles von da an in seiner als Erinnerung Auftretende auszubreiten begann. Eine wunderbare, die Sinne verwirrende Verschleierung war dem zu eigen. Dass das so sein müsse, leuchtete ihm sofort ein, damit alles mit den weiteren, sprich folgenden Leben reibungslos und also unbefrachtet funktioniere. Denn welch eine Last wäre es, auch noch mit dem ganzen Ballast aller vorangegangenen Leben existieren zu müssen?  Ein Bild seiner Reise war jedoch deutlicher als all die anderen, die sein Denken an die Fahrt begleiteten: Wie ein seidenumhüllter Mandarin sich fühlend, lustwandelte er vorüber an fleißig (natürlich gebeugt) arbeitenden, breitkrempig behüteten Feld­sklaven im Reissumpf. Er versäumte keinesfalls, in wohlwollender Geste nach links und rechts zu grüßen. Nach einiger Zeit (und mit bereits grußmüdem Arm) gelangte er an einen sanften Abhang, der zu einem Hügel zu rechnen war. Dieser schien durch Menschenhand aufgeschüttet worden zu sein. Wofür er allerdings über keine anderen Indizien verfügen konnte, als seinem bloßem und noch dazu eher flüchtigem Eindruck. Wie er diese Erhebung fast umkreist hatte, bemerkte er eine Gestalt am Boden zu Füßen des kleinen Berges liegen. Er blieb stehen und überlegte, ob er sich zu erkennen geben oder sich doch eher diskret zurückziehen solle. Er konnte keine Regung dieser Figur da vor sich ausmachen. So stellte er aus seinen eben angeführten Über­legungen heraus Betrachtungen an: Das prächtige Seidengewand, welches die Erscheinung umhüllte, strahlte so etwas wie eine finale, jedenfalls nicht wieder zu kreierende Erhabenheit aus. Er riss sich von diesem Einfall los und ließ seine Gedanken über die freien Körperstellen der Figur gleiten. Er erblickte die landesübliche gelbliche Haut von Antlitz und Händen, den Körperteilen eben, die schicklicherweise nur entblößt waren. Seine Versenkung stockte. Erschrocken trat er der Per­son

näher, stellte sich vor: "Pu Tung", dachte Bacher nur. Er entschuldigte sich für sein Eindringen in ihre Aura und nahm ihre Hand: weich, beweglich – kalt. Pu Tung stand vor Schrecken wie versteinert da: Dieses Gefühl – und seine eigene Namensgebung, die ihm in seine Starre blitzte: Pu Tung! Beim nächsten Atemzug (der sehr dringlich war, denn Bacher hatte es in seiner Schockstarre ziemlich lange unterlassen, Luft zu holen) befand sich Pu Tung in den Gespinsten dieser Mumie, deren Hand er immer noch hielt. Pu Tung wollte spüren: "Sie haben mir die Eingeweide gelassen. Sie waren somit geschickter, als die Ägypter es mit den Ihren taten. Sie haben mich in meine besten Gewänder gehüllt und mit den vorzüglichsten Ingredienzien umgeben. So gut, dass meine Hülle sich erhalte und ich, derart ausgestattet, mein gutes – und wohlgemerkt das Leben eines göttlich Auserkorenen – im Jenseits weiterzuführen imstande sei. Doch sie haben vergessen, mir Speise und Trank mitzugeben und eine der Gepflogenheit entsprechende tönerne Diener- und Kriegerschar. So muss ich Unglücklicher mich damit begnügen, wenigstens gelegentlich, mich aus meiner Behütung zu begeben und mich im hellen Lichte liegend zu präsentieren. Selbst wenn so ein Wandler wie Ihr da vorbeikommt. In der Hoffnung, dass mir die gute Son­ne

die Nahrung ersetze."

Pu Tung wusste nichts zu entgegnen, obgleich er den im Nu Vertrauten wohl gerne getröstet hätte. Es blitzte Pu Tung noch auf (da war seine Reise allerdings fast vorüber), dass gewiss kein Lebewesen vollständig vergehe. Dass es doch das Vorrecht des Menschen sei, sich mit der Wahl seiner Religion die Zukunft zu bestimmen, ob Wiedergeburt oder sofortige Jenseitigkeit ... 

 

Durch den grellen Weckton ganz erwacht, wollte Bacher der Eindruck eine ganze Weile nicht verlassen, über eine zwar zunächst unerklärliche, immerhin fühlbare Fülle zu verfügen. Das befriedigte ihn. Dann war dieser alte Spruch plötzlich da: Dass Bil­dung ist, was bleibt, wenn alles verloren scheint, wodurch sie entstand. Denn nichts geht eigentlich verloren – da ist es aus der Nacht wieder! – war ja in der Schule zu lernen gewesen. Es nimmt nur im­mer andere Gestalt an.

Da war es Tag. Cassian Bacher sah den Kreis, der sein von ihm Gemutmaßtes umgab, als geschlossen an.

 

 

Es war einige Tage später, die beiden hatten sich einen schönen Tag gemacht. Als der zur Neige ging, saßen sie noch beim Kaffee. Sie plauderten über dieses und jenes. "Mir träumte heute ...", begann Bacher nach einer Zeit fast ein wenig genierlich und daher etwas gespreizt. "Weißt du, ich war über die Klarheit der Bilder so überrascht, dass ich mir die Ereignisse heute ein paar Mal selber erzählt habe. Also: Eine Sonne war da, sage ich dir!" "Ach ja, Sonne", stimmte sie ein, "Sonne ist immer gut. Ich hoffe, du findest es auch gut, dass ich hier bin, weil du mich ja ..."

Ihr kopfnickend zulächelnd, fuhr er fort: "Eine Son­ne, die jeden Winkel des Landstrichs erfasste. Amerika, das mir häufig so der Sammelbegriff für etliches ist, was es hier bei uns nicht oder vermeintlich zu wenig gibt!"

"Es ist richtig", pflichtete sie bei. "Man müsste ei­gentlich auswandern!", lachte sie, "wenigstens für einige Jahre."

"Dieses allgegenwärtige heiße, trockene Weißgelb", war Bacher wieder bei seinem Bericht, "dieser sich scheinbar ewig dahinziehenden Mittage.

Eine Sandebene, da und dort Ruinen von Erhebungen, Skelette von Bäumen. Alles schien versengt, weggeschwelt, irgendwie geschmolzen. – Die Schat­tenseite dieser ungeheuren Sonnenwelt! 

Da hindurch!

Dann brach diese Landschaft doch plötzlich ab. Ein verschlissen grünes Grasland erschien – verstehst du? Eine Prärie, die sich sofort als eine unendliche Decke über einer sanft gewellten Ebene zeigte. Diese Decke also, die doch jäh in einen unerhört tiefen Spalt stürzte.

Ich stand am Rand des Abbruchs und blickte hinter mich, sah einen leisen Lufthauch das weite Braungrün bewegen. Da verwandelte sich mein Bild. Grünes Gewässer entstand. Ein See, der sich da ausbreitete. Der sich, von unsichtbaren Kräften bewegt, an Klippen und Riffen unter seiner Oberfläche erst kräuselte und dann zu Wellen aufwarf." Mit seinen Händen zeichnete Bacher den Rhythmus der geschilderten Landschaft nach. "Warten auf etwas, das angeschwemmt werden würde. Warten auf einen Gegenstand, ein irgendwo Losgelöstes, das hier wieder einen wenigstens bildlichen Zu­sammenhang gewänne ..." Bacher hatte sich wohl verausgabt und legte eine Pause ein. Sonnenschein sah ihn lächelnd an und wartete auf eine Fortsetzung der Story.

"Ich weiß überhaupt nicht, ob ich meine Geschichte richtig begonnen habe", fuhr er fort. "Ich glaube, nicht an der richtigen Stelle angesetzt und ein später fälliges Bild fälschlicherweise als das erste genommen zu haben. Ein Bild, das sich symbolhaft hervorhob: die wechselvolle Wildnis, gewissermaßen als Lebensprinzip."

Ein lang gezogenes "Oh" stöhnte seine Zuhörerin nur.

"Ich weiß, die Sache da mit der Wildnis des Lebens ...", entschuldigte sich Bacher und fuhr fort: "Jetzt erinnere ich, dass mein Traum anders begonnen hatte: Morgen war Weihnachten. Mein Traumschiff war allem Anschein nach über dem Großen Teich und hatte angedockt. Wie Strandgut kam ich mir vor. Ich wäre wohl kaum verwundert gewesen, wenn irgendwo jemand gelauert hätte, um sich mich als ein herrenloses Gut zum Geschenk zu machen ..."

Sonnenschein sah ihn etwas ratlos an, aber Bacher wollte jetzt gar nicht weitererzählen: "Ach weißt du", sagte er, "ich habe das ja aufgeschrieben ..." "Ja, so hat es sich beinahe angehört!", fiel sie ihm ins Wort.

Er fuhr schmunzelnd fort: "Weil es Zeit ist und du ja leider wegmusst, gebe ich dir mein papierenes Amerika einfach mit!" Er ging, um seine Niederschrift zu holen.

"Ja so was!", wunderte sich Sonnenschein und nahm die Blätter. Zuhause würde sie sich dann die Fortsetzung irgendwann vornehmen, meinte sie – wozu sie jedoch schon in der Tram von ihrer Neugierde getrieben wurde: "Als dies dann doch nicht geschah, ..." Sie blätterte zurück und fand das mit dem Strandgut, als das Cassian sich gefühlt hatte. "Als dies dann doch nicht geschah, kam ich auf die Idee, das weite Land unter die Füße zu nehmen, es zu durchmessen, um vielleicht irgendwo und irgendwann von ihm erfasst, aufgesogen, verschlungen zu werden."

Sich verschlingen lassen?, wunderte sich Sonnenschein. Na ja, die Träume treiben eben so ihr Wesen!, und sie nahm sich Bachers Text wieder vor: "Alles in Bewegung. Und Weihnachten, dieser In­begriff, würde auch wieder schnell vorbei sein. Ich wollte es mir einfach gemacht und mir im nächsten Drugstore ein Videoclip reingezogen haben: Eine ergreifende Melodie, von einem alternden Star vorgebracht. Schunkelbewegung. Weihnachten hier erinnert viele Menschen an unser altes Europa. Sie haben keine Scheu, alles zu vermischen in ihrem Schmelztiegel auch der Kulturen. Im Hintergrund würde eine Gruppe erwachsener und vor allem kindlicher Personen in knöchellangen Gewändern irgendwie rührend kantig mit dem Oberkörper hin und her wackeln. Im Takt des Christmassongs.

Bettfedern-große Talmiflocken. Schließlich eine

Ko­horte Nussknacker-Soldaten im Marschtritt des Weihnachtshymnus'. Ich würde, Chips kauend, tief gerührt sein.

Später zöge ich mir noch eine Coca am Automaten. Dann weiter. Nicht an Festpunkten der Zeit angemacht!, ging mir durch den Sinn. 

Überall Properness. Jetzt war ich mir so richtig sicher, dass ich in den Staaten war! In den viel, vor allem von sich selbst gerühmten Staaten.  Eine zwar geschäftige, doch offene, ehrliche und nicht nur gespielte Freundlichkeit umfing mich im nächsten Shop. Dagegen diese unerwartete Förmlichkeit dort: Barfüßige Leute, Leute mit nacktem Oberkörper wurden nicht bedient.

Der Amerikaner, fühlte ich jemand nörgeln, sei so kleinkariert wie seine Brüder und Schwestern dieses Musters überall auf der Welt. Doch das verliefe sich in der Geografie des weiten Landes oder der Anonymität der Städte. Es könne jeder einigermaßen sicher und sich frei fühlen, wurde von irgendwem hinzugefügt. Die Hellhäutigkeit als Pass, zur Menschheit zu gehören, immer noch, wenn auch weit schamhafter als noch vor Jahren. Die Bilder überstürzten sich. Der, nach eigenem Bekunden, ehemalige philippinische Regierungsbeamte, der mein Taxi steuerte, lobte: 'America is a Country for everybody!'

Die Erinnerung führte mich wieder hinaus. Über den Highway. Und der Highway entpuppte sich bald als der beste Schutz der Natur vor ihren Bewunderern. Da ihn keiner verlässt. Die Natur, Sonnenschein, diese herrlichen Landschaften, denen wir erst wieder nach dem Tode begegnen werden! Das hatte mir nicht geträumt, muss ich zugeben, sondern war mir als Ausspruch eines Musikers begegnet. Farben habe ich dennoch in Erinnerung, die ausdrucksstarke Tonfolgen erweckten. Mystische Ausprägung der landschaftlichen Gebilde. Hier irgendwo wurde es Joseph Smith visionär zumute. Er empfing daraufhin das Buch Mormon aus seinem heiligen Jenseits ...

Dann an einer Grenze in dieser Gegend, die sich bei näherem Hinsehen wieder als ein einziger Highway entpuppte. Jenseits der Sandöde das Wagnis der Natur eines Grüns, das ihr nur schütter gelingen wollte. 

Weiter, weiter – wie neulich dir gegenüber in Worten bereits dargestellt, Sonnenschein." Sie blickte erstaunt auf und murmelte vor sich hin: "Sieh an, der liebe Cassian hatte beim Aufschreiben gleich daran gedacht, mir das Konvolut in die Hand zu drücken!" Dann fuhr sie mit ihrer Lektüre fort: "Es ging hin zu einem Abbruch, einem tiefen Spalt. Es tat sich eine langgezogene Falte in der bewachsenen Haut der Landschaft auf. Eine plötzlich und unerwartet sich auftuende Verborgenheit, wie um in den Körper der Welt einzudringen.                  Ein unbeschreibliches Erstaunen über die Begegnung mit der ins schier Endlose ausgedehnten Urvorstellung von Öffnung.

Beim Blick hinab habe ich gigantische Sedimentplatten ausgemacht. Ganz da hinunter, wo die Blicke bereits ruhten! In diesen Aufbruch der Fantasie.

Diesen Schoß der Erde ..."

Sonnenschein steckte das Papier nachdenklich in ihre Tasche. "Na", murmelte sie dabei, "es ist ein Traum gewesen. Dieser hat jedes Recht, sich über gewisse Grenzen hinwegzusetzen. – Ein Schelm,

der Übles dabei denkt, heißt es ja."

 

 

Auch am 19. März bildete sich Bacher ein, die Gute vom Flohmarkt, deren Aussage ihn immer wieder beschäftigte, da sitzen zu sehen hinter ihrem ausgebreiteten Krimskrams. 

Ein Tagtraum?

Eine Karriere als Sekretärin habe sie hinter sich ge­habt, erinnerte sich Bacher, damals noch mitbekommen zu haben. Jetzt veräußernd, was sie so im Leben als notwendig oder nur als begehrenswert zusammengetragen hatte. Was sie jetzt dagegen als etwas für sie Überflüssiges betrachtete. Den Erlös plante sie, guten Zwecken zuzuführen. Eine Spende wollte sie der Heilsarmee zukommen lassen. Bei der sie sich als Entgelt für ihre gute Tat dann eine warme Suppe geben lassen wollte. Allerdings das nur deswegen, weil sie ja den ganzen Tag dagesessen war mit ihren Sachen und keine Zeit gehabt hat­te, sich selber ein Essen zu bereiten. Es war dann tatsächlich zu sehen gewesen, wie sie etwas aus einem Blechnapf löffelte, frischten sich Bacher die Fernsehbilder auf.

 

20. März und Cassian Bacher war wieder auf Reisen gewesen. Kaninchenjagd war angesagt. Es musste sich in Australien ereignet haben. Gewiss, die Massenpopulation von diesen Tierchen dort. Es hieß, das Viehzeug sei von den Westmenschen ein­geschleppt worden. Keine natürlichen Feinde gebe es dort für diese Lebewesen. Daher müsse der Mensch regulierend eingreifen. Auch Bacher hatte sich sofort diese waidherrliche Rechtfertigung der Jäger zu eigen gemacht. 

Trat jemand einmal fester auf, wuselte es aus tausend Löchern. Also durchgeladen, die Flinte angelegt. In der gierigen Absicht, gleich zwei Exemplare mit einem Schuss zu erlegen. 

Keines getroffen. 

Die Schelte dann von irgendwoher. Ach ja, Bacher befand sich doch in einer Jagdgesellschaft. Wir sind das im Grunde überall im Leben – kam ihm aber im Moment viel zu weit ausgeholt vor. Er verteidigte sich zunächst nur mit der Nennung seiner Doppelungsabsicht. Bacher traf trotzdem Verachtung. 

Er wollte wenigstens versuchen, diesen Gefühlswulst zu übergehen. 

Ein Schimpfen allmählich von überallher. 

Da wandte er sich ab und dachte an Heimfahrt.  Er saß gleich am Lenker. Eine Person, wohl eine ver­traute, hatte hinter ihm Platz genommen. Ein Frem­der, der Kleidung nach ein Jäger, stieg dreist zu, und zwar so, als hätte er ein Recht darauf, mitgenommen zu werden. Kaum hatte der den Schlag zugemacht, maßte der sich an, den Fahrbefehl zu erteilen: "Los jetzt!" Bacher beanstandete das unverschämte Verhalten, wie der Fremde dazu komme ... 

Er erhielt eine unverständliche Antwort hingebellt.  Allein der kläffende Ton empörte Bacher. Dennoch fuhr er an. Es war allemal frech, was ihm da widerfahren war, verfolgte ihn. Seinem Ärger floss aus diesem Belfern noch eine ganze Weile lang sozusagen negative Energie zu. Diese ließ er über das Gaspedal abfließen, dass es von hinten hervor ab und zu ängstlich kreischte. 

Bacher schien sich jedoch nach einiger Zeit der

Empörung etwas entledigen zu können. Da war alles vor ihm und um ihn eine ganze Weile grau und verschwommen. 

Erleichterung.

Darauf fand er sich endgültig mit seinen Umständen ab. Er suchte sogar nach so etwas ... – er wusste jedoch zunächst nicht, wo er da herumgestochert hatte. Ob es so ein Gemenge von vagen Ausreden oder kernigen Rechtfertigungen ... 

Es ging ihm plötzlich ganz hell auf: In seinem zunächst und eben mit dem gewöhnlichen Auge als verfehlt anzusehendem Schuss sei gar so etwas wie eine innere, ihm selber und den Anderen nicht ohne weiteres zugängliche Begründung zu finden. Cassian Bacher wurde der Begriff von einer geheimen Führung geschenkt. Er überhöhte das umgehend zu einer mysteriösen Fügung. Die Gewissheit, die sich sofort einstellte, ließ es zu, sich sozusagen zu outen. Er fühlte sich vortragen – wem auch immer: Von Geisterhand geführt wäre sein Schuss gewesen und damit kein Daneben, sondern im Gegenteil, er sei ins Ziel gelangt. Ins Zentrum dieser geheimen Bestimmung. 

Er fühlte sich gut und geradezu mitten in einem Mysterium – wenn auch noch nicht ganz eingeweiht, so doch bereits als dessen Medium in Aktion. 

Er fühlte sich sogar bald erkoren. 

Er holte seinen Zuhörern, die er sich leicht als vorhanden denken konnte, gegenüber aus: Es sei überhaupt nicht auszuschließen, dass dieses vorhandene Viehzeug nichts weniger als in der Wiedergeburt verwandelte Ureinwohnerschaft sei. Er nahm sofort, im Nu selbst überzeugt, sozusagen den Klang der eigenen Worte noch im Ohr, den gewiss herben Ausdruck Viehzeug zurück. Er sprach jetzt von Le­bewesen, erhob diese sogar respektvoll zu Geschöpfen. 

Bacher hörte keinen Laut aus seinem Auditorium und schloss auf andächtige Stille der Anderen, deren Anwesenheit er sich immer noch zubilligte. So untermauerte er seine Aussage mit der Feststellung, dass die Aborigines Zugang zu geheimen, jedenfalls uns verflachten West- und Wohlstandsmenschen nicht bekannten Praktiken der gesegneten, geisterfüllten, ja geheiligten Daseinsbewältigung besäßen.

 

Für den Abend danach hatte er zwar beschlossen, sein Erlebnis wie immer niederzuschreiben. Er ließ es heute jedoch sein oder wollte es aufschieben, um es noch eine Zeit in der Erinnerung sein Wesen treiben zu lassen. Es wird dann vielleicht allmählich so, wie es ja den Märchen geschah: Weitergedacht und mündlich weitergegeben, haben sie sich im Laufe der Zeit, ihren Kern bewahrend, stets ein wenig in die Gegenwart gesetzt. Erst als sie niedergeschrieben wurden ...

 

 

Zwei Nächte später, es war Fastenzeit bei den Katholiken, vernahm Bacher im Schlaf so etwas wie gregorianischen Gesang. Er vermutete Mönche, irgendwo. Ihre brüchigen Weisen kamen ihm jedenfalls von weit her. Dann erschienen die Gestalten zum Gesang. Sie zogen in einer Reihe dahin, vier, fünf schwankende, gerade noch als Figuren auszumachende Gebilde am Horizont. Die Kopfpartie, zum Teil von Kapuzen verhüllt, war nur ein wenig zu erkennen. Jedoch war letztlich alles grau verschleiert. Eine fahle Weite mit diesen schwarzen Strichen darin. Gerade so wie ein bewegtes Vanitasbild, nach dem Barocken, dass alles eitel, eigentlich vergänglich sei. Ein solches nun hier mit dem hinreichend bekannten Grauschleier über der ganzen Komposition. Doch dieses Bild, das Bacher wahrnahm, war ganz ohne Rahmen. Unbegrenzt, erweckte es den Eindruck, in die Ewigkeit hinüberfließend oder umgekehrt, aus der Ewigkeit hervorkommend, gnädig und zur Erbauung dem Auge gewährt ...

Bacher fand sich prompt an einem Teich sitzend. Er dachte darüber nach, ob dieser in sozusagen grauer Vorzeit künstlich angelegt worden war. Gewiss, diese Sorge seit jeher in ihren Klöstern, nichts Warmblütiges in diesen Fastenwochen zu sich neh­men zu dürfen. Dann eben zu ihrem Bier etliches Kaltblütige, wie berichtet wird. Dieses alte braune Wasser hier mit den Fladen von Algen darauf. Bacher machte sich keinen Kopf deswegen, weshalb davon eine Anziehungskraft ausging und es ihn zum Baden allmählich geradezu nötigte. Er entkleidete sich ganz und stürzte sich ins trübe Nass.

Mit den Füßen die Untiefe auslotend, fühlte er schlammige Weiche – die ihn sofort in ihre Tiefen zu saugen begann. Mit einer heftigen Schwimmbewegung gelang es ihm, sich zu befreien. Er atmete tief durch. 

Ans Ufer schwimmend, bemerkte er dort ein Mädchen stehen. Überrascht richtete sich sein Blick auf diese Erscheinung. War es Sonnenschein?  Er hatte sich des Anstandes wegen gleich Gedanken zu machen, wie er diesem vielleicht fremdem oder gar doch bekanntem Wesen denn mit seiner Blöße begegnen sollte. 

Ganz deutlich zu erkennen, gab ihm das Mädchen gleich in sein Nachdenken hinein zu verstehen, dass es ihn überhaupt nicht herzlich begehren könne. 

Er, ungemein enttäuscht deswegen, mutmaßte sofort, dass er dem Mädchen womöglich vorgeschlagen habe, ihn zu lieben. Denn wie käme es dazu, etwas so Bedeutendes einfach so und eigentlich ohne weitere Ursache zu verneinen. 

Das Mädchen fuhr fort mit seiner Erklärung, indem es die Begründung für seine sonderbare – vielleicht eher vorsorgliche Weigerung nachsetzte: Es habe seine Wäsche gewaschen und kenne all seine Geheimnisse. Dass ihm, dem Mädchen, deshalb eine echte, das heißt, reine Liebe nicht möglich sei.  Bacher schlug die Augen auf und blickte auf das Laken. Eine große helle Fläche weitete sich vor ihm aus. 

Reinheit, dachte er, ein irgendwie vielseitig verwendbares Stichwort. Dass sich der Zustand der Seele, der die Vokabel Reinheit eigentlich vorbehalten sei, in Textilien spiegeln könne. Das empfand er als seinen Tageswitz ...

 

 

Am 25. März erinnerte Bacher noch ganz früh am Morgen und eigentlich im Dämmer des Halbschlafs diese nächtliche Szene mit dem Beinkleid: Es war schwarz, aus leichtem Wolltuch und von rauer Ober­fläche mit dezent kaum wahrnehmbaren Nadelstreifen. Die Beinröhren verjüngten sich nach unten fast unmerklich. Das Ganze war im Rumpfbereich von bequemer, von einer das modebewusste Auge nicht beleidigenden Weite. Es erweckte in Bacher den Eindruck, es eile der Mode sogar voraus, und zwar sogar in einer Weise, dass es von ihr im Grunde nie einzuholen wäre. Es präsentierte sich vor allem als Wohnhose.

Dieses Prachtstück – es hatte sich Bacher, seiner Modernität wegen, sozusagen selber sofort als Tool vorgestellt – war in die Reinigung gelangt. Dann fand Bacher es wieder in seinen Händen: Unbegründbarer Weise war es brutal gekürzt, amputiert, zerstückelt worden. Vor Bachers Auge stellte sich das Bild ein, dass dieses Bündel beim Öffnen in Teile zerfiele. Die entfernten, seinem traumhaften Lieblingsstück geraubten Reste flatterten von einer geheimen Kraft getragen im Raum umher. Bevor sie zu Boden sanken.

In diesem halbschlaflichen Nebel, in dem sich Bacher befand, wollte sich zu dem sofort vorhandenen Zorn über diese Zumutung auch noch Trauer um den Verlust bei ihm breitmachen. Es handelte sich bestimmt um eine Ungeheuerlichkeit. Hingegen nicht etwa um die Tötung von etwas Lebendigem, dem dieses Hochgefühl des Verlustes, die Trauer, durchaus vorbehalten bleiben sollte.  In den Schlaf­wandel seines Kopfes schwappte es dann allerdings. Ob es nicht doch möglich sei, dass ein Kleidungsstück, das ja Leben umhüllt, nicht sogar ein wenig von dem zu Schützendem übertragen bekomme? Nicht etwa nur Ausdünstung als Absonderungen desselben! Sondern dass es auch so etwas wie einen Funken Gefühlswelt – freilich auf sehr bescheidene textile Weise, eben auf unterster Ebene – empfangen könnte. 

 

Bacher schleppte, noch ziemlich in dieser anderen Wirklichkeit befindlich, den eigenartigen Gefühlscocktail mit zur morgendlichen Entleerung. Als sein verschleierter Blick auf sein gutes Stück fiel, wollte er erschreckt entdecken, dass diesem bedeutenden Körperteil vorne etwas fehlte. Den Vergleich mit seiner Hose, gar geheime, im Verborgenem wirkende Kräfte zu vermuten, wollte er jedoch keinesfalls anstellen. 

Er war mit beiden Beinen wieder im Morgen angekommen, so hatte sein Schock ihn wachgerüttelt. 

 

 

Als die Frösche wieder huckepack waren, hatte Bacher in seiner Traumzeit am 6. April eine Begegnung der folgenden Art:

Drei junge Männer standen beisammen. Hellbraune, glänzende Lederjacken. Als er auf sie zuging, behauptete einer von ihnen, Bacher habe die dumme Angewohnheit, Mädchen zu vergewaltigen. Die anderen stimmten in die Anschuldigung umgehend ein. Natürlich wehrte sich Bacher gegen dieses Mob­bing, erklärte entsetzt, dass er es stets mit Anstand und Sitte hielte, wo immer es erforderlich sei. Doch die drei Männer ließen von ihrer Hetze nicht ab – und schienen sich obendrein über seine sich ständig steigernde Erregung zu amüsieren. Er erhitzte sich erheblich zu dem bereits vorhandenen Ärger nun auch über ihren niederträchtigen Frohsinn.

Nach einem abrupten Wechsel der Bilder fand sich Bacher in einem kühlen Nass wieder. Vermutlich wollte er schwimmend den Tegernsee durchqueren – jedenfalls wies der Blick auf die ehemalige Klosteranlage darauf hin. Dabei bewegte sich Bacher eine Weile im Schmetterlingsstil fort. Gleich tauchten neben ihm im Wasser zwei Gestalten auf, eine Person ihm zur Linken, die andere rechts. Auch sie "schmetterten" (wie er es gerne nannte, wenn er beim Schwimmen im Rhythmus mit der Beinarbeit beide Arme gleichzeitig aus dem Wasser hob, um sich dann mit aller Kraft voranzubringen). Diese Mädchen – als welche er sie bald erkannte – forderten ihn heraus. Sie wollten anscheinend mit ihm ein Wettschwimmen aufnehmen. Er nahm die Konkurrenz an und kam immer ein paar Züge vor die beiden. Sie holten gleich wieder auf. Sie schienen es zu genießen, Bacher so herausfordern zu können. Er hörte ihr Lachen. Das sie anscheinend sogar, aufs Atmen verzichtend, während des Eintauchens ihres Kopfes mit unter Wasser nahmen. Wie ihm sofort klar wurde, bewegten sich die beiden bereits im Delfinstil. Bei dem die beiden Frauen die Beine zusammengepresst hielten und ihren Körper schlän­gelnd im Medium bewegten. Richtige Schlangen, dachte Bacher, diese Weiber. Er hingegen hatte noch die Froschfigur, bei der er seine Beine anzog und gespreizt wieder streckte. Er dachte gleich an die Frösche, die zurzeit huckepack waren.

Das erregte ihn. Da hatte er prompt wieder die Anschuldigung der drei Kerle im Kopf. Da diese nicht mehr zugegen waren, wollte er riskieren, die zunächst durch und durch ungerechtfertigte Anschuldigung tatsächlich in die Tat umzusetzen. Als er sich dazu anschickte, waren jedoch die beiden Mädchen nicht mehr in Reichweite. 

 

Dass Bacher beim morgendlichem Rasiergeschäft in Erinnerung dieser nächtlichen Episode so etwas wie ein Schamgefühl überkam, belächelte er zwar. Er konnte sich dessen aber nicht sofort ganz entledigen. Er trug es mit sich herum und entfernte sich erst davon, als er in einer sozusagen moralischen Sackgasse steckte. In dieser wollte er erkennen, dass doch hinter den Kulissen der immer zur Schau gestellten Wohlanständigkeit so manches Anrüchige stecke. Was zu benennen sich ihm aus Gründen des Selbstschutzes dann verweigern sollte.

 

 

Am 10. April war so eine "sie" heute Nacht wieder da gewesen. Sie, dieses im Grund nicht so recht zu fassende Wesen anderen Geschlechts.  Sie war Cassian Bacher wiederholt schier greifbar nah begegnet und bisher stets aus einer Gruppe von Menschen hervorgetreten. Sie gesellte sich ihm immer bei, nur einfach so, ohne besonderen Anlass, auch ohne Vorwand – und war ihm aber immer sofort herzlich willkommen. Die beiden waren sich stets gleich einig, ein Stück Wegs, eine auf jeden Fall ungewisse Zeit lang einfach miteinander sein zu wollen. Sie war ihm mittelgroß, von nicht eben graziler Statur, doch nicht von üppiger Figur. Langes Haar trug sie, das etwa im mittleren Farbbereich, dunkelblond, brünett einzuordnen war.  So was wie es neuerdings Fuckbody genannt wird?

Denn die beiden gelangten auf ihrem gemeinsamen

Weg stets in einer Wohnung an. Besser, in einem

Bett, einer Bettstatt, einer Bettenlandschaft. Die Räumlichkeit erschloss sich nicht anders als eben nur als ein weites Liebesfeld. Und sie langten immer aneinander an, bewegt tändelnd, still umfangend, ineinanderfließend ... ihre Sinne erschlossen sich ihnen in all diesen bereits seligen Augenblicken ...

Diese Sekunden waren, wie sich jemand vielleicht die Ewigkeit vorstellen sollte. Natürlich nur, wenn er überzeugt wäre, dass der Mensch darin irgendwie angesiedelt werde, war Bacher im Nachhinein überzeugt. 

Allerdings war es nicht ihr Äußeres, das sie Bacher immer sofort sympathisch erscheinen ließ. Es war ganz einfach diese Weiblichkeit – das "ewig Weibliche", wie es einst ein großer Meister so ungewiss und darum als so ein unergründliches Vielerlei verkündigend formuliert hatte. Welches eben gerade durch kalkulierendes, reflektierendes Bemühen um einen Aufschluss seiner Art beraubt werde. So dass es dadurch ins unnatürliche starre Gegenteil dessen gedrängt werde, was es ursprünglich ausmachte: des Zarten, Weichen, Warmen – Anziehenden und Umfangenden. 

 

Natürlich war Cassian Bachers Besucherin immer entschwunden, wenn er die Augen auftat. Sie warte jedoch bestimmt auf die nächste Begegnung mit ihm, war er bereitwillig überzeugt. Denn er bildete sich ein, ein guter, wenigstens ein guter magischer Liebhaber zu sein ...

 

Das alles ging Bacher jetzt beim Frühstück, nachdem diese Fee ihm zugegen gewesen war, wieder durch den Sinn. Er war sich gewiss, dass das alles auch irgendwie mit Sonnenschein zu tun habe. Er überlegte, ob er sich nicht doch über seine Beziehung zu ihr etwas mehr ins Klare kommen sollte. Diesen Gedankengang offenzulassen, wünschte er sich jedoch gleich wieder. Offenlassen, wie es diesen nächtlichen Bildern entspricht, die ohne Begrenzung, ohne Rahmen, sind – und bleiben müssten. Die ein Anrecht darauf haben, um in ihrem weiten nächtlichen Auftritt Raum zu finden. Obendrein besaß dieser Schwebezustand seinen Reiz. Insbesondere deswegen, weil Bacher ja auf diese Weise sozusagen eine Art wilde Polygamie mindestens geistig pflegen konnte. Eine stille Verruchtheit also.

 

 

Nachts darauf saß Frau G., eine alte Bekannte von Cassian Bacher, ganz nah bei ihm, während er an ihr zu tun hatte. Bacher hatte sie zu rasieren.   Er erinnerte sich allerdings nicht mehr genau, an welchen Stellen er an ihr zuerst werken sollte. Denn sie neigte zu starker Behaarung und hatte dies an den Beinen zum Beispiel durch dunkleres und in der Masche dichteres Strumpfwerk zu verbergen getrachtet. Allerdings war Bacher gehalten, an der Vermutung einer Totalrasur zu zweifeln. Diese Dame hatte für ihn überhaupt nichts Anziehendes an sich. Infolgedessen hatte er nie auch nur den Anflug verspürt, seine Blicke auf ihrer bloßen Haut spazieren zu führen. 

Sie zeigte sich zufrieden mit Bachers Tätigkeit. Bis auf eine Stelle, die Bacher nacharbeiten sollte. So veranlasste sie ihn, sein Augenmerk auf ihr linkes Ohrläppchen zu richten. Tatsächlich war zu erblicken, dass da noch um ihren Ohrstecker herum Härchen sprossen, so dicht, dass sie diesen goldgefassten Brillantschmuck fast einbüschelten. Bacher entschuldigte sich für seine Nachlässigkeit und begann sofort zu schaben. Da er sehr aufpassen musste, sie ja nicht zu verletzen, schärfte er seinen Blick. Er staunte nicht wenig! Erst jetzt merkte er, dass er mit einer Glasscherbe in Aktion war – und das wohl die ganze Zeit vorher. Nun bereitete ihm seine Arbeit erst richtig Spaß.

 

Immer wieder wich er dem Gedanken an dieses Erlebnis aus, wenn er sich ihm während des Tages aufdrängte. Da häuften sich Häme und Abscheu irgendwie ganz beißend auf der armen Frau. Hinzu gesellte sich stets sofort, dass ihm über diese Erscheinung der Bekannten das Weibliche an sich begegnete. In diesem Verdacht tauchte dann sogar Sonnenschein auf, wenn auch ganz im Hintergrund, jedenfalls doch schmerzlich, enttäuschend. Das brachte seine Gefühlswelt gehörig durcheinander.

 

 

Am 15. April hatte Cassian Bacher sein Innenleben ums Weibliche immer noch nicht ins Lot gebracht. Da spukte es ihm am helllichten Tag: Ein Sexgespinst, als Fee und eine bedauerliche Ver- oder nie Aufgeblühte, als Rasurgestalt, getoppt durch das begehrenswerte Wirklichschönegute, als seine Sonnenschein. Deswegen floh er, Neutralisierung suchend, gedanklich zu dieser ja mann-fernen Frau vom Trödelmarkt. Nachdem er ihr bisher im Geiste mit bloßem, wenn auch wohlwollendem Kopfschütteln begegnet war, wollte er heute der Angelegenheit, als die sie sich ihm eben allmählich entwickelt hatte, auf den Grund gehen. Es betraf dieses Zitat der Guten, dessen inhaltliche Ortung des letzten Ausspruchs der Sprecherin Bacher immer noch nicht ganz gelungen war. 

Warum sollte dieses, das gewiss den geistigen Himmel meint, wie im Kinderblick örtlich oben sein?, begann er bescheiden. Weshalb sollte folglich sein immer als Instrument der Disziplinierung eingesetzter Gegenpart von einem Unten her sein Unwesen treiben? Genau betrachtet das moralische Folterwerkzeug Hölle? 

Himmel wollte sich Bacher heute auf seiner eben erwähnten Flucht – nachdem er das von der guten Trödlerin etliche Zeit mit sich herumgeschleppt hatte – überall auftun können. Wo das Gute sich zeigt – oder nur zu vermuten steht. 

Das Gute ist eigentlich ganz einfach auszumachen und vor allem nicht weit weg zu finden, trug er sich gleich vor. Es sei weder zeitlich noch räumlich bedingt. Das Gute, haben sich kluge Köpfe längst ausgedacht, zielt nicht darauf, für jemanden oder etwas zu sein. Es setzt sich (einem selber) einfach nur, allerdings immerhin vom Bösen ab. Das damit ja seine Rechtfertigung erhält, kicherte sich Bacher: Um sein Gegenteil überhaupt erst ausmachen zu können. Diese moralische Grundfrage locker und heiter sehen zu können, hielt ihn noch an seinem Gedankenspiel: Also könnte doch dieser Himmel als das Ziel des Zitats der Frau mit seinem Gut-Wesen ganz in meiner Nähe sein, vermutete er. Vielleicht ist er um jeden herum oder sogar in ihm – möglich? 

Wenn es nur nicht so schwer wäre: Diesen von den Moralisten so hoch aufgeschütteten Berg zu besteigen. O Gott, Dantes Purgatorio, den Reinigungsberg, im Hinterkopf! Könnte Himmel nicht doch einfach in einem selber gedacht werden. Eben als gute Ebene an sich und in sich. In meinem Bacher selber? 

Na ja, im Grunde als bloße Möglichkeit schön. Doch dieser Himmelsschritt hat die Eigenart, dass er trotzdem nicht einfach zu tun ist, folgerte Bacher aus eigener Erfahrung. Es ist wie zu träumen, ein buntes Verwirrspiel häufig – im Sein. Dieses Sein schüchterte ihn jetzt wegen seiner schieren Unfassbarkeit ein. So ließ er von seinem Gut-Vorhaben vorerst ab. Obwohl er bereits den Chinesen mit dessen längster Reise, die immer mit dem ersten Schritt beginne, im Kopf hatte.

 

 

Drei Nächte darauf hatte Bacher in der Ferne Nebel ausgemacht. Diese Wand hatte sich zwar auf den Betrachter zu allmählich als Dunst geöffnet. Eine Landschaft lag wohl unter diesem Schleier. Weite stand allerdings nur zu vermuten. Doch es war keine Öffnung zu klarer Sicht auszumachen. Eher schien es so, dass die dichte Front von hinten den Chiffon des Vordergrundes wieder zu überwallen trachte. Noch eben einen Blick in diesen Brodem geworfen. Da waren immerhin Gegenstände auszumachen. Das Auge an eines dieser Dinge geheftet und verglichen. Häufen sind es, kam es Bacher zunächst. Nein, tiefe Rundungen! Ballen. Es waren wohl tatsächlich Ballen, die da jetzt überwölkt wurden. Futterballen, wie sie von den Bauern erzeugt wurden als Vorrat fürs Vieh.

 

Beim Erwachen fühlte er sich wohl. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, dass das ein guter Schlaf entstehen lässt. Bacher nahm es heute allerdings fast dankbar an, obwohl ihm dieser Gemütszustand nicht gleich einleuchten wollte. Dass die Zustände selten ganz zu fassen und damit zu rahmen seien. Sie hätten immer Vorauszeit, die nie endlich ist, kommentierte er es sich. Nichts sei ganz zu fassen, also zu rahmen, setzte er nach. Also sei nichts einzufangen und abzugrenzen. Das sei eben das Gefängnis aller Bilder: ihr Rahmen. Nun ja, die Sache mit dem Rahmen wieder!, tadelte er sich. Und überhaupt, fragte er sich, auf welcher Tanzfläche drehst du denn deine Figuren? Mache es doch einfach im Volksmund: Nichts Gewisses weiß man überhaupt nie nicht!

 

Diesen besänftigenden Schluss, sagte er sich wiederholt auf – und nahm ihn mit, als er die Augen wieder schloss, um wegzutauchen. Jedenfalls erschien dieses Bild mit den gemutmaßten Futterballen von vorhin dann wieder ganz deutlich. Es verharrte allerdings in seiner letzten Einstellung und wollte sich nicht mehr weiterbewegen. Sosehr Bacher am Morgen in seiner Erinnerung kramte, da war nichts mehr auszumachen, was als Fortsetzung zu bezeichnen gewesen wäre. Trotzdem ein Traumbild mit Wiederholung, selten genug!, erklärte er sich achselzuckend.

 

 

Zum 20. auf den 21. April hätte sich eigentlich alles in Berlin ereignen sollen.

Bacher hatte geträumt, ein Auto zuschanden gefahren zu haben. Das sah so aus, wie es jeder kennt: Quer stehende Fahrzeuge, verbeult, Leute darum herum und so weiter. 

Bacher war dabei glimpflich davongekommen. Er sah sich noch aus dem Blechknäuel kriechen und achtlos durch die Menge Gaffer schreiten, als wäre da gar niemand. Er hatte dabei ein Lächeln wie ein Sieger aufgesetzt. 

Allerdings sah er sich danach zur Bahnfahrt verurteilt.

Das Ziel war bereits vorgegeben – von wem auch immer. Eine weibliche Stimme war ihm da noch im Ohr – was allerdings die Ansage auf dem Bahnhof gewesen sein konnte. Es sollte jedenfalls nach Berlin gehen. 

Dort angekommen, sah Bacher sich in einem Café sitzen, den Blick auf einen breiten Fluss gerichtet. Er wagte gar nicht, genau hinzusehen, denn da drängte sich ihm tatsächlich der Eindruck auf, es sei der Rhein gewesen. Wenn er doch aufsah, hatte er die Kölner Turmzwillinge ganz deutlich im Blick.

Eine Dame fortgeschrittenen Jahrgangs trippelte herein. Andere der gleichen Welkheit folgten nach und nach. Die üblichen Küsschen an die Wangen gehaucht. Platz genommen und die Mitteilungen aufeinander getönt. 

Bacher sah hinüber. Ein-, zweimal. Sofort war er von ihnen ausgemacht, entdeckt, samt seinem vermeintlichen Interesse. Als er wieder, vorsichtiger zwar, hinüberblickte, meinte er zu bemerken, dass da ein paar Rocksäume hinaufgerutscht waren. Bacher wollte es nicht sofort glauben. Er sinnierte noch, dass es sich um Jahrgänge handelte, die lange Hosen eher mieden. Vielleicht stammten sie gar aus jener Zeit, in welcher der deutschen Frau verordnet worden war, wie sie sich zu geben habe. Beispielsweise im unten offenen Hüftbehang – den Bacher sich gelegentlich bei jungen Damen gewünscht hatte. Dann riskierte er noch einen Blick. Und siehe da, die, nein, jetzt alle Säume waren in der Hüftbeuge und gerade so weit oben, dass es kochfest baumwollen weiß zwischen den Schenkeln hervor und zu ihm herüber blitzte.

 

Da war es ihm wohl heiß geworden. Jedenfalls fühlte er Unruhe in sich. Sofort wusste er jetzt, weshalb er diesen Rockwunsch bei Frauen im Allgemeinen, bei jüngeren im Besonderen hatte. Er gestand sich in Beichtlaune, dass er früher gelegentlich darauf erpicht war, einen Blick darunter zu riskieren. Wohl wissend, dass das zu allermeist ganz müßig war ...

 

Es konnte auch das Weiß des Federbettes gewesen sein, wollte er sich herausreden. Jedenfalls hatte ihn seine Unruhe darüber aufgeweckt.  Diese nächtlichen Fragmente beschäftigten Bacher nach wie vor. Ob es etwa dem Schlafenden möglich sei, sein Schlafwerk sozusagen mit geöffnetem innerem Auge zu verrichten und Farben wahrzunehmen – um diese freilich anderen Wirklichkeiten zuzuordnen?

 

 

 

Bacher wollte sich Ende April wie zu Beginn seiner Aufzeichnungen nicht erinnern können, im Traum je in dieser Deutlichkeit und Gegenwärtigkeit sozusagen an einem Akt beteiligt gewesen zu sein.  Er war offenbar auf Wanderschaft gewesen und an eine Weggabelung gelangt. Folgende eigentümliche Position war gegeben: Bachers Sackgasse mündete mittig in zwei im spitzen Winkel sich voneinander weg weitenden Wegen. Sie drang nachgerade in ihren Scheitelpunkt ein. Und nun personifizierte sich diese Stellung sogar – wie er sich eingestand, auf angenehmste Weise. 

(Es gelte allerdings nach wie vor das Schweigen als "des Sängers Höflichkeit", wird sich Bacher dann beim morgendlichen "Überfliegen" dieser Erinnerung sagen. Denn er wird sich nicht etwa zu Tagesbeginn in dieser sinnlichen Gegend verlaufen wollen.)

Kurz nach diesem "eindringlichen" Ereignis geriet

Bacher in seinem Traum in Probleme mit einer Verseilung. Er sollte auf Geheiß – er konnte durchaus selber der Auftraggeber gewesen sein – Stricke am Dachgiebel eines Hauses befestigen. Diese wären vielleicht sichernd zum Boden zu führen gewesen. Das gelang Bacher einigermaßen. Doch da kam eine alte Frau und kritisierte die Schwäche der Schnüre, die zu niemandes Nutzen seien. Bachers Rechtfertigung, es handle sich um sehr festes Seilwerk aus Kunststoff, konnte sie – eben aus ihrer anderen Zeit – natürlich nicht nachvollziehen. Sie forderte ihn auf, ihr zu folgen. Was er auch tat.  Bald jedoch war sie entschwunden. Ihre Spur, nach der Bacher angestrengt suchte, hatte sich verloren. 

 

Selbst beim Erwachen suchte Bacher noch für einen kurzen Augenblick nach dieser Frau. Er bildete sich das jedenfalls ein. Er riss sich von dem Gedanken los. Es kam ihm selber wunderlich vor, aber er wurde von einer sonderbaren Regung befallen. Es reizte ihn plötzlich, wieder einmal auf den Friedhof zu gehen. Hat es mit der Alten aus dem Traum zu tun?, fragte er sich. Dann wirkten einem ja diese Schlafereignisse sogar irgendwie steuernd voraus. 

Er wollte dem nicht weiter nachgehen. Doch hielt er den Einfall mit dem Friedhofsbesuch für nicht gar so abwegig. Es ist eben mal etwas anderes, munterte er sich auf. Interessant, auf den Grabsteinen diese Minibiografien zu lesen. Auch, um zu sehen, ob die Kunstwerke, die früher wenigstens die reichen Leute über ihren Gräbern hatten errichten lassen, ganz verschwunden sind. 

Mal was anderes! Gleich tauchte Sonnenschein in seinem Plan auf. Vielleicht hat sie sogar Lust auf diesen Spaziergang. Zu dieser irgendwie etwas abseitigen, so doch vielleicht reizvollen Unternehmung. 

 

 

Noch Ende April, irgendwo auf Island musste es gewesen sein. Der meerumgrenzten, leicht hügeligen Grüne wegen, die in der Ferne Wasserfontänen emporschießen ließ. Bacher fand sich auf einem Dach sitzend. Genau genommen an der Kante, sich mit den Füßen an der Dachrinne einstemmend. Es war ein hohes Gebäude, eines, von denen es auf der Insel nicht viele gab. Bacher versuchte, irgendetwas nach unten zu unternehmen. Ein ständiges Stochern mit einer langen Stange. Die er anscheinend unten auf den Boden, aufs Pflaster zu bringen versuchte. Ohne sie aus den Händen gleiten zu lassen. Vielleicht plante er sogar, sich daran hinabzulassen. Jedenfalls wollte es ihm nicht gelingen. Er stocherte in der Luft herum. Immer wenn er aufsetzen wollte, bemerkte er, dass sich das Ding langsam ineinanderschob. Es war fast wie bei einem teleskopischen Rohr. Offenbar konnte er es nicht glauben und versuchte es immer wieder, das lange Teil stabil zu bekommen. Dann hörte er es wie Teppiche klopfen. Er sah sich um. Blickte zum Boden hinab. Da war jedoch nichts auszumachen.  Bacher leuchtete ein, dass sich da ein Hubschrauber heranlärmte. Da kam ihm der Gedanke, er könne von dem Hubschrauber unterstützt werden, seine Lage über die Lüfte zu verändern und sich zu erheben. Sich auf diese Weise in Sicherheit zu bringen.  Aber da ergab sich nichts. Das Ding dröhnte über ihn hinweg. 

Allerdings bemerkte Bacher jetzt dort unten etliche Passanten vorübereilen. Nur dieser Dieter Roth schlenderte gelassen daher, selbst seine Gangart eigenwillig kunstvoll gestaltend. Laut deklamierte er vor sich hin, sich weiterhin meist die Behauchung des T in seinem Vornamen versagen zu wollen. Weil ihm nämliche am Ende seines Familiennamens genüge. Bacher wollte sich ihm bemerkbar machen, da hatte Dieter Roth ihn bereits entdeckt. Wie so häufig früher – Bacher erkannte, dass es länger her sein musste – begann er mit ihm eine Korrespondenz. Roth warf Bacher Einfälle zu: Erhabene Ansätze ließ er zu Bachers Ergötzen in die Höhen steigen. So gewaltige Worttürme, dass sie einem schon ins Vergessen kippten, bevor man sie ganz gehört hatte. Er ließ sie sich selber nichten, noch bevor Bacher sie richtig zu erfassen bekam. Ließ durchblicken, dass ihnen genau das zu eigen sei. Er ließ andere aus seinen mutmaßlich unerschöpflichen Vorräten abstürzen. Packte sie und wischte sich den Hintern damit. Es freute ihn. So mit allem verfügbarem Esprit, wo auch immer, ebenso ohne jede Hemmung enorm parterre zu spielen. Wo er das Leben im Allgemeinen und so weiter. Dann nahm er immer einen Schluck aus der Pulle. Die er stets zu Munde führte, wenn ihm ein Clou gelungen schien. Den er sich nicht erst aus-, sondern gleich runterspülen lassen wollte. Um erst die Ausscheidung desselben und so weiter. Allerdings waren da Brocken unter denen, die er Bacher zuwarf, die dieser tatsächlich zu fassen bekam. Dennoch flogen auch diese Stücke Bacher immer wieder aus der verkrampften Hand. Und sie flogen davon, hinauf, irgendwohin in einen fernen Dunst von so etwas wie ...  

 

Da war es mitten in diesem Fetzen Morgen.

Wo ist Karl Dietrich, alias Diether, alias Dieter Roth abgeblieben?, fragte sich Bacher. Obgleich er ja wusste, dass Dieter Roth längst alles hinter sich gebracht hatte. Heute nahm Bacher gleich nach dem Frühstück einen Schluck schärferer Flüssigkeit. Dies mit der Begründung, damit das Andenken an D. R. zu pflegen. Er versäumte jedoch nicht, noch einen Brocken Brot in den Mund zu nehmen und länger darauf herumzukauen. Um nicht etwa im Büro mit einer Fahne aufzukreuzen.

 

 

Am ersten Mai fiel Bacher beim Mittagessen unvermittelt ein, dass dieser Satz vom Vorne, Hinten und Oben von der Frau auf dem Trödelmarkt seinerzeit eher beiläufig gesprochen worden war. Auch war er nicht eben nur so dahergesagt. Allem

Anschein nach war er geäußert worden, ohne jede Absicht, irgendetwas beim Hörer hervorrufen zu wollen. Wahre Überzeugung eben, dachte sich Bacher. Überzeugung, die keine Kanzel benötigt, weil sie aus sich selbst heraus wirkt: nicht nur genannt, sondern gelebt.

Jedenfalls brachte ihn diese Himmelssache, die er auszumachen sich gelegentlich bemühte, ganz unwillkürlich zu diesem alten Gebetsspruch mit dem "Vater unser". Sofort stolperte er wieder über den Vaterbegriff. Wie früher, als er es aufgegeben hatte, diese ganzen Formeln herunterzuleiern. Was finge denn ein Schöpferwesen, dem die Hervorbringung alles Seienden unterstellt wird, mit Geschlechtlichkeit an? Mit offenbar purer Männlichkeit?, drängte sich ihm und durchaus gleich mit der ganzen Palette geschlechtlicher Vorstellung auf. Schier erschüttert, sich und die große Schar der Geschlechtlichkeitsdafürhalter der Lästerung der reinen Schöpfungsgewalt bezichtigend, wollte Bacher wie gewöhnlich aus diesem Gedankenchaos flüchten.

Doch der bärtige ältere Herr sixtinischer Lüftelmalerei (mit welchem Sarkasmus sich Bacher aus dem Gedanken eigentlich noch weiter weg davonmachen wollte) verfolgte ihn noch. Es wurde das sogar verstärkt durch dessen der Behauptung nach gezeugtem, nicht erschaffenem Sohn (dessen Abbildung sie, wie Bacher es in den Gedankenlauf hereinblitzte, trotz Himmelfahrt immer noch am Kreuz hängen haben. Wegen ihrer ganzen Unerlöstheit). Zudem war auch der Geist, den sie sich gerne als Taube vorstellen, gedanklich, obwohl nach Vorgabe eigentlich gestaltlos, hinter Bacher her. 

Kaum jemand hat bei sich selber, fasste er sich wieder, wegen dieses abrahamitischen Du-sollst-dir-kein-Bild-Machens alles wegzuwischen getraut.

Was sich einem aus Kindertagen da so herumvorstellte. Etliche haben all das jedoch fürderhin grundsätzlich meiden wollen und per Kirchenaustritt hingeschmissen. Besonders dann, wenn sich wieder einige der Jenseitsvermittler im Diesseits so unmoralisch gegeben hatten und alle Welt darauf herumhackte. 

 

Diese Begegnung mit der noch offenen Äußerung der von ihm beinahe heiliggesprochenen Frau hatte ihm all diese Gedankenspiele beschert, war sich Bacher bewusst. Ohne daraus allerdings auch nur den Anflug eines Vorwurfs aufkommen lassen zu wollen. Er war sich dabei nicht sicher, ob er darin überhaupt fortfahren sollte, Lösungen zu finden.

 

 

In der Nacht zum nächsten Tag hatte sich Bacher möglicherweise in Südtirol aufgehalten.

Er bückte sich ab und zu nach einem Stein. 

Es ging bergauf. 

Die Serpentinen einer Straße kamen ins Bild. Auf deren Teerdecke lagen diese Rundlinge, von Pflasterern Katzenköpfe genannt. Es schien fast so, als wollten sie sich in Erinnerung bringen. Dass sie über Jahrhunderte als Straßenbelag gedient hatten. Dass sie Rad und Fuß vor dem Einsinken bewahrt und den Kehricht wegzufegen ermöglicht hatten.

Und sonst was – ja, dass sie den Frauen unter den Rock blicken konnten, blitzte es Bacher wunderlich. 

Sein geheimer Schatz, diese nächtliche Frauensperson, war wieder zugegen. Allerdings nicht gleich zu erotischen Aktivitäten beflügelnd. Sie gestaltete aus diesen Steinen eine Rabatte die ganze Straße entlang. Pflanzen, die sie einbrachte, waren zu erkennen. Ein Alpinum entstand also am Straßenrand. Alles höchst kunstvoll. 

Kinder waren ebenfalls am Werk. Sie werkten auf ihre spielerische Weise, häuften kleine Pyramiden, legten Einfriedungen ... 

Bacher stand da, sah eher nur zu, nur den einen oder anderen Handgriff vollziehend. Um sich als dazugehörig vorzugeben. 

Irgendwann grollte seine Nachtfrau, er solle sie nicht immer mit Schatz betiteln. Es sei so einfältig, bar jeden Geschmacks und überhaupt fantasielos. Es genüge, den Anfangsbuchstaben ihres Namens zu nennen. Das S, ganz einfach. Es sei außerdem ökonomischer, reiner und vor allem unverfälschter, sich mit dem Anfang zu begnügen. 

Ach ja, bewegte es ihn, der Anfang, der Beginn – die aufkeimende Liebe, der erste elektrisierende Blick! Bacher nahm sich fest vor, sie fortan mit dem redlichen eS zu benennen. 

Kaum hatte er diesen Vorsatz gefasst, brachten die Kinder einen Ziegel daher. Es war ein großes blassrotes Stück mit leichten Mörtelspuren in den tiefer liegenden Stellen der Oberfläche. Die Kanten schienen abgenutzt, dadurch geradezu versöhnlich gerundet. Als sie ihn stolz präsentierten, konnte Bacher ganz deutlich 1525 erkennen. In der Verwunderung darüber sprang sein Blick den Abhang hinab. Dort unten nahm er ein Gehege war. Pferde waren darin. Haflinger vermutlich, jedenfalls hellbraune, bleichmähnige Tiere. Drei, vier konnten es sein. Ein Hengst war gerade an einer Stute. Bacher sah einen mächtigen Schlauch. Es durchrieselte Bacher dunkel. Aufgeblickt, eS war vor ihm, gebückt ... 

 

Am Morgen ließ sich Bacher von so etwas wie leichten Entzugserscheinungen einnehmen. Er begann sogar damit, sich darüber zu schämen – fühlte jedoch sofort diesen guten Sigmund F. wieder. Der schien irgendwo therapeutisch in der Nähe zu sein, um die Sinnenlust auf Libido konzentriert zu fordern. Damit konnte alles für den Tag wieder seine Richtigkeit haben.

 

 

Am 14. Mai fiel Bacher ein, dass heute Nacht eine

Mitarbeiterin auf ihn zugekommen war und ihn unverhohlen gemustert hatte. Von oben bis unten. Er hatte selber erkannt, etwas overdressed gewesen zu sein: schwarzer Anzug, ebensolche Krawatte vor weißem Hemd. Wie zu einer Beerdigung aufgemacht, sah er wohl aus.

"Aha", urteilte die Kollegin nach der Inaugenscheinnahme, "man hat wieder geerbt!"

 

Hat sie der Traum gerächt?, fragte sich Bacher, allerdings erst im Büro und als er sie vorüberhuschen sah. Er knurrte vor sich hin: "Habe sie doch öfter sonst wohin gewünscht!" Dann erinnerte er jedoch, sie tatsächlich ab und zu quasi beerbt zu haben. Es waren ihre cleveren Vorschläge, die er hatte als sein Eigentum ausgeben und nutzen können. Bacher genierte sich ein wenig. Er spielte deshalb kurz mit dem Vorsatz, ihr in Zukunft entspannter zu begegnen. Damit gelang es ihm, seine zwar schwache, aber immerhin vorhandene Genierlichkeit zu überwinden.

 

 

Ein paar Nächte darauf wollte Bacher vermutet haben, in seine Homepage habe sich ein Chinese link mit einem Hacking reingesetzt. Eine gelbe Ratte, empörte er sich. Der zweite Wilhelm aus

Preußen linkte sich Bacher plötzlich mit der alten

Filmaufnahme ein und bellte wieder seine Hunnenrede vom Balkon. Es war Bacher jedoch zu unkommod, gleich nach China aufzubrechen, um dort, dem kaiserlichen Geheiß nach, eine drastische Strafexpedition durchzuführen. So knickte er lieber ein, nahm die gelbe Ratte zurück und betitelte sich schmerzlos als Rassist. Er würde sich sogar der Einfachheit halber samt dem alten Preußenprotz vor der ganzen Menschheit entschuldigt haben, sollte es wer verlangt haben. 

Cassian Bacher unternahm das natürlich nicht etwa, weil er sich mit dem Dieb zu versöhnen trachtete. Sein Ärger war zu groß, als dass er über die Maßen Charakter aufzubringen willens und in seinem Stress überhaupt in der Lage war.

Bachers Blicke wie auch seine Gedanken folgten dem als gemein identifizierten Exoten dann, als dieser eine Treppe zu einem Keller hinunterstieg. Er wird sich wieder in den Kanal begeben, wo er auch hingehört, leistete sich Bacher (um sich sofort zu versichern, dass ihn dieser Gedankengang zwar befriedigte, aber natürlich wieder weit unter seinem Niveau war).

Was werden die Leute denken, die jetzt meine Seite anklicken und womöglich irgendwelche fernöstliche Perversitäten zu sehen bekommen, die diesen Kreaturen getrost unterstellt werden können. Alle schrieben diesen Schmuddelkram der Adresse wegen natürlich ihm, Bacher, zu. Nicht ganz saubere Dinge, die jeder zwar selber in sich weiß, vielleicht sogar hegt und pflegt. Die jedoch kaum jemand, gewissermaßen aus Gründen des Benehmens und wegen seines guten Rufs, jemals an die Öffentlichkeit bringen würde. Jedenfalls nicht unter seiner nicht vernicknameten Identität. 

 

Bacher fühlte sich unwohl, als er erwachte. Er wusste nicht sofort, ob es dieser Traum war. Er merkte nach einer Weile, dass es vom Magen kam. Die Gedanken rutschten ihm in diesem unguten Gefühl in den Traum – und ganz tief ab: Aktion! Diesen Hundesohn abschlachten wie die Hunde, die sie hemmungslos verschlingen, wie seit je bekannt ist. 

Gleich wieder nahm er seinen Entschuldigungs-Parcours. Er war über sich selber sogar ein wenig entrüstet. 

Cassian Bacher bekannte am Ende, dass diese Haltung, die zur Vorsicht gegenüber allem Fremden mahnt, wohl in einem jeden tief drinsteckt. Sie will natürlich immer wieder abgerufen und hervorgeholt werden. Mit dem Seufzer, dass der Menschen eben so sei, mogelte er sich mit Erfolg aus seinen Peinlichkeiten.

 

 

Es mochte am 16. Mai sein.

Gestalten in einer Runde und offenbar im Gespräch. Sie wurden Bacher allmählich deutlicher. Er begann zu zählen. Er kam auf fünf. Eine Frau war dabei. Aneinander interessiert waren sie, wurde ihm gleich klar. Er versuchte zu erfassen, was da jeweils jemand von sich gab. Bacher musste sich jedoch mit ihren Minen und Gesten begnügen. Bacher hatte das Gefühl, dass es bei ihren Reden um Begegnung ging. Einer aus der Gesellschaft brach plötzlich vor einem anderen in die Knie – Bacher erschrak – und schien um eine Segnung nebst Handauflegung zu bitten. 

Bacher war im nächsten Moment mitten unter ihnen. Er erkannte sie als Geistliche. Bacher mutmaßte, dass die Frau unter ihnen nur mit allerlei Dingen des leiblichen Bedarfs aufzuwarten, sich jedoch weiter nicht einzubringen hatte. Sie bewegte dann und wann den Mund, vermutlich um eine ihre Geschäfte betreffende Äußerung anzubringen.  Da tauchte plötzlich die Frage auf, wie Cassian Bacher seine Kinder zu erziehen gedenke.   So ein Monstrum von Frage!, erschrak er. Und er fühlte gleich alle Blicke auf sich gerichtet. Ach ja, das In-die-Welt-Werden der Kinder! Da suchte ihn doch dieser Knaben-Führer auf Griechisch heim und blieb ihm als Paidagogos in den Gedanken hängen. Bacher wusste jedoch immer noch nicht, was er der ihm jetzt als gefräßig erscheinenden Neugierde der Frager in den Rachen stopfen könnte. In die randvolle Stille tönte dann sein Sie-sollen-nicht-in-der-Gosse-Landen – dem Morgenschock des Weckers hinterher.

 

Als Bacher ganz wach war, glaubte er, immer noch die langen Augenblicke betretener Stille wahrzunehmen. Betroffenheit, die von tiefen Atemzügen durchbraust worden wäre – hätte sich der Traum zu Ende gebracht. Doch mit diesem Sinnen über Erziehung waren natürlich Kinder in seine Gedanken geraten. Da konnte ihm inzwischen Sonnenschein gar nicht mehr sehr weit entfernt sein: Leider nicht wirklich – fürs Erste, beteuerte er sich. Tagträumend ließe sich da eine ganze und obendrein erquickliche Menge anstellen. Doch Kinder? Wie denkt Sonnenschein darüber? Wäre es bei ihr nicht an der Zeit? – Bacher erschrak über seine letzte Frage. 

 

 

 

  

 

17. Mai

Mit so einem kleinen Auto wie einem Trabbi war Bacher gefahren. Neben ihm saß eine ihm eigenartig vertraute wie fremde Frau. Irgendeine. Er war sich zwar nicht sicher, ob es nicht auch seine Nachtfee sein konnte. Er ging dem allerdings nicht weiter nach, weil ihm die mittlerweile vertraute, sonst meist sofort gegebene Gefühlslage ausgeblieben war. 

Es ging durch ein Feld mit etwas höherem Bewuchs am Rande, Getreide konnte es gewesen sein. Er wunderte sich über sich selber, dass er seinen Weg gerade hier nahm. Er hatte sofort den Tadel von der Seite her zu ertragen, dass er die Straße ganz verloren habe. Möglicherweise sogar das Ziel. Das er sowieso gar nie gehabt habe. Er wehrte den Vorwurf mit dem Hinweis ab, dass das im Leben eben häufig vorkäme. Und dieses, besagtes Leben, einen auf diese Weise wenigstens ein wenig interessant zu gestalten helfe.

Dann gelangten sie an einen Berg, der sich da mitten in der Flur erhob. Es kam Bacher so vor, als gebe es für dessen Existenz gar keinen Grund, sich da zu erheben. Aber dass sein Vorhandensein an dieser Stelle für Bacher die Ursache verkörperte, seinen Weg so zu nehmen, wie er es eben getan hatte, wollte er sich nun gewiss sein. Das bescherte ihm Vertrauen – wenigstens in sich.  Sie sind dann hinaufgewandert. Dabei trafen sie viele Menschen. Alles geschah ohne wirkliche Begegnung. Ein stummes Aneinander-Vorbeiziehen, jeder war nur mit sich befasst. Das war auch zwischen Bacher und seiner Begleiterin so. Zu essen gab es. Sie sahen sich umgehend mit einem gefüllten Teller dasitzen. Bald entdeckte seine Begleiterin eine Schnecke im Salat, ekelte sich, protestierte, machte ein langes Gesicht und hörte auf zu essen. Bacher hingegen ließ sich nicht aufhalten und stellte noch fest, dass das da auf seinem Pappteller eine Gemüseroulade sein konnte. Jedenfalls sei es etwas Gesundes, wofür ihm der fade Geschmack Beleg sein sollte. 

Dann waren sie wieder unten. Dort zeigte sich ein geheimnisvolles Gebilde, eine sitzende Gestalt. Die als solche jedoch erst beim zweiten Hinsehen auszumachen war. Zunächst sah diese Augenfälligkeit aus wie ein Stück von diesem zerkarstetem, mit der Zeit von der Witterung zernagtem Gestein. Beim Näherkommen wurde allmählich klar, dass es tatsächlich ein Etwas mit menschlichem Aussehen war: Über und über grau, umwallt von einem Netz dichter Weben; aus den fahlen Gesichtszügen ein graues Bartgeflecht fließend, das fast übergangslos in der Umhüllung auslief.

In das Erstaunen hinein gelangte die Mutmaßung, es handle sich um eine der vielen Gestalten, die der Sage nach in felsigen Gegenden ihr Wesen treiben sollten. Die Kiffhäusersage funkte kurz auf oder die vom Untersberg. Dass es der große Karl war oder Rotbart oder eben jemand aus dieser Sagengegend, hätte man unterstellen können. Da war bereits von dieser Gestalt zu vernehmen: dass sie in Berlin jetzt doch Germania errichteten. Nur nicht ganz so kitschig, wie jenes aus dem kranken Hirn von diesem Leuteverderber und Landzerstörer. Jedoch immerhin wenigstens gigantisch. Dass sie aber doch besser in der rheinischen Provinz geblieben wären. Diesem wunderlichen Bonn. Wo der Hort einer Zwergenrepublik besser beheimatet gewesen wäre

...

 

Schließlich erwacht, musste sich Bacher gestehen, doch ein wenig verstört zu sein. Allerdings war er es nicht so sehr wegen dieser – im Grunde für die nächtlichen Umstände eigenartig klaren Darbietungen. Eher war er es deswegen, weil ihm der genaue Blick auf diese Gestalt versagt geblieben war. Denn gleich kam ihm – wenn auch sofort wieder verworfen – der Verdacht, dass diesem Gespenst die schwarze Rotzbremse zur grauen Vollwallung gewuchert war. Dass dieser furchtbare Gewesene wieder eine seiner Trugbilder auftischen wollte. Indem er sich auf diese dann verquere Weise von sich selber wegzulügen trachtete. Dieser H. sei die Rache des Teufels für Jesus Christus gewesen, erinnerte sich Bacher, erst neulich gehört zu haben.

Damit war er jetzt richtig einverstanden.

 

 

 

  Da war irgendwann im Mai ein Film gezeigt worden über den ehemals deutschen Osten. Darauf hatte Bacher diese Nacht:

Es war in Wroclaw, wie sie heute das alte Breslau nennen. Bacher ging eine Weile an einem breiten Fluss entlang, es war bestimmt die Oder. Dann wendete er seine Schritte in Richtung Innenstadt. Er war bald am Rathaus angelangt und staunte und rief laut über den Platz: Der Pole ... (Er verwendete damit unversehens eine Ausdrucksweise und ein Merkmal der Sprache des Dritten Reichs, wie es Viktor Klemperer bemerkt und gerügt haben würde, erinnerte Bacher sofort.) Der Pole also hat dieses Prachtstück der deutschen Gotik wiederaufgebaut. Somit hat er eben das Eigentumsrecht an diesem gewissermaßen Strandgut des Krieges erworben. 

Bacher hatte nicht bemerkt, dass da auch eine Gruppe älterer Männer und Frauen zugegen und sogar in seiner Nähe war. Vermutlich hatte Bacher deutsche Heimattouristen beschallt, wie sie jetzt überall mit ihren Fotoapparaten im Osten umherzogen. Sie fingen gleich an, zu Bacher hin den Mund aufzutun. So dass er durchaus annehmen musste, sie stimmten einen Chor gegen ihn an, vom Fuchteln so manchen Gehstocks im Takt gehalten.

Bacher zog sich zurück. 

Unmittelbar danach befand er sich in einem Kellerraum – ohne sich erklären zu können, woher dieses Gefühl rührte, tief unten zu sein. 

Da fanden sich Frauen und Männer, nicht mehr ganz junge, aber noch nicht als alt zu bezeichnen. Nur einige aus der Personengruppe schienen sich den Lebensjahren nach abzuheben. Das waren meist grauhaarige Individuen, die da saßen, von anderen, eben den jüngeren, umringt. Er gewann sofort den Eindruck, in eine Versammlung ehemaliger Schulzusammengehöriger, in ein Klassentreffen, geraten zu sein. Doch wie er auch umhersah und seine Erinnerung durchstöberte, er konnte niemand ihm Bekanntem ausmachen.

So stand er eine Weile herum – bemüht freundlich lächelnd, einen wissenden Ausdruck im Gesicht, mit leichtem Kopfnicken unterstrichen. Irgendwann kam eine junge Frau auf ihn zu. Sie gab vor, sich an Bacher als genau den Arzt zu erinnern, der für eine Biologiestunde einschlägigen Themas von der Lehrkraft bemüht worden war. Er sollte den Jungen in der Klasse die Geheimnisse der Vulva aufdecken. Er hätte sie, diese junge Frau, dann veranlasst, sich als Demonstrationsobjekt zur Verfügung zu stellen. Sie habe dem gar nicht so ungern Folge geleistet. Sie habe immerhin von der Unwissenheit und der oft schmerzhaften Tölpelhaftigkeit der Kerle bei deren Aktivitäten an diesem weiblichen Körperteil gewusst. Sie habe sich auf dem Pult der Erfordernis entsprechend positioniert. Er habe mit einem dicken, allerdings ziemlich kurzen Stock die Bauteile dieses immerhin bisweilen vergnüglichen, wenn auch andererseits durchaus konfliktuösen Körperteils dargestellt. So weit, so gut, schloss sie ihre Darlegung. Sie fügte jedoch noch hinzu, dass sie seit genau der Zeit an ihren gewissen Tagen im Monat immer Schmerzen habe. Er hatte ihr kaum sein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht (obgleich er sich an den Vorgang immer noch nicht erinnern konnte). Da war gleich ein junger Mann bei ihm, der sich dafür bedankte, dass er ihm gelehrt habe, wie eine Krawatte gentlemanlike zu binden sei.

 

Bachers Erwachen mit einem Kloß im Hals, und beim Schlucken war da der typische Schmerz, der ihm eine Halsentzündung signalisierte. Wenn schon Traumarzt, kicherte er in sich hinein, dann die Krankheit sofort bekämpft. Er gurgelte gleich

eine Arie in Höhen und Tiefen mit Salbeilösung. 

 

 

21. Mai: Jemand entsprechend Talentiertes hätte vermutlich von einer Erscheinung gesprochen:

Sanft hügelige Weite. Unter gedämpftem Licht zeigte sich ein blumenerfülltes Grün. Im Vordergrund bewegte sich ein freundlich dreinblickender Knabe, ballonmützig behutet, von kräftiger Statur. Zu seiner Rechten ein junges Schaf, das er zu führen schien. Schier himmlisch, was sich im Augenblick ereignete: Der Kopf des Lammes zeigte sich plötzlich als eine mächtige, in ihrer Schlichtheit schöne Margerite, an ihrem schlanken, grünen Schaft wippend, deren eigentlich gelbes Herzfeld in dieser Erscheinung von einem ebenmäßigen, strahlenden weiblichen Gesicht eingenommen war. Dieses Antlitz lächelte Cassian Bacher unbeschreiblich hold aus dem es umgebendem weißem Blütenblätterkranz heraus zu. 

Der Eindruck von etwas Jenseitigem, wenigstens jedoch geschmackvoll pastellenem Nazarenischem drängte sich ihm auf. Als er sich darauf ganz einließ, meinte er in dieser Seligkeit, sogar die Dreingabe eines sanften Orgeltönens zu vernehmen.

 

Da war die Nacht jedoch vorüber. Er erhob sich, beinahe ein wenig betört. War es dieser Traum, der mich vielleicht abheben wollte von der nackten Plattheit des Alltags?, fragte er sich. Er schob dem gleich die Vermutung nach, nur zu schnell aufgestanden zu sein und damit seinen Kreislauf verwirrt zu haben. 

 

 

Gegen Ende Mai hatte Bacher im Traum auf einem Klappstuhl Platz genommen, saß jetzt an der stark befahrenen Straße. Danziger Platz, glaubte er auf dem Schild entziffern zu können. Gewiss in Bayern – ach ja, diese Heimatträume der Menschen, die der Krieg hier und sonst wo angeschwemmt hatte. Er wartete auf jemanden, wusste allerdings nicht, wer es sein sollte. Nach einer ganzen Weile kam eine Frau mittleren Alters aus ihrem Geschäft, einem Gemüseladen. Langes, offen getragenes Haar, raustoffiges Kleid, das bis zu den Knöcheln reichte, unten lugten belatschte Füße hervor. Sie fragte Bacher, wenn auch unvermittelt, so doch wenigstens einigermaßen freundlich, was er denn für Schuhwerk trage. Er deutete auf seine Füße. Sie fragte weiter, welches Getränk er des Morgens bevorzuge. Worauf er ihr Bescheid gab, es sei grüner Tee, und zwar in größeren Mengen. Sie erteilte ihm den Rat, mit den Resten davon, vielleicht der Neige in der Kanne, seine Füße einzureiben. Das sei zum einen wohltuend und obendrein erleichtere es das Gehen ungemein. Sie merkte noch an, dass er sich aus gesundheitlichen Gründen bewegen und nicht hier herumträumen solle. Er blickte an ihr vorbei und wies darauf hin, dass die Träume vermutlich die Bilder des Todes seien. Da schrak sie fast zusammen und gab zu, dass sie auch gelegentlich träume. Vor allem aber erinnere sie diesen Ausspruch von den "Träumen als den Bildern des Todes" als bei den alten Römern gebräuchlich. Dass sie das Abitur vor langer Zeit abgelegt habe und wegen ihres Latinums dieses Zitat habe lateinisch hersagen können. Nur sei ihr beinahe der gesamte Vokabelschatz, den sie ehedem mit viel Fleiß und obendrein einiger Sorgfalt angehäuft hatte, verlorengegangen. Mit einem etwas verkniffenem Lächeln fügte sie hinzu, dass man ja so selten einen alten Römer träfe, mit dem Konversation zu betreiben sei. Doch diese Heiterkeit kam ihr so urplötzlich abhanden, wie sie ihr zuteilgeworden war. Jetzt starrte sie aus einem jählings ganz langen Gesicht traurig ins Leere.

Bacher wollte ihr tröstend Beistand leisten, indem er sich bemühte, ihr den Blick für das Innere dieser alt-römischen Behauptung zu öffnen. Der Tod, erklärte er, sei überhaupt nicht als das Ende des Lebens anzusehen, wie es dummerweise immer geschähe. Sondern als dessen ständiger Begleiter, und zwar von Anfang an. Er hielt etwas inne, vielleicht sogar, um selber zu prüfen, was ihm da so herausgesprudelt war. Sehr bald überzeugt von der Angemessenheit seiner Äußerung, fuhr er fort: Weil dem tatsächlich so sei, kommuniziere der Tod ständig mit dem Leben, indem er dessen Bilder aufsauge. Und, wie so freundlich: Er speise diese Bilder eben zur Belebung des ja sonst sehr langweiligen Schlafs in diesen wieder ein. 

Sein Gedanke kam Bacher interessant vor, dass der Tod so gesehen gebe, was er genommen oder erst zu nehmen die Absicht habe. Und dass er damit im Grunde ja ein unterhaltsamer Geselle sei.  Sie war weg, als er zur letzten Darlegung ausgeholt hatte. So fügte er eben nur für sich an – und im Übrigen zu einer doch wieder erforderlichen Infragestellung der zunächst allzu günstigen Prognose: dass der Tod trotz der dargestellten Vorzüge immerhin von unseren Jahren zehre und uns die Farbe aus den Blütenkelchen saufe, dass er gelb sei vor nichts und auf Schlagrahmwolken mit den Weibern tanze, die ihm alle Kinder liebten. 

Sie war ja längst abgezogen. Vermutlich kramte sie in ihrem Schulkopf nach lateinischen Vokabeln. Bacher hingegen schien sein Einfall zu genügen, weiter warten zu können – und sei es auf den absurden, jedenfalls theatralischen Godot. Denn das Objekt seines Ausharrens erschien nicht. Dafür stand plötzlich ein kleiner Junge vor ihm und bat gleich mit einigem Anstand darum, Bachers Bart betasten zu dürfen. Er begründete dies damit, dass er sich so auf sein Mannwerden vorbereiten wolle. Bacher hatte nichts dagegen einzuwenden. Der

Junge erfüllte sich seinen Wunsch. Da erschallte jedoch gleich eine, bestimmt diese Stimme der reifegeprüften Gemüsefrau, der Junge solle sofort kommen und sich die Hände waschen ...

 

 

Eine Nacht später war Bacher in seiner Vorstellung mit einem Kollegen auf dem Rad unterwegs. Sie sollten wegen der in diesen Wochen noch anhaltenden Frühjahrsgrippe oder -müdigkeit an einer Außenstelle aushelfen. Bald befanden sie sich in einer Allee auf einem geteerten Radweg. Sie konnten nebeneinander fahren. Schöne große Bäume spendeten Schatten mit ihrem noch ganz frischen Grün. Es war ein sonniger Tag – viel zu schön, um etwa nur im Büro zu sitzen. 

Da passierte es: Sein Begleiter fuhr in ein Loch. Das Rad brach entzwei, gehörig, in alle Teile. Bei genauerem Hinsehen waren die einzelnen Teile des Rades wahrzunehmen: Räder, Rahmen, Sattel, Lenker. 

Und da war diese Öffnung: Das Auge übermittelte sofort den Eindruck, dass sich da ein Schlund auftat. Ein Schrecken erfasste Bacher. 

Abgewendet und weggegangen! Denn das schlundige Schlagloch würde sich im Auge des Betrachters womöglich weiter zum Abgrund auswachsen. Und dieser artete bei längerer Versenkung darein womöglich bald extrem aus und erweckte schließlich den Eindruck, alles in sich aufzusaugen. So wie seine schrecklich viel größere und stärkere Sippschaft im All. Die Astronomen mittlerweile als schwarze Löcher zu kennen glauben. Um Gottes willen! Sollten diese Monstren bereits ihre Ableger hier auf Erden zu installieren versucht haben? Da war allerdings der Gefährte zu vernehmen. Er riss Bacher aus dem Schauder mit der Mitteilung, dass er sich von oben bis unten sorgfältig abgetastet habe. Er könne resümieren, an Leib und Leben erfreulicherweise keinen Schaden davongetragen zu haben. So wendeten sie sich den Trümmern seines Fortbewegungsmittels zu und standen eine Weile an der ganzen Bescherung und wussten keinen Rat.  Ein Passant kam herzu und bot seine Dienste an. Er verstehe etwas von der Materie der Technik und überhaupt des Fahrrads und selbstredend von allem, was damit zusammenhinge.

Dankend haben sie angenommen und ihn mit den Trümmern und seiner Freude über die Renaissance des Velozipeds, die er ihnen noch wortreich mitgeteilt hatte, werken lassen. 

Bacher wollte dem Gefährten eigentlich vorschlagen, mit dem Taxi die Dienstreise fortzusetzen. Er kam dann zu dem Entschluss, ihm, dem Arbeitskameraden, sein Rad zu geben und selber zu Fuß zu gehen.

Sie trafen sich schließlich in einer Gaststätte. Vor ihnen stand jeweils ein frisch eingeschenktes, schäumendes Weißbier. Eine Terrine mit Weißwürsten wurde aufgetragen. Kurz, dick, weiß und vor allem appetitlich glänzte es da aus der warmen, feuchten Mulde. Ein Gefühl der Lüsternheit durchrieselte einen, bei jedem Blick darauf ... Sie sogen nebenbei immer wieder heftig an ihrer Virginia – diesem runden, langen Ding, bei dessen Anblick im Mund des Gegenübers das Nachsinnen an dieses unergründliche Loch von vorhin aufkam.

 

Während einer Verschnaufpause bei der Arbeit überkam es Bacher plötzlich ganz angenehm, als er sich seiner menschenfreundlichen Ader im Traum erinnerte: Sein Fortbewegungsmittel dem Kollegen zur Verfügung stellen und selber zu Fuß die Reise fortsetzen. 

Er misstraute allerdings dem Traum – und mehr noch der Kollegialität. Dass sein Verhalten einen so unmittelbaren Ertrag zeitigen würde, wie vom Traum vorgeführt: mit Weißwurst, Bier und Zigarre. 

So machte er sich lieber wieder an die Arbeit.

 

 

Bacher hatte vor einigen Tagen das Schild gelesen, das der Nachwelt verriet, dass in diesem Gemäuer ihre Hexen eingekerkert und gefoltert wurden.  Das hatte sich, vielleicht seiner Empörung wegen, bei ihm so eingenistet, dass es ihm wieder in der Nacht begegnete und auf seine Weise übermalte. Er stieg da den Turm hinauf und meinte, an einer Wand im Treppenhaus ein Kruzifix zu sehen. Es war zwar dunkel hier und nichts war richtig zu erkennen. Er beließ es doch bei seinem ersten Eindruck. Bacher wollte sich sagen, dass sie den vom Kreuz auch festgesetzt hätten. Wäre er mit seiner ganzen Querdenkerei hier aufgetreten und wären sie seiner habhaft geworden. Eben wie überall, wollte er überzeugt sein, wenn sie nach der Moral haschen und doch bloß ihre Marotten hüten wollen. Seien diese, wie sie seien. 

Dann war Bacher in einer Kammer, wohl im dritten oder vierten Geschoss des Turmes. Er nahm auf der Ofenbank Platz und verschnaufte. Da fühlte er es nass werden im Genick. Tropfen um Tropfen traf im Nacken auf. Er war erstaunt, wischte und blickte dabei umher. Er entdeckte über dem Ofen ein langes Beinkleid hängen, so eines, dachte er noch, wie es die Frauen ganz früher hatten. Wenn sie unter ihren langen Röcken überhaupt eines trugen. Seine Fantasie war im Nu wie verhext und flog ihm für Augenblicke in diese weiblichen Verdecktheiten.

Als er seine Hand ansah, wollte er erkannt haben, dass diese Feuchte von eben schieres Blut war. Ein Grausen überkam ihn. 

 

Da war er sofort wach und zog seine Hand unter der Decke hervor, betrachtete sie – und schüttelte über sich und diese Bewegung den Kopf.

 

 

 

Anfang Juni und bei Tag, Gedanken wie unlösbare

Träume: Der Mensch ist eben so, er braucht seine Bilder, dachte sich Bacher. Auch wenn er sich keine Bilder machen soll, laut Vorgabe, die dem alten Abraham unterstellt wird. 

Aber die Sache da mit dem Schöpferwesen. Immer wieder. Eben ewig. Welches die Begründung des Alls mit all seinem Inventar darin verursacht habe. Dann kann man doch nicht etwa eine aufs Diesseits beschränkte Formulierung von Vater, Sohn und Geist zulassen, erregte sich Bacher erneut.  Er sann darüber nach, ohne es eigentlich richtig zu wollen. Es kam eben immer wieder daher. So ging er dem heute wieder etwas nach. Weil es einen ja ständig stolpern lässt, hat man es nur unter den Teppich gekehrt. 

Woher mag diese Versessenheit zur Personalisierung und Vergegenständlichung rühren? Hat es historische Ursachen? Die Angelegenheit mit dem Ebenbild Gottes, das der Mensch laut Bibel sein soll? Aber dann war doch dieser Darwin gekommen mit seiner Vorstellung des ewigen Wandels. Und das Erschrecken daraufhin über das gemutmaßte Aussehen der Uraltvorderen! 

Der Verursacher des Alls sähe aus wie unsereiner? 

Wie wer von uns und zu welcher Zeit? Ach ja, das mit dem Ebenbild sei ja nur vergeistigt gedacht ...

Bacher schloss den Gedankengang doch wieder – und mit einem trockenen Lachen.

 

 

Am 2. Juni hatte sich Bacher auf Wanderschaft befunden, irgendwohin. Da war schließlich eine Ebene. Ein Stück Wiese. Aus dem, mit dem Auge noch gut zu erreichen, ein hoher Damm steil aufstieg. Oben gegen das Himmelsblau schnurgerade begrenzt. Es zeigte sich als eine wie mit dem Lineal gezogene Linie, im Blickfeld von links nach rechts verlaufend. Von irgendwoher kommend und ebenso im Ungewissen verschwindend.

Sie waren zu zweit. Er mit Sonnenschein. Ja, sie musste es sein, nicht mehr diese Irgendeinefrau aus seinen früheren Träumen. Sie hatte jetzt deren Platz in seinem Schlaf besetzt! 

Da waren Leute zu erkennen. Zwei fielen besonders auf. Bacher sah genauer hin. Es konnte sogar dieser massige Mensch sein, der der Republik viele Jahre vorgestanden hatte. Bacher zweifelte, allerdings den Augenbrauen nach konnte der Andere der in dieser Zeit dazugehörende Finanzenhüter sein. Da war sich Bacher sicherer. Der vermeintliche Ober gab Laute von sich. Zuerst lauter genuscheltes Geräusch. Es wurde klarer und verdichtete sich allmählich doch zu dem Satz: Man solle beachten, dass dieses da – er deutete auf die vorhin wahrgenommene Linie am Horizont. Dass das da die eminent fruchtbare Magdeburger Börde zeige. Eine Kornkammer in den erst noch zum Blühen zu bringenden Landschaften. Der immer wieder anstoßenden Zunge und den träge gezogenen Lauten nach konnte es wirklich dieser Mensch sein. Den sie immer wieder haben machen lassen. Da wollte auch Bacher nun, zwar ganz unverbindlich, doch immerhin hinter dieser Linie eine weite, verheißungsvolle Ebene vermuten.

 

Bacher und seine Begleiterin hatten bald diese bis jetzt vorherrschende Szene verlassen. Sie erklommen einen Hügel. Es handelte sich zwar um einen ziemlich steilen Anstieg, der unregelmäßige, so wie von der Natur geschaffene Stufen nutzen ließ. Oben hielten sich auch hier Leute auf, die sie allerdings achtlos passierten. Die beiden erreichten eine fast zerwühlt wirkende Gartenlandschaft. Größere und kleinere steinerne Gebilde waren auszumachen. Die einen standen fast senkrecht. Andere lagen bereits am Boden oder würden wohl bald dorthin gelangen. 

Eine Halde des Abgelegtseins, meinte Bacher.

Sie strichen mit der Hand über die verwitterten Gedenksteine. Das weiche, feucht-kühle Moos, mit dem diese bekleidet waren, tat gut. Ein Kind, das dem Empfinden nach zu ihnen gehörte, sprang beim Abstieg die Stufen hinunter. Ein fein gekleideter Herr verfolgte dieses Treiben mit kritischen Blicken: Wenn das mal gutgeht!, stand in seinen Zügen.

 

Blickweisende Politik, fruchtbare Landschaften und schließlich kühle Grabsteine. Bacher wollte sich heute diesem Chaos nicht stellen. Er hielt sich in Gedanken an seiner Begleiterin Sonnenschein fest, als er zur Arbeit ging. Der Eindruck aus dem Traum hingegen, mit einem Kind ausgestattet zu sein und die Frage nach dessen Wohlergehen, schreckte ihn wieder aus seiner Erinnerung.

 

In der Nacht darauf sah Bacher es ganz deutlich: So etwas wie ein quadratisches Schlauchboot, der Boden und die Wulste aufgebläht. Darüber an Schnüren ein Ballon, schwebend. Alles in Rot gehalten. Man befand sich auf oder an einer breiten Straße, die eine Wald- und Wiesenlandschaft durchschnitt. Das Ballongebilde hob ab, Leute darin, zwei, drei Bekannte.

Nur einige Meter über der Erde, dann driftete das Gefährt ab. Verwunderung erst, gefolgt von Angst, die schließlich in Entsetzen mündete. Rufe, Schreie wurden sofort daraus – jedenfalls den aufgerissenen Mündern nach ... Da passierte es: Das Gefährt kippte zur Seite. Eine Stimme, laut, hohl, von weit her – wie aus dem Jenseits: "Ich habe dir doch gesagt, dass der Himmel nicht blöderweise über euch ist, sondern ..."

 

Bacher hatte in seinem Schrecken, in dem er erwachte, nicht weiter gehört, wo sich der Himmel denn eigentlich befinde, wenn nicht über allem. Er sprang fast empor und aus dem Bett. Er vermutete, dass das jetzt bei ihm wieder mit der Frage nach dem verlorenen Satzteil der Marktfrau beginne. Die Rebellion seines Kreislaufs nahm er in Kauf und stand sie durch, sich an der Wand stützend.

 

 

Am 6. Juni war es dann. Sonnenschein besuchte Cassian heute. Er hatte den Frühstückstisch für sie beide gedeckt und sich dabei redlich Mühe gegeben, dass er nicht singelig dürftig erscheine. Während sie sich dann gegenübersaßen, fing er nach einigen Bissen von seinem Brötchen an: "Ich erzähle es dir einfach so!" Sie blickte ihn überrascht an, schwieg jedoch. Er begann, nach einem Schluck vom Kaffee: "Eine Szenerie spielte sich mir heute Nacht am Rande einer bunten Wiese ab. Im Obstgarten eines kleinen bäuerlichen Anwesens. Alles steckte unter der anthrazitfarbenen Glocke eines bedeckten Himmels. Wir – ich natürlich, ungewiss wer noch, vielleicht du, ich fühlte jedenfalls, dass ich nicht alleine war. Wir also waren auf eine Gesellschaft gestoßen, die in schütteren Reihen an rohen, dürftig gedeckten Tischen saß.  Die Leute redeten in kleinen Gruppen miteinander in gedämpftem Ton oder sie saßen stumm nebeneinander und blickten umher oder starrten nur vor sich hin. Uns Hinzutretende nahmen sie kaum zur Kenntnis. Gerade ein Aufblicken vielleicht, ein fast unmerkliches Nicken. 

Bei genauerer Betrachtung konnten wir gewahr werden, dass in der Gruppe etwas Bewegung herrschte. Es war zu erkennen, dass kaum jemand über längere Zeit seinen Platz behielt. Jedoch auch diese ständige Veränderung schloss nie die Lücken in den Reihen. So war bald zu vermuten, dass die Gesellschaft unter der Regie eines geheimen, jedenfalls niemandem so recht bewusstem Motto stand.

Der Bauer wohl, ein jüngerer Mann, kam herbei. Er war allen gegenwärtig, ohne allerdings ein Wort von sich geben zu brauchen. Er stand da, ohne auch nur die Miene zu verziehen. Er war nur stummer Beleg seiner selbst und des Anlasses, dessen Schatten doch merklich über der Szene gedämpfter Geschäftigkeit lag.

Mir ging allmählich auf, dass wir uns in einer Trauergesellschaft befanden. Ich wusste gleich, ohne dass mir jemand davon berichtet hätte, dass der Sohn des Bauern sich aus unerfindlichen Gründen in der Scheune erhängt hatte. Was aber allen die Angelegenheit noch peinlicher erscheinen habe lassen, gab jetzt jemand in meiner Nähe von sich, war der Umstand einer gewissen Wunderlichkeit: Sie hatten den Leichnam erst nach mehreren Tagen entdeckt, wie er da hing, mit den Zehenspitzen sein

neues Federmäppchen berührend."

 

Bacher war damit zu Ende gekommen. Kopfschüttelnd griff er nach seiner Kaffeetasse und nahm einen Schluck.

Sonnenschein meinte nach einer Weile: "Vielleicht ist es das Gängelband, an dem unsere Kinder oder wir alle hängen. Das sich da in deinem Traum abgebildet hatte. Die Sache könnte allerdings noch einen anderen Sinn haben. Denn du hast sicher gehört – es ist doch sehr erschütternd –, dass die Menschen, die so total Hand an sich legen, immer jünger werden?"

"Ich bin gestern beim Rasieren darauf gekommen", sinnierte Bacher. Er grinste dem nach, dass dieser Akt bei Nassrasierern – allerdings nur bei diesen – durchaus zu Einsichten führen könne. "Die Toten sind immer Opfer ihrer selbst, bildete ich mir ein. Vielleicht sind sie gewissermaßen auch Opfer der eigenen Trauergemeinde, die trauern will, also Opfer benötigt. Doch das klingt, zugegeben, reichlich abgedreht. Jedenfalls beginnt diese Opferung bereits ganz früh im Leben. Wie dem auch sei. Ich kam nicht mehr davon los, mir die Züge des Jungen, der sich da vom Leben abgemeldet hatte, vorzustellen. Ein möglicherweise unsinniges Unterfangen. Aber siehe da, der Junge wurde mir in meiner Vorstellung immer ähnlicher. Wie ich mich von Fotografien der Firmung und solcher frühen Ereignisse in Erinnerung habe." 

 

Sonnenschein suchte nach Worten. Sie wusste nicht recht, ob sie ihren Cassian trösten solle. Sie wich dem aus und begnügte sich damit, ihn zu fragen, ob er noch Kinderbilder von sich besitze und ob er sie ihr gelegentlich zeigen würde. Ihr Gespräch ging darauf um dieses und jenes, bis es Zeit war, sich zu trennen.

War ihr Abschied auch herzlich, so gingen sie doch einigermaßen nachdenklich auseinander.

 

 

Im Laufe desselben Tages fiel Cassian Bacher ein, dass er vielleicht mit Sonnenschein über die ihn ja immer wieder überkommende Spekulation ums Jenseitige sprechen sollte. Ging ihr letztes Gespräch doch um diese finalen Dinge seiner Erzählung. 

Eine Frau verfährt mit solchen im Grunde nicht fassbaren Umständen möglicherweise anders. In ihrer gedanklichen Mehrschichtigkeit, die ihr neuerdings wissenschaftlich begründet nachgesagt wird, denkt sie darüber vielleicht sogar erfolgreicher. Es handelt sich immerhin um eine enorm weite, vor allem ja um eine unendliche Angelegenheit.  Unendlichkeit, mein Gott! Die Sache mit der Unendlichkeit? Niemand kann sie überhaupt zu Ende denken. 

Jetzt könne er spotten, meinte Bacher, dass deswegen die Angelegenheit bei den Frauen gut aufgehoben sei.

Feige nannte er sich.

Dass Spötter meist Feiglinge sind, hielt er sich vor. Er sagte sich jedoch, dass er sich nicht sozusagen geistig vom Acker machen wolle.

 

 

In der Nacht vom 7. zum 8. Juni fand sich Bacher in einer Pestzeit – ungemein bedrohlich, wie es solchen Zeiten eben zukommt. Vermummte Gestalten. Leichenkarren. Feuer vor den Häusern, um die verpesteten Dünste zu tilgen.

Ein paar Bildschritte weiter hellte alles auf. Er fand sich im Geschäftsviertel einer wohl mittleren Stadt, des allgäuischen Kemptens etwa. Er ging in ein Kaufhaus. Dort suchte Bacher etwas. Es dauerte eine Weile, bis er die Ursache seines Besuchs erinnerte: Ein Ersatzteil für den Staubsauger sollte es sein. Er ging die Regale entlang. Zwei Gestalten tauchten ihm gegenüber auf. Dunkle Typen. Sie tuschelten, gestikulierten, blickten immer wieder umher, sich ruckartig in alle Richtungen wendend. Räuber Hotzenplotz, kam Bacher in den Sinn, als er noch mal hinsah, Kinderschreck, dachte er und lachte, dass ihm die Augen feucht wurden. Er zückte das Taschentuch, nieste hinein, bevor er sich die Augen damit trocknete. Da wandten sich die beiden ab. Ekel war in ihren Gesichtern. Sie schienen zu befürchten, dass Bacher etwas ausschied – in Zeiten der Vogelpest jetzt.

Bacher suchte weiter und wurde tatsächlich fündig. Da war sein Staubsauger. Er begann gleich, das defekte Teil auszutauschen. Als er die Arbeit erledigt hatte, verließ er das Kaufhaus – ohne das Gerät.

Draußen begegnete ihm ein kleiner Trupp Jungen. Vier oder fünf. Einer gab zu, dass er derjenige sei, der Bacher alles kaputtgemacht habe. Bacher stupste ihn mit dem Finger in den Bauch, als führe er ein Florett. Der Junge sank in sich zusammen. Als er sich, aus einer Wunde blutend, wieder erhob, lächelte er. Der Junge fragte Bacher, ob er sich den Gartenschlauch ausleihen könne – den Bacher allerdings bereits in dem Leiterwagen erblickte, dessen Deichsel der Junge plötzlich in der Hand hielt.

 

 

Am 10. Juni erinnerte Bacher, dass er mit dem Boot heute Nacht auf einer Flussfahrt war. Es ging durch ein tiefes Tal. Die Wassermassen hatten es im Laufe der Zeit in die Landschaft geschnitten. Links und rechts waren steile Wände lockeren Materials, Kies- und Sandschichten, gepresst. Doch alles bröckelte an den Rändern. Es schien gewiss, dass nach und nach Massen herabstürzen würden. Tertiär, kam Bacher aus der Schulzeit in den Sinn, Quartär ... und all die Zeiten davor, die ihm jedoch im Vergessen blieben. Seine Gedanken wanderten dennoch weiter zurück. Er versuchte tatsächlich, in eine Zeit zu gelangen, in der auch einmal ein Saurier die Landschaft hier durchkreuzt haben mochte

...

Bei aller Erinnerungsarbeit tat es sonderbar wohl, flussaufwärts, eben dem Strom entgegen zu rudern. Als schön hat er alles empfunden. Angenehm war es, dort alles auf sich einströmen zu lassen und aus den Wäldern und der Luft darüber die vielerlei Geräusche zu vernehmen. Das eine und andere Vogelzwitschern hatte sich in sie gefügt. Frischer Atem. Die Mücken tanzten dicht über dem Wasser. Ab und zu ein Plätschern. Ein Fisch hatte nach einem Insekt geschnappt. Da flog Bacher gleich ein

Hauch Sorge an. Nämlich aus dem Wissen um das Umschlagen des Wetters bei tief fliegendem Mückenschwarm. Weiter! Weiterrudern und wieder in den Genuss des Umweltgeschehens eintauchen. Da! Da, ein durchdringender Laut: Aus einem zunächst fernen Grollen wuchs ein ungeheueres Krachen. Als Bacher seinen Blick in die Richtung des Getöses warf, da sah er eine düstere Wand sich erheben, in rasender Eile auf ihn zukommen, dunkel, donnernd, drohend. Wasser türmte sich vor ihm ganz in der Nähe auf, wälzte sich, schoss den Fluss herab auf ihn zu, die Ufer ertränkend, alles mit sich reißend ... Bacher stemmte sich in die Ruder und versuchte mit aller Kraft, gegen diese sich heranwälzende Gewalt anzukommen. Gleich war er erfasst, emporgeschleudert. Wie durch ein Wunder nicht überrollt und versenkt!, fuhr ihm durch den Sinn und stärkte den Willen zum Widerstand. Auf den Fluten ganz oben mitgetragen, lag er mit aller Kraft in den Riemen. Aufbegehrender Lebensdrang: Tsunami!, schreckte ihm durch den Kopf. Da knackte es links und gleich darauf rechts. Seine Ruderbewegungen gingen ins Leere. Die Ruderstangen waren geborsten unter seiner Anstrengung gegen die ungeheure Gewalt der Fluten. Entsetzt starrte Bacher auf die Trümmer in seinen Händen. Bald war er von den Wassermassen an die Kante getrieben, an welcher der Fluss das Stauwehr hinabstürzte, das donnernde Getöse bereits im Ohr. Ein Geistesblitz: Bacher stieß den spitzen Bruchteil des Ruders, den er noch in der Faust krampfte, in die Unterseite der Wandung des Schlauchboots. Er warf sich auf die andere Seite. Der tosende Abgrund kam näher und näher. Er stieß auch dort das Ruderteil in die Außenhaut. Da schoss die Luft aus den Wülsten der Bordwand und und ... Bacher schwebte auf seinem fliegenden Teppich. Er wurde durch den schieren Düsentrieb der entweichenden Luft emporgetragen. Er entkam emporsteigend dem Chaos. Er konnte es bald tief unter sich erkennen. Über den tobenden Wassermassen schwebend, immer weiter, unter sich die brodelnden, tobenden Wassermassen, die die Ufer erbeben ließen. Sein erhebendes Gefühl begleitete ihn nicht nur, sondern förderte wohl noch seinen Höhenflug auf wunderbare Weise. Er wollte sich gerettet wissen. Er fühlte sich sicher. Er wollte sein Gefährt bewegen. Dazu begann er zu blasen, wunderte sich noch, woher er die viele Luft hatte, brachte sich ungemein wohltuend voran ...  Cassian Bacher fühlte sich gut.

 

Plötzlich ertönte von weither aus der Erinnerung eine Stimme, es gebe heute Erbsen, Bohnen, Linsen ... 

Bacher war darüber fast erwacht, konnte jedenfalls einigermaßen klar den dummen Spruch erkennen. Jenen, der sich bekanntermaßen auf Magenwinde bezog.

Bacher startete mit lautem Lachen in den Tag. 

 

 

Es war noch gegen Mitte Juni. Ein Panzer preschte, eine Staubwolke hinter sich herziehend und vor sich das Erdreich aufwühlend, über eine weite Ebene. Menschen, getriebene, fliehende: Liefen, stolperten, warfen sich zur Seite – wurden erfasst oder entrannen, standen, lagen, wenn nicht zu Tode gekommen, vom Grauen gelähmt. Am Rande der Todesspur der Vernichtungsmaschine, wie angewurzelt, die dem Morden Entkommenen. Den Blick starr auf das fortschreitende Entsetzen gerichtet. Stille Schreie aus offenem Mund und die aufgerissenen Augen darüber. 

Diese Szene entschwand gnädig.

Bacher war jetzt bei einer Gruppe von Jungen. Über frischen Gesichtern große Hüte. Sie befanden sich in einer Stadt. Es war dieses schwäbische Mindelheim. Das hatte in früherer Zeit einen hervorgebracht, der mit Landsknechten sein Kriegsgeschäft mit dem fünften Karl betrieb. Jedenfalls hatten sie da an einer Hausecke am Marktplatz eine mannsgroße Ritterfigur erhöht, Frundsberg. Sie gingen umher, ließen sich am Straßenrand nieder, um eine kleine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Ein Pausenkreis um eine Mulde im Pflaster wurde gebildet. Wenig Verkehr, eigentlich nur ein paar Passanten. Bacher und die Jungen brachen nach einer kurzen Zeit wieder auf. Begaben sich im Ort irgendwohin. Später gelangten sie wieder an ihren Pausenplatz. 

Wasser stand jetzt in der Mulde.  

Bacher war unversehens alleine und wollte sich setzen, um etwas von seinem Brot zu essen. Ein riesiger Hund kam auf ihn zu: groß wie ein Kalb, helles Zottelfell. Er wollte vermutlich etwas abhaben, wurde jedoch aus der Ferne energisch zurückbefohlen. Bacher sah, dass da ein Mann war, der noch so ein großes Tier führte. Dann belebte sich die Straße. Viele Menschen. Eine Fußgängerzone entstand. Jedenfalls waren da keine Autos auszumachen. Aus dieser Menge dröhnte mit monotonem Choral eine Gruppe hervor. Sie schlängelte sich so dahin: rote Talare mit etwas kürzeren weißen Hemden darüber, Fahnen, Kreuze und andere Andachtsgegenstände. Das bisschen Melodie ging in gleichförmige Wortketten über, die sich aus kaum bewegten Lippen hervorquälten. Dann doch wieder schütterer Gesang, jetzt von einer breiten Blasmusik geschleppt. Eine Prozession, wurde Bacher klar. Gleich tauchte da eine noch bunter kostümierte Erscheinung auf. Wohl ein Bischof, unter einem von vier schwarz gekleideten Männern gehaltenen Tragehimmel. Diese Figur entwich ihrem schützenden Dach, schwang sich jäh auf, erklomm an der Fassade hinauf ein hohes Gebäude, stand schließlich auf den Zinnen. Ihr Haupt war nun statt der Mitra mit einer großen, schwarzen Fellmütze bekrönt. Jetzt begann diese Erscheinung dort weit oben zu treiben. Sie wuchs zusehends, wucherte erschreckend kolossal aus – und hob gleich an, eine Rede über die Menschenmenge hinweg zu schwingen. So eine, die alle hören mussten, aber nicht begreifen sollten. Dieses Gebilde beugte sich bei seinem Geschäft gestikulierend weit nach vorne. Bacher erwartete bereits, ja sehnte das Herabstürzen des Monsters herbei. Das Ungeheuer hielt allerdings seine Position entgegen der Natur. Das Ungeheuer hatte sein Auge in die Ferne gewendet, war jetzt zu erkennen. Bacher folgte den Blicken und sah dort im Dunst des Horizonts ein großes Flugzeug kreisen. Es konnte sich jedoch durchaus um einen riesigen Vogel gehandelt haben, der dort seine Schleifen zog. Um sich dann vielleicht auf eine Beute herabzustürzen. Die Predigt wurde jäh abgebrochen. Mit nur wenigen, ungemein behänden Sprüngen klomm die Gestalt die Fassade herab. Sie sieht jetzt aus wie Santa Claus von Cocacola, dachte Bacher in den Applaus der Menge hinein.

Dieses Bild flippte weg. 

 

Bacher fühlte sich augenblicklich auf der Flucht. Sie waren hinter Bacher her. Er rannte, rannte wie um sein Leben. Es ging über ein Stoppelfeld. Sie hinter ihm her. In einem Auto. Sie kamen näher. Er über einen Bachlauf hinweg. Auch sie hatten den Graben gleich überwunden. Mit einem kurzen Blick nach hinten erkannte Bacher: Jetzt war einer aus dem Fenster gelehnt, eine Waffe in der Hand. Bacher weiter, vom Horror zu riesen Sprüngen getragen. Schon hörte er Schüsse. Kurz, trocken. Er schlug einen Haken. Er wollte damit der Kugel ausweichen. Bei seinem Ruck zur Seite sah er den mit der Pistole. Fliegende, helle Haare über einer mordgeilen Fratze. Der Horror trieb Bacher voran. Hinter ihm die Schüsse aus der Knarre des Schurken. Immer näher kam das Knallen. Bacher warf im Weiterrennen den Kopf herum. Er erfasste die Fresse wieder für Bruchteile einer Sekunde. Jetzt meinte er, sich an diese Visage erinnern zu können. Ein Bekannter. Der, ja der Protz aus dem Arbeitsteam, blitzte ihm auf. Die Wut verband sich mit der Angst und trieb Bacher weiter voran. Wieder Knallen. Da! Vor ihm tauchten Dächer auf. Rettung? Pferde auf einer Weide. Bacher flog fast dahin und schwang sich auf eines von den Vierbeinern. Noch die Schüsse, jetzt noch dichter hinter ihm. Bacher schlug dem Tier die Hacken in die Flanken. Es galoppierte auf, jagte davon. Bacher gewann Abstand. Und die Schüsse verhallten allmählich. Sie waren in immer größerer Entfernung nur noch als sonderbares Knacksen zu vernehmen. Erleichterung. Bacher begann, den nackten warmen Körper zu genießen, der ihn davongetragen hatte. Erlösung. Bacher fühlte sich befreit und rundum gut. Er ließ austraben, hielt an. Dann rutschte er von diesem braunen Fellberg herunter. 

Sofort schrak er auf. War da nicht doch wieder so ein sonderbares Knacksen gewesen. Wie das Geräusch von den in der Entfernung abgefeuerten Schüssen? 

 

Ach ja, Bacher hatte den Wecker abgestellt gehabt, dass da nur dieses Einrasten vom Läutmechanismus zu vernehmen gewesen war. Er dämmerte wieder ein wenig weg. Im Halbschlaf kam es ihm dann, dass da doch noch dieser Höcker von seiner Flucht zwischen seinen Schenkeln war. Er streichelte dieses Kamel – als welches er seinen Wohltäter jetzt erinnern wollte.

 

 

Am 13. Juni war Sunny – wie er sie jetzt auch nannte – wieder bei Cassian. Sie saßen lange beieinander, hatten geplaudert und sich einen Film im Fernsehen angesehen. Weil es damit zu spät zu ihrer Heimreise geworden, es ihnen allerdings ganz einfach danach war, verbrachten sie miteinander eine – allerdings etwas unruhige – Nacht.  Am Morgen begann sie, in seine Schläfrigkeit hinein zu erzählen:

"Heute Nacht war ich eine Nonne ..." Er lachte laut auf und war gleich hellwach. Sie warf ihm nur einen lieben Blick zu und fuhr fort: "Eigentlich hätte ich ja eine Bäuerin werden sollen. Wir lebten in dürftigen Verhältnissen. Die Eltern hatten für uns sechs Kinder gerade das, wenn auch nicht immer reichliche Essen. Das heißt, Bäuerin hätte ich nur werden können ... – Meingott, wie weit war da mein Traum in der Zeit zurück, wohl Jahrhunderte! – Also, Bäuerin wäre ich nur geworden, wenn mich ein Bauer geheiratet hätte. Oder ich ihn ... – lief das in dieser Zeit überhaupt anders herum? Wahrscheinlicher wäre ich nur zu den Bauern geschickt worden, um für das Essen, selber noch Kind, auf Kinder aufzupassen. Um später zum Hausmenschen aufzusteigen – wie sie Dienstmägde, die im Haus zu arbeiten hatten, nannten. Ich kann mich ganz deutlich daran erinnern, dass ich bereits von zu Hause weggeschickt worden war. Da kreuzten dann allerdings immer wieder Abfolgen meiner – oder ganz allgemeiner oder welcher Herkunft auch immer – albernen Mädchenträume auf: so wie der, dass dieses dornige Alltagseinerlei, von einem dieser zahlreichen Märchenprinzen durchdrungen würde. Der unvermeidliche erlösende Kuss dann ...

Weiß Gott, man schämt sich ja gelegentlich seiner Träume.

Und was war das doch für eine einzige Nacht!  Oder geistert es da aus mehreren Nächten in mir herum?

Vielleicht war es zu einem anderen Zeitpunkt in meiner Zeit überhaupt. Oder wenigstens der Zeit meiner Nacht. Jedenfalls fand ich mich in ein langes Gewand gehüllt, auch mit beschleiertem Kopf. So verhüllt, dass weder unten die Beine noch oben die Haare zu erblicken waren. Ich bewegte mich in einer Gesellschaft, die ähnlich verhüllt war. Ich weiß jetzt nicht, war ich im Orient, wo sie behaupten, dass es Sünde sei, wenn Frauen ihre Haare als Attribut der Fraulichkeit zeigten? – Träume schicken einen ja überall hin und scheinen auf die wache Logik zu pfeifen", flocht sie ein. "Ich habe immer etwas geschleppt, fällt mir ein. Es war nicht etwa ein größerer Gegenstand. Nein, ich kann mich nicht erinnern, überhaupt etwas in den Händen gehalten zu haben. Ich weiß im Augenblick nur – oder ich vermute es –, dass ich mich anstrengen musste. Es drückte mich nieder. Ich litt richtig, Schmerzen am ganzen Körper, Atemnot. Diese Schwere im Traum war vielleicht das Leben – als nichts weniger als solches ..."

"Der Traum als philosophisches Unterfangen!", warf er in einem Ton ein, bei dem nicht gleich klar war, ob er spotten wollte. "Entschuldige bitte!", sollte ihn von diesem Verdacht befreien. Sie nickte nur und fuhr fort: "Und Männer? Nein, da waren nirgends Männer. Oder richtige Männer. Es war beinahe zum Lachen. Diese Gestalten hatten auch lange Gewänder an. Sie taten so, als seien sie Männer, indem sie fester auftraten – es wenigstens versuchten ... und solche Sachen ...

Männer, ach ja, im Kopf, wo die Männer bei den Frauen erschaffen werden, im Herzen vielleicht sogar ...

Ich weiß nicht mehr so genau. Mit diesen nächtlichen Abläufen im Bewusstsein kann man es eben nicht richtig wissen. Sie wollen das vermutlich gar nicht, dass sie gewusst werden. Sie wollen auch nicht bleiben und kommen eben nur mal kurz zu Besuch und gehen dann gleich wieder. Wie es sich für einen anständigen Besuch eben gehört ...

Ach, jetzt weiß ich es wieder!

Da kam eine so wie ich vermummte Gestalt auf mich zu. Sie legte einen barschen Befehlston vor, als sie mir ein Sieb reichte und mir befahl, damit Wasser in den Eimer zu schöpfen, der da stand.

Da habe ich mich wohl in einem Kloster befunden.

Ach, ist das nicht die Geschichte von einer kleinen Heiligen? Wie hieß die doch gleich wieder? Ich weiß es im Moment nicht. Das alles wurde uns ja in

der Religionsstunde erzählt ..."

 

Sonnenschein schwebte wohl eine ganze Weile dieser zwar ihr noch namenlosen, doch vorgeblich himmlischen Person hinterher. Jedenfalls war sie nach ihrem Traumausflug nicht gleich zu erreichen. Das respektierte Bacher und machte sich davon, um sich tagtauglich zu richten und gastgeberischen Pflichten nachzukommen.

 

Er hatte bald den Tisch gedeckt war sogar verschwunden gewesen, um Brötchen zu besorgen. Sie saßen dann beisammen und frühstückten. Danach waren selbstverständlich die Alltagsgeschäfte zu erledigen, die sie trennten.

 

Zwischen die angenehmen Erinnerungssplitter der vergangenen Nacht nistete sich bei ihm eine Frage ein: Wäre das mit ihrem traumhaften Nonnesein nicht etwa ein Einstieg für ein Gespräch um diese jenseitigen Dinge gewesen? 

Das sollte ihn verfolgen. Er habe die Zeit verstreichen lassen, warf sich Bacher doch tatsächlich wiederholt vor, Sunny seine Gedanken zu verraten. Ihm sei es nicht gelungen, sich zu outen, dass er sich mit so etwas überhaupt befasse. Dass es ihn sogar umtreibe. 

Es ist allerdings irgendwie unangenehm, redete er sich heraus. Welcher Alltagsmensch spricht denn je über das im Grunde Unfassbare? Den Leuten ist es geradezu peinlich. So etwas gehört in das Register des Unaussprechlichen, vielleicht sogar Undenklichen.

So also weiter im Alleingang, bestimmte er sich. Vielleicht entsteht auf diese Weise etwas. Er sah es als Auftrag an, den er sich selber erteilt hatte. Er bespöttelte sich sofort selber als einen selbst-gebastelten, home-geworkten Chef. Er packte die Sache trotzdem an: Vom All wollte Cassian Bacher heute ausgehen – diesem unendlichen!, bestaunte er seinen Einfall selber. Doch das ließe sich an der immerhin eifrig um Beweislichkeiten bemühten Astronomie festmachen und erwecke nicht gleich den Eindruck des immer schleierhaften Religiösen. Das All also. Es kam Bacher so wunderbar weit vor und unergründlich, allen Erkundungen davonlaufend, immer weiter ins Unergründliche, dass es vor seiner Besetzung noch gar nicht gab ... Du lieber Himmel, stöhnte er, was für eine Vorstellung! Aber sie ist sogar irgendwie durch die Erkenntnisse der gescheiten Sternengucker gedeckt, soweit eben ein Laie folgen kann. Er lachte: Es ist den Nichtfachleuten also auch nur eine Glaubensangelegenheit! 

Bacher bestimmte sich schließlich doch, jetzt bereits in gewohnter Weise, wenigstens vorerst wieder die Finger davon zu lassen. 

 

 

Ein paar Nächte später war Bacher mit einem Anhänger unterwegs. Ein großes, ziemlich verbrauchtes Ding war es. Eines, bei dem es vom Alter her an diesem und jenem Bauteil nicht mehr mit der TÜV-geforderten Beschaffenheit bestellt war. Da war gleich die Polizei da! Sofort war die Kelle oben.

Rechts raus. Die Papiere. Bacher musste aussteigen. Ein Beamter fuhr mit Bachers Gespann davon. Ein anderer rügte dabei wortreich den schlechten

Zustand des Gefährts. Sie blickten hinterher – und Bacher dann auf den Polizisten. Er erkannte ihn augenblicklich. Bacher stellte fest, dass das Vehikel ihm, dem Polizisten, gehöre und er, Bacher, es sich doch von ihm geborgt habe.

Da gratulierte der Polizist Bacher. Er drückte ihm eine Bassgeige, die er flink aus seiner Aktentasche hervorgezogen hatte, in die Hand. Damit war er verschwunden.

Bacher wollte seinen Hut mit der offenen Seite aufs Pflaster stellen und zu musizieren beginnen. Er hatte festgestellt, dass er sich in Münchens Fußgängerzone befand und viel Volk vorüberflanierte. 

 

Bacher tastete – jetzt fast wach – auf seinem Kopf nach dem Hut, merkte aber bald, dass er natürlich barhäuptig war. Da er sich seines Traums vor sich selber schämte, kratzte er sich, wo er eben noch nach der Kopfbedeckung gesucht hatte. So als habe er etwas Unsinniges vor Anderen zu kaschieren.

 

 

Am 20. Juni erinnerte sich Bacher, einen Roman gelesen, nein, doch eher nur darin herumgeblättert zu haben. Wie in einem Katalog: Der Text hatte sich ihm in Szenen umgesetzt gehabt. Von Bild zu Bild hüpften die Augen. Es musste die, wie sie sagen REM-Phase gewesen sein. Der Sinn des Erblickten folgte den springenden Augen sozusagen leichtfüßig. Wie eben Leichtsinn sonst: "Custardo zog die Nase hoch, vielleicht ein leichter Frühjahrsschnupfen, obwohl er den Moden folgte, war er nicht der Typ, der unter Heuschnupfen litt, das war spießig." Oder so ähnlich hatte es in seiner Abendlektüre geheißen.

Was tut sich da alles auf?

"Mein Herz so weiß", lag noch auf Bachers Nachttisch. Wieder so ein Gemälde. Was mochte es sein? Es widersprach sich zunächst, wenn es einen überhaupt ansprach. 

Eine Skizze, die sich widersprach! Denn das Herz wird gemeinhin als etwas Rotes dargestellt, rügte Bacher. Weshalb sollte er sich also auf dieses Weiß einlassen? 

In gewissen Kulturen, der alten Ägypter beispielsweise, stellte das Herz den Sitz nicht etwa nur des Fühlens, sondern auch des Denkens dar (wenn ich richtig informiert bin, schob Bacher sich selber nach) ... Oder sollten die Leser bei dem genannten weißen Herzen etwa auf Reinheit schließen?  Javier Marias wollte sich diese Farbe des Organs jedenfalls auf diese Weise vorstellen.

Ein Bild von diesem Menschen bildete sich Bacher. Es ging allerdings sehr zaghaft voran damit. Denn da schlich sich etwas enorm Biblisches ein: "Du sollst dir kein Bild machen ...", freilich vom Schöpfer. Aber da der Mensch sein Ebenbild sein soll ...  Aufhören!, befahl sich Bacher. Denn da erschien wieder so etwas Bildhaftes – und im Augenblick als Frage: Ist es nicht ungebührlich, ... Wenn man die Fratze der Menschheit vor Augen hat, die sie wenigstens zeitweise ... Was sich da eben alles auftat!

Sich von seinen Gedanken in andere (vielleicht sogar Geistes-)Welten entführen lassen? Oder sich auf die Ebene der Katalog-Betrachtung begeben? Mein Träumen, ereiferte sich Bacher, ein Blättern im Katalog meiner verfallenen Wahrgenommenheiten?

Fragen über Fragen! Auch hierin wieder eine Bildhaftigkeit: des Betrachters, respektive Fragenden, der in einer richtungsfreien Geistigkeit zu schweben begann.

Vorausgesetzt, ich lasse mich überhaupt darauf ein, indem ich mich dessen bewusst mache, dachte sich Bacher.

Es mochte an der neuen Brille liegen, die sie ihm gestern ausgehändigt hatten. Die Buchstaben verschwammen an den Rändern, bewegte er den Kopf oder auch nur die Augen.

Doch fragt denn das Nachtgeschehen überhaupt je, ob es sich ereignen darf?, distanzierte sich Bacher von den eigenen Einfällen.

 

 

21. Juni, Berlin. Das Reichstagsgebäude. Jemand hatte es – Bacher meinte mit Klopapier – umwickelt. Er widmete sich diesem unwürdigen Anblick jedoch nur flüchtig und wandte seinen Blick gleich ab. Die Apfelbäume auf der großen Wiese vor dem Komplex waren ihm aufgefallen – zogen ihn nachgerade mit ihrer ganzen natürlichen Versöhnlichkeit an. Der Eindruck drängte sich ihm geradezu auf, dass er diese gärtnerische Kultur selber begründet habe. Das befriedigte ihn ungemein, ja, es machte ihn ein wenig stolz. Diese versöhnende Natur erhalten, gerade hier!, durchfuhr es ihn. So begann er umgehend, die Pflanzung mit einer Gießkanne zu wässern, die da, metallen und verbeult, gleich zur Hand war. Als er damit fast fertig war, gewahrte er jedoch statt der Bäume Salatpflänzchen. Sie waren ordentlich in Reih und Glied gesetzt. Ein großes Beet breitete sich da vor seinem Auge aus. Bacher wunderte sich eigentlich gar nicht über diesen Wandel, der ja immerhin einer erheblichen Mutation gleichkam. Er sagte sich, es könne leicht sein und ist jedenfalls nicht von vornherein auszuschließen, dass er auch dieses sozusagen weite Feld angelegt habe. Bacher hatte gar keine Zeit, dem weiter nachzugehen, denn er musste feststellen, dass diese zarten Gewächse dem Verwelken nahe waren. Das ging ihm ans Herz. Natürlich hat er sich der Pflänzchen erbarmt und hat sie begossen. Kanne um Kanne, ein wahrlich mühsames, doch letztlich befriedigendes Geschäft.  Als er damit nahezu fertig war, marschierte eine Kompanie Soldaten, von ihrem Tschingderassassa vorangetrieben, heran – und für so eine Formation selbstverständlich unaufhaltsam über Bachers eben erquickte Pfleglinge hinweg. Den Helmen nach waren es Russen. Bacher sah ihre Parade, um die es sich bei näherem Hinsehen handelte, sofort als erforderlich an. Er stand stramm. Er führte die Grußhand kurz zum Hutrand. Er klatschte Beifall, nachdem er die Grußhand wieder weggeführt hatte und entsprechend verwenden konnte.

 

Vergeblichkeit, Bachers Eindruck beim Erwachen an diesem Tag. Es wollte sich einnisten und sich obendrein als Laune festsetzen. Eine Depression?, fragte er sich. Heute haben die Menschen, wurde festgestellt, solche gelegentlich krankhaften Niedergeschlagenheiten. Sie haben keine bloßen, als Charaktermangel denunzierten schlechten Launen mehr!, versuchte er, sich davon kritisch wegzubringen. Aber er habe ja die Ursache der Vernichtung seines Werkes, den Marsch der Kolonne, als einfach gegeben angenommen und sogar mit Beifall bedacht. Das holte ihn in seine Tiefstimmung zurück. In diesem Zustand half es nicht, die Angelegenheit auf Formel zu bringen und sie sich laut herzusagen: "Das ist im Leben so und hat als normal zu gelten, dass alles Entstandene auch vergeht". 

Etwas später erinnerte er die auf den besagten Berliner Reichstag bezogene Bildmontage, die er in einer Zeitschrift gesehen hatte. In seine sofort aufkeimende Häme hinein malte Bacher das Bild nach. An den vier Ecken des Reichstagsgebäudes hatten die (er erinnerte russischen) Spötter Muezzintürmchen montiert; das Feld davor war verkahlt, worauf die Witzbolde einen kleinen Trupp abbildeten: Einen Esel mit Holzprügeln beladen und von einer gebeugten, orientalisch vermummten Frau mit beiden Beinen zu einer Seite beritten, umgeben von einigen zerlumpten Gestalten.

Bacher empfand, zunächst ganz ungeniert, eine böse Freude über diese Karikatur. Das war ihm Medizin und hob ihn aus seiner gedrückten Stimmung. Er verstärkte sich diesen umgehend sich als Wohlgefühl einrichtenden Zustand. Er unterlegte diese Bosheit entgegengesetzt mit einem für den aufgeschlossenen Bürger an dieser Stelle pflichtbewusstem Fremdschämen.

Ein toller Mix!, wunderte er sich später, nach ausgiebigem Genuss desselben über sich. Er begoss das mit etlichen Gläschen schärferer Flüssigkeit.

 

 

Am 26. Juni verwickelte sich Bacher selber am helllichten Tag in ein Bündel von Fragen: Lässt mich der Traum in die Schubfächer meines Alltags blicken?

Lässt er mich gar darin herumkramen? Lässt er die Erfassung auch nur eines Zipfels meiner Wirklichkeit zu?

Warum presste ich aber mein Dasein in Fächer? Warum hätte ich mich mit einem Ausläufer des Tatsächlichen zu begnügen?

Und wie komme ich überhaupt dazu, dem Traum und meinem Leben solche Fragen zu stellen? Ich will doch nur meinem All-Problem – wie ich es bereits nenne – ausweichen. Wobei ich mich schnell damit rechtfertige, dass die Freiheit des Traums wohl gar nicht das schlechteste Milieu ist, diesen grenzenlosen Dingen nachzuspüren. Ich schwinge mich jedoch auf, etwas zu unternehmen. Ich stelle in all meiner Begrenztheit immer wieder etwas fest und fixiere es in einer Art Protokoll: All-Möglichkeit und All-Begründung drängen sich mir seit einiger Zeit begrifflich geradezu auf. Wobei in diesen Wortgebilden nicht gar nur das astronomische All gemeint ist. Die Dreieinigkeit, von der ich als sozusagen christlich getönter Zeitgenosse wohl auszugehen habe, taucht da auf. Ich will sie dann im bescheidenen Rahmen meiner geistigen Verhältnisse und Möglichkeiten zu erfassen versuchen. Sie mit ihrer Allmöglichkeit, ihrer Allesbegründung ... Diese in ihrer Urelternschaft dargestellt ... 

Sollte ich sie vielleicht als Allelter bezeichnen? Aber wieder: Darf ich mir denn ein Bild machen?, hieß es ihn, es abermals sein zu lassen. Allerdings wurde das von ihm heute damit unterlegt, dass es ihm vom Traum in dessen freier Weise einmal serviert werden würde. So wie ihm das mit der Angelegenheit um den Tod bereits geschehen war.

 

 

Fast Ende Juni erschien da irgendwer, seinem Gehabe nach Bedeutender. Dessen Vorsteher-Blick, der aus einem Selbstüberzeugtsein herausschnellte, traf Bacher, so dass sein Schlaf unruhig wurde. Bacher kannte diese Person jedoch nicht. So handelte es sich eben um eine namenlose überbelichtete Person. Wobei Bacher dieser Umstand der Unbenanntheit allerdings als für diese Spezies überhaupt äußerst ungewöhnlich erschien und ihn sogleich wieder beunruhigte. Wie dem auch sei, Bacher sollte vermutlich aus ihrer Hand eine Urkunde erhalten, eine Auszeichnung, wenigstens eine Anerkennung, zum Beispiel für eine lange währende Mitgliedschaft oder so etwas. Dieser Mensch hatte Bacher seine Gabenextremität bereits, und zwar natürlich mit dem erwarteten Blatt entgegengehalten. Bacher war selbstverständlich bereit, das Dokument zu empfangen, mit all der wonnigen Beklommenheit, die eben einen solchen Akt begleitet. Doch siehe da! Es kam ein Vogel geflogen und schnappte sich das Papier. Er war bereits mit nur wenigen, allerdings äußerst kräftigen Flügelschlägen sogar allen Blicken entschwunden.  Bacher glaubte eine Zeit lang, aus der Ferne das niedliche Kinderlied, zu vernehmen: "Kommt ein Vogerl geflogen, setzt sich nieder auf mein’ Fuß, hat ein Zetterl im Schnabel, von der Mutter einen Gruß ..." Es klang allerdings doch einigermaßen merkwürdig, durch markige Stimmen eines Männerchors vorgetragen.

 

Mehr noch irritierte Bacher – sogar beim Erwachen noch –, dass es sich bei der Wegnahme seiner mutmaßlichen Würdigung um die Ungebührlichkeit einer Elster gehandelt hatte. Bacher amüsierte sich noch darüber, dass alle diesem Rabenvogel zwar ein starkes, auf glänzende Gegenstände gerichtetes Raubverhalten nachsagten. Dass ihn jedoch niemand als "Vogerl" bezeichnete und ihn gleich gar nicht als Überbringer von Botschaften besang. Trotzdem pfiff er das Liedchen aus Kindertagen vor sich hin. Es tat ihm wohl.

 

 

29. Juni

Zwei Gestalten waren im Hintergrund auszumachen gewesen. Lange Hemden, Bärte – richtig abgerissen sahen sie aus. Sie mochten aus einem Altenheim ausgebüxt sein, meinte Bacher. Eine von jenen Anstalten, die immeraktive Bedenkenträger und daraufhin die Presse seit einiger Zeit im Visier hatten. Wo sich beispielsweise das als nachlässig bezichtigte Personal jetzt wohl gar ersparte, die Rasur an den Senioren vorzunehmen ...

Die beiden schienen sich in der Wolle zu haben. Jedenfalls war heftiges Gestikulieren zu beobachten.

"Moses und Aron", hörte es Bacher neben sich.

Bacher konnte niemand ausmachen, glaubte der

Stimme jedoch aufs Wort. Er ging darin noch einen

Schritt weiter, indem er annahm, dass der Einsager

(es war eine männliche Stimme gewesen) dieser Arnold Schönberg war. Sie hatten gerade in München dessen Oper einschlägigen Titels aufgeführt. Jetzt erhellte es sich ihm auch. Da war diese biblische Behauptung mit der Bilduntersagung: "Du sollst dir kein ..." und die Uneinigkeit der beiden biblischen Brüder in dieser fundamentalen Angelegenheit.

Bacher nahm an, dass die Stimme noch in der Nähe weilte, und fragte, ob er sich des Namens Arnold Schönberg bedienen dürfe. Er plane, verriet er dem Einsager von vorhin, sich den beiden doch recht bedeutenden Herren, Moses und Aron, als Arnold Schönberg gewissermaßen ebenbürtig als ein Prophet vorzustellen (obendrein ja dann zudem auf eine besondere Weise verwandtschaftlich verbunden). Wenn auch nur, aber immerhin als Prophet der neuen Musik, welcher der geniale Arnold gewiss sei. 

Es wurde Bacher gestattet, ergänzt durch die Einlassung, dass er, Arnold Schönberg, diese Identität gar nicht mehr wirklich benütze. Denn seine Töne und Werke überhaupt sprächen ja ausreichend und vor allem nachhaltig für ihn – oder besser für sich selber. Er setzte zu Bachers Überraschung hinzu, dass er seine Namen-zur-Verfügung-Stellung als ein Tauschobjekt betrachte und Bacher ganz einfach daraufhin sein dreizehnter Ton sei. Bacher war sich jetzt gewiss, dass er es mit dem Meister der Zwölftontechnik, diesem Schönberg, höchstpersönlich zu tun habe.

Einigermaßen verwirrt darüber, ob er sich auf ein gutes Geschäft eingelassen habe, ging Bacher gedanklich in die Richtung, in der er die beiden alten Streithähne zu treffen hoffte. Das mit der Bildlosigkeit wollte Bacher von Moses genauer wissen. Vielleicht wollte er sogar Aron ein bisschen recht geben mit seiner Behauptung, dass die Leute mit ihrem (nach Th. Mann) Leuteverstand sich halt mit Bildern ihre Meinung zu bilden trachteten. (Bacher hätte dann die Kurve zu bekommen versucht, indem er dem Aron vorgehalten haben würde, dass das mit dem Goldenen Kalb, das Aron zur Anbetung freigegeben hatte, gewiss auch wieder etwas zu weit gegangen wäre.)

"Gestatten, mein Name ...", wollte Bacher sich wichtig manchen. Da war allerdings niemand mehr anzutreffen ...

 

Vielmehr war Bacher erwacht. Er dachte sich gleich, dass diese Begegnungen heute Nacht mit seinen Tagträumen von der Suche nach dem Oben der alten Frau zusammenhingen. Er war fast ein wenig amüsiert darüber, was sich daraus für ihn alles entwickelt hatte. Dass das also bereits so tief in ihm steckte und ihn sogar während seines Schlafs verfolgte. Darauf goss er sich ein Gläschen ein.

 

 

Ende Juni hatte Sonnenschein wieder bei Bacher vorbeigeschaut. Sie hatte mit Kindern zu tun gehabt. Sie erzählte Bacher, dass sie sich noch gestern Abend daran erinnert habe, wie sie sich mit Freunden in einem der heißen, trockenen Sommer der vergangenen Jahre beim Segeln und Baden befunden habe. Die kleinen Seen seien bereits mit Algen fast ganz überzogen gewesen. Sie wollte noch das Bild vor Augen haben, das einer ihrer Begleiter abgab, als er aus dem Wasser stieg. Er war in seiner Behaarung am Kopf völlig Algen-begrünt. Er habe wie ein Wassergeist ausgesehen, so einer, wie er gelegentlich in Märchen auftauche.

Sie habe sich da etwas erträumt, ganz wach, verstehe sich!, betonte sie. Ein kleines Geschichtchen. Da sie dieses ihren Schulkindern erzählen wolle, solle es Bacher erst einmal hören:

"Käpten Grünbart möchte mit seinem Segelschiff nach Afrika. 

Er will große und kleine Affen fangen. Die will er alle im Zoo in Augsburg abgeben. Dafür hätte er vom Herrn Zoodirektor gerne was von dem vielen Gold abgekriegt. Alle Welt weiß ja, dass der Herr Direktor neulich bei Nacht im Elefantengehege einen Schatz ausgegraben hat. Jedenfalls hat das so in der Zeitung gestanden. Käpten Grünbart will sich dann mit dem Gold was zum Trinken kaufen, weil er immer so viel Durst hat. Vielleicht will er noch was anderes mit dem Gold, das dann noch bleibt, wenn er keinen Durst mehr hat. Jedoch zunächst will er eben das – und ein wenig liederlich leben.

Käpten Grünbart schippert also los mit seinen ganzen Matrosen (Beulenkopf, Dünnkiff und wie sie alle heißen, bis alle fünfe beisammen sind).  Er soll allerdings diesmal sehr lange auf dem Meer unterwegs sein. Oder eher nicht unterwegs, wie sich jeder vorstellt, dass man sich da bewegt. Denn er steht da fast mit seinem Schiff rum auf dem Wasser. Jedenfalls für lange Zeit immer wieder.

Oder wie man da sagen soll. Wasser, nichts als Wasser und kein Land in Sicht. Das ist so mies, weil der Wind in letzter Zeit so schwach bläst. Die freundlichen Delfine, die Käpten Grünbart sonst immer angeschoben hatten, wenn da mal Flaute war, die sind zurzeit ganz wo anders, weit weg (und zwar bei einem Käpten, der nicht immer so viel Durst hat und Alkohol trinkt, jaja).

Irgendwann kommt der Käpten Grünbart mit seinen

Jungs, Beulenkopf und den andern, dann doch in Afrika an. Gerade rechtzeitig, denn die Jungs, besonders Dünnkiff, waren ja ganz sauer und hätten Grünbart am liebsten mal ordentlich sonst wohin getreten. Alle sind ziemlich froh, als sie Anker werfen können. Sofort machen alle sich fein und auf, um an Land zu gehen. Sie haben sich sogar ein wenig gewaschen. Was sie sonst bei dem vielen Wasser um sich rum immer eher vermeiden. Doch sie wussten ja nicht, ob sie an Land nicht jemandem begegneten. Einem der vielleicht eine feine Nase hat und auch die dunklen Ränder am Hals bei ihnen nicht leiden mag.

Sie setzen sich in das kleine Ruderboot, das zu dem Segelschiff gehört. Sie rudern mit aller Kraft, die sie noch aufbringen können bei ihrem Durst, den sie alle seit etlichen Wochen haben. 

Und sieh an! 

Sie sind kaum aus ihrem vergammelten Boot, in das durch alle Ritzen das Wasser dringt, an Land. Sie halten gerade Ausschau, ob da nicht irgendwo einer am Strand eine Kebapbude aufgemacht hat. Wo sie was zum Futtern und zum Schlucken kriegen könnten.

Aber zum Donnerwetter, was ist denn da? Sie können zwar vor Hunger und Durst gar nicht mehr richtig sehen oder es kann auch die Hitze sein, dass es ihnen vor den Augen flimmert. Doch das große Ding da vorne nehmen sie noch irgendwie wahr.

'Das sieht ja aus wie ein Berg!', schreit einer. 'Mensch, dieser Berg steht aber gar nicht, wie das eigentlich ein richtiger Berg sonst macht!', gleich drauf ein anderer. Mensch, keiner kann verstehen, dass sich das Monstrum bewegt! Es kommt noch näher und wird immer größer – wie das eben bei großen Sachen so ist, die näher kommen. Dem Käpten Grünbart seine Jungs, Beulenkopf und Dünnkiff und die anderen, türmen und schmeißen sich in ihr vollgesoffenes Boot. Sie merken gar nicht, dass da bereits so viel Wasser durch die vielen Lecks gelaufen ist, so viel Schiss haben sie. Der Käpten Grünbart ist noch nie einer von denen gewesen, die immer alles gleich und ganz schnell kapieren. Niemand soll ihn allerdings gleich Dumpfbacke nennen. Heute jedoch und unter den gefährlichen Umständen, wo da so ein riesiges Ding auf ihn zu kommt, da hakt es bei ihm im Kopf ganz aus. Er steht da und versteht gar nichts mehr. Wenigstens für kurze Zeit ist das so. Schließlich geht ihm doch noch ein Licht auf. Ganz schwach dämmert es ihm zunächst. Dann allerdings leuchtet es ihm doch ein, und zwar einigermaßen deutlich: Was da auf ihn zukommt, das ist ja ein sehr großes Tier, ein riesengroßes, ein graues supermaximal großes Tier. Vorne ist bei dem grauen Ungeheuer so ein langes Ding dran, das jeder leicht Rüssel nennen kann, erinnert er sich jetzt sogar. Das lange Ding baumelt jetzt hin und her, weil das gigantische Tier richtig schnell zu rennen begonnen hat.  Na, was soll man da noch sagen? Jeder hätte das Prachtstück, das da daher trampelt, sofort erkannt. Aber bei Grünbart hat das eben eine Weile gedauert. Als er es dann ganz kapiert hat, dass es eben nichts mit den Affen und dem Schnaps werden würde und dass er sich doch allmählich aus dem Staub machen müsste, denn gegen den Riesen da, der verflixt nah ist, würde er gar nichts ausrichten können – und mitgenommen nach Augsburg würde er, der graue Riese, ganz bestimmt nicht werden wollen ... Lauter Quatsch von der Sorte ist da dem Grünbart durch den Kopf gegangen, statt dass er sich schleunigst verdrückt hätte. Der Käpten hat eben riesig Angst gehabt. Wenn er Zeit gehabt hätte, etwas herumzuschnuppern, da hätte er auch gerochen, dass die Angst bereits ganz schön in seiner Hose gewesen ist ...

In der ganzen Krise hört er dann noch hinter sich, so zwischen Meer und Elefant ein Trappeln oder Trampeln oder so ein Geräusch. Wie das näher kommt, erkennt er ja für seine Verhältnisse ziemlich bald den Hufschlag eines Pferdes. Jetzt blitzt es in seinem sonst ja etwas dämmerigen Kopf auf. Einen rettenden Einfall hat er sogar. Und gut, dass der Käpten Grünbart früher kurz bei den Bauern gearbeitet hatte, er kann nämlich reiten (was für einen Seemann so ungewöhnlich ist, wie dass so einer schwimmen kann). Nichts wie den dicken Hintern auf das Pferd geschwungen und weg von dem anscheinend vielleicht sogar wütenden Elefanten. Denn dass der graue Riese so übel drauf war, leuchtet Grünbart dann auf dem Rücken des Pferdes doch ein. Weil ein Einfall auch bei Grünbart selten allein kommt, geht ihm noch auf, woher die Wut von dem Elefanten rühren musste. Ein Elefant ist sehr gescheit und kann sich alles gut merken, neidete ihm Grünbart, sogar bei seinem Wegreiten noch. Der Elefant weiß bestimmt, auch ohne die Zeitung, was er, Käpten Grünbart, weiß: dass der

Direktor vom Zoo in Augsburg den Brüdern und Schwestern von dem Elefanten in Afrika den Goldschatz in der Nacht stibitzt hatte. Den Grünbart hatte der zornige Elefant sowieso gleich durchschaut, dass der davon was abhaben wollte, um sich Schnaps dafür kaufen und sich ein liederliches Leben zu leisten. Wer kann bei so was schon cool bleiben, wenn den Brüdern und Schwestern was geklaut wird?

Nun ja, die Sache ist so ausgegangen: Käpten Grünbart hat seither nicht mehr so viel Durst. Und das ist gut so, denn er muss in Afrika bleiben, weil ihm ja seine Jungs weggeschippert sind. In Afrika gibt es doch die Wüste mit ganz wenig Wasser drin und noch weniger sonst was zu trinken, wo es doch mancherorts ziemlich trocken ist. 

Was aus Beulenkopf und den anderen vom Schiff geworden ist, weiß niemand. Möglich, dass sie mit ihrem vergammelten Boot und dem vielen Wasser drin und ihrer Angst ertrunken sind. Auch fast gut, vielleicht bloß ein wenig brutal, jedenfalls haben sie eben keinen Durst mehr.

Auch von dem Schatz hörte niemand mehr was. Das ist allerdings ja bei Schätzen ganz normal. Weil aber der Herr Direktor seine Elefanten sehr gern mag und sie wirklich seine Freunde sind, kann getrost angenommen werden, dass er denen ihren Schatz wieder zurückgegeben und wieder verbuddelt oder davon für sie gutes Futter besorgt hat.

Was ja ganz richtig ist.

Ja, ja, sagt die Katze auf der Fensterbank, so muss es wohl sein."  

 

Bacher klatschte Beifall. Eigentlich war er allerdings etwas verlegen, was er jedoch nicht weiter zu verbergen brauchte, da Sonnenschein gleich aufbrechen musste. 

Sonnenschein ist eine gute Erzieherin, weiß Gott, meinte Bacher bei sich. Er wollte die Whiskyflasche heute im Schrank lassen und beschloss, dies fortan häufiger zu pflegen.     

 

 

 

1. Juli. Bacher befand sich im Traum im Kreis von Mitarbeitern. Es hatte den Anschein, dass da allerlei Geschäftliches gewälzt wurde, auch private Dinge klangen wohl an, bisweilen schien sogar gescherzt worden zu sein. Da stieß eine Dame dazu und vermeldete sonderbar fröhlich, dass der Pförtner gerade gestorben sei. Die entspannte Runde blieb davon unbeeindruckt und fuhr in ihrem Treiben fort ...

 

Noch beim Aufstehen trieb Bacher diese Mitteilung um. Diese gehobene Stimmung, die ja nicht zu dem überbrachten Ereignis passte. Was hatte mir da mein Traum angetan?, war er ratlos. Alle mochten den hilfsbereiten angeblich Verblichenen gut leiden, gaben sie jedenfalls vor. Bacher fragte sich auf dem Weg zum Dienst, wie echt denn Bezeugungen von Lob und Nettigkeit seien. Er stellte jedoch sein Bemühen um eine Antwort auf seine Frage ein. Denn er sah den Totgesagten hinter seiner Scheibe sitzen und freundlich grüßen. Heute suchte Bacher sogar nach einer netten Bemerkung. Er setzte deshalb betont freundlich seine Befriedigung darüber ab, dass der Fußballverein des Pfortenmannes endlich gewonnen habe.

 

 

Nachts darauf hielt Bacher sich unter lauter Frauen in einem Nähsaal auf und leistete dort verschiedene, allerdings nicht genauer sichtbar werdende Hilfsdienste. Es handelte sich um eine sogenannte Weißnäherei, die eigentlich kein Handwerksbetrieb mehr war – ein großer, heller Raum, in dem alle möglichen textilen Verrichtungen stattfanden. Die Farbe Weiß dominierte.

Herr W. ein bekannter und wegen seiner enormen Fähigkeiten sehr geschätzter Ingenieur des Maschinenbaus, kam herein und wies ein Kissen vor. Er wollte dieses halbiert haben. Bacher erhielt den Auftrag, in München bei der Staatsregierung für ihn um eine Beihilfe wegen dieses Aufwandes nachzusuchen. 

Verrichteter Dinge kehrte Bacher zurück. W. war immer noch oder bereits wieder anwesend. Bacher brachte das Ergebnis vor. Verschiedene Kritik wurde laut, die Klage des W. auch, und zwar wegen der geringen staatlichen Ausschüttung. Das Kissen wurde bereits geteilt. Eine Folie war sichtbar, um es einzuhüllen. Irgendwer meinte, in einem Land, das kurz vor der Pleite stehe, hätte W. eine größere Summe in Anspruch nehmen können. So ein Land wolle gewiss, den geldgierigen Banken zum Trotz, den Bürgern noch ordentlich was zukommen lassen. 

 

Beim Erwachen wunderte sich Bacher am meisten darüber, dass sein Traum W., den er wirklich gut kannte, vom Maschinenbau auf Textilien hatte umsteigen lassen. Da fiel ihm ein, dass er vor ein paar Wochen bei einem Kollegen zu einem Besuch im

Krankenhaus vorbeigeschaut und sich gewundert hatte – freilich ohne mit ihm etwa darüber zu sprechen –, wie klein doch dessen Kopf auf dem großen Kissen gewirkt habe. Dass ihm sein Traum offenbar daraus und anderen nicht greifbaren Fakten diese Geschichte um W. bereiten wollte, amüsierte Bacher. 

Er war sich jetzt gewiss, selber auch ab und zu in den nächtlichen Fantastereien anderer diese und jene Rolle gespielt zu haben. Ein etwas kindischer Stolz überkam ihn – gefolgt von dem ihn selber überraschenden Wunsch, sich in anderer Leute Nachtzirkus als Clown zu betätigen.

 

 

5. Juli. Bacher war dienstlich in einer größeren Stadt unterwegs gewesen, um eine Adresse aufzusuchen. Durch Straßen und Gassen war es gegangen. Viele Autos, Laster, Straßenbahn. Warteschlangen an Ampeln. Gestank. Viele Menschen. Kleinere Läden, Cafés, Kaufhäuser, vielgeschossige Wohn- und Geschäftsquartiere ...

 

Daraus war Bacher ein recht lebendiges Nachterlebnis geworden. Er dachte deswegen darüber nach, ob er Sonnenschein diesen Traum vortragen sollte, zumal sie ja darin eine gewisse Rolle gespielt hatte. Er entschloss sich endlich dazu, es ihr sogar aufzuschreiben:

"Da war plötzlich eine Gestalt in meiner Nähe. Sie schien sich mir anschließen zu wollen, war jedoch wenigstens zunächst nicht direkt erkennbar oder genau auszumachen. Sonderbar, sie schien mir doch vertraut, wenigstens dem Empfinden nach. Es schien eine weibliche Person zu sein. Also durchquerten wir gemeinsam diesen Ort in den Straßenschluchten. Wir gelangten an einen Werkkanal, mit dessen Wasser früher wohl Mühlen und andere Werke angetrieben wurden. Er schien einige Meter breit zu sein und von einer Tiefe, die mit dem Auge nicht zu ergründen war. Das Wasser schoss in der senkrecht aufgemauerten Rinne dahin. Ein vielleicht nur fußbreiter Saum war vorhanden – eher eine Kante vom Mauerwerk des Kanals zur ebenfalls steinernen Umfriedung der angrenzenden Gärten. Dieser Grat wurde von meiner stummen Begleiterin betreten: ihr Körper breitseits an die Umwallung der Gärten gepresst; ihre Füße nur mit den Ballen Tritt fassend; beide Hände an der Wandung tastend, gleitend. Es graute mir, sah ich von ihr auf das rasend dahinschießende Wasser. Ich bewunderte ihren Mut. Und ich nannte sie ab jetzt einfach S. Meine Blicke wechselten wiederholt vom gefährlich dahinbrausenden Element zu meiner Linken zur mannshohen Umhegung mit der schmalen Kante davor. Mein Schaudern wuchs mit jedem Wechsel. Aber S. war tapfer bereits auf halbem Weg voraus. So sah ich mich direkt genötigt, ihr zu folgen. Ich durfte mir jedenfalls keine Blöße geben.  Ich betrat den knappen Saum und presste mich so gut es ging, immer Halt suchend, an die Mauer. Ein paar Meter kam ich auf diese Weise voran. Schließlich ertastete meine Hand den oberen Abschluss der steinernen Barriere. Ein etwas niedrigerer Abschnitt ermöglichte es mir, mich – beide Hände auf den Grat gebracht – nach oben zu klettern. Ich erreichte die Deckschicht, konnte, da eine entsprechende Breite gegeben war, dort oben einigermaßen sicher entlang balancieren. Ich suchte S., wurde davon jedoch durch ein Hundegekläff abgelenkt. Ein großes, zotteliges, falbes Vieh war zu sehen, kam auf mich zu. Ein Schrecken durchfuhr mich. Die Bestie fletschte die Zähne, bellte geifernd, sprang empor, erreichte fast meine Füße. Mein Tritt zur Seite, ins Leere. Beinahe Sturz in den rasenden Strom ... Aus dem Hintergrund redete eine Stimme – nicht eben laut oder gar erregt – auf das Tier ein, dass ich da oben ein gesitteter Mensch sei, von dem weder eine Störung noch eine Ausfälligkeit zu befürchten sei. Das Tier ließ allmählich von mir ab. Ein kleinerer Hund war plötzlich da, der Größe und dem Aussehen nach war es ein Fox. Er bellte jedoch ausgesprochen freudig, als sollte ich ihn kennen. Ich war jetzt am Ende der Mauer angelangt, stieg herab und setzte meinen Weg fort. 

S. war irgendwo und nicht zu erblicken, jedoch dem Gefühl nach stets gegenwärtig. 

Ich gelangte an einen Platz, der von hohen Gebäuden umstanden war, gründerzeitliche etwas verschnörkelte und auch plattfassadliche neue. Ich hatte den Eindruck, an der Münchner Freiheit angelangt zu sein. Da trampelte eine Truppe Soldaten auf mich zu. Bei genauerem Hinsehen waren Wehrmachtsuniformen zu erkennen. Ein Hauptmann voran. Er sprach mich an, stellte sich als jener vor, der ganz gegen Ende des Nazikrieges in München den Aufstand gewagt hatte. Um die Stadt vor der Zerstörung durch die Amerikaner zu bewahren und seiner Motive noch etliche, die er allerdings aus zeitlichen Gründen jetzt nicht aufzählen wolle. Er verriet mir, dass er gerne in der Geschichte groß gewesen sei, wenn allerdings nur für kurze Zeit, seinen Namen jedoch vergessen habe. Ich solle ihn einfach Meier nennen, da es ihm doch letztlich nicht gelungen war und er sich vor den braunen Horden nur auf eine Berghütte retten konnte. Ich versicherte ihn einerseits meiner Bewunderung. Andererseits drückte ich ihm gegenüber meine Verwunderung aus, da der Name Meier doch vom dicken Göring beansprucht worden war. Und zwar – wie sicher zu erinnern – im Falle des von ihm für unmöglich gehaltenen Eindringens feindlicher Flugzeuge in den deutschen Luftraum.

Was ja ganz gehörig – wie gleichfalls leicht zu erinnern sei – trotzdem geschah und weswegen er, dieser zugedröhnte Reichsmarschall, wohl ein älteres Recht auf diesen Meier habe. Er solle als ernsthafter und wirklicher, obendrein hoch zu verehrender Held dem kriminellen Komiker den Meier als eine seiner vielen Verkleidungen lassen. Vielleicht könne er sich damit begnügen, dass sie diese Münchner Freiheit nach seiner und seiner tapferen Mitkämpfer Tat benannt hatten, weil sie behördlicherseits offenbar ebenso die Namen zu vergessen oder eben zu übersehen gewillt waren. Mein Instinkt verriet mir, dass S. mir gegenüber trotz ihrer Entfernung zu mir bei meinem Disput so etwas wie eine Missbilligung zum Ausdruck gebracht hatte. Weswegen sie das tat, müsste ich mir

jedoch selber ausdenken, denn sie war entschwunden ..."

 

Natürlich war Sonnenschein überrascht, als sie das Papier ausgehändigt bekam. Sie las es, während er den Kaffee zubereitete. 

Zu ihrem "ganz nett" setzte sie noch hinzu, dass sie gar nicht gewusst habe, wie tapfer und geschickt sie im Grunde sei. "In meiner Einschätzung!", setzte Bacher hinzu und steigerte mit dem Bekenntnis: "In meinem Herzen!"

Dafür hatte sich Cassian eine ziemlich breite Palette von Zärtlichkeiten eingehandelt, mit denen dann der Tag ausklang.

 

 

Am 10. Juli war Bacher Zeuge eines "nächtlichen"

Wechsels in der Chefetage. Alle Mitarbeiter waren (gemäß Auftrag und andererseits, wie es sich nun mal gehörte) zusammengekommen und hatten in Hufeisenform Platz genommen. Geschwätzige Erwartung herrschte. 

Da erschien eine junge Frau, die sich als die neue

Besetzung der Stelle vorstellte. Keine besondere Regung löste das aus, nur etwas Beifall, der jedoch nur auf die Tischplatte geklopft wurde.  Es oblag Bacher, eine Begrüßungsrede zu halten.

Er bewegte sich von seinem Platz weg und zur Wand hin, an die er sich dann lässig lehnte. Zwar begann er – allerdings lautlos – zu reden, indem er den Inhalt für sich behielt. Wie Bacher bald deutlich sehen konnte, erwartete niemand im Raum Geräusche oder gar eine Aussage von ihm. Ausgesprochen erfreulich für Bacher war, dass ihm aus so manchem Auge dankbare Blicke zuflogen. Das geschah in einer Art, die gerade noch für ihn bemerkbar und so verhalten war, dass es sonst niemand im Kollegenkreis erkannte.  

Die Neue erhob sich und schwieg ihrerseits in die Runde. Als sich alle Blicke ihr zugewandt hatten und niemand mehr Bacher zu beachten schien, suchte er seinen Platz auf und stimmte in das allgemeine Schweigen ein.

Bacher wollte später, anscheinend im Halbschlaf, die Regie über die Fortsetzung dieses Nachttheaters gewinnen und den Faden in seinem Dämmer weiterspinnen: Er ließe diese Frau bei sich erscheinen, schick gekleidet, apart aufgemacht. Sie sollte ihn zuhause aufsuchen. Sie hätte vorzugeben, seine Leistungen bewerten zu wollen, da man heute verbreitet Homebanking betreibe. Bacher läge freilich noch im Bett. Sie hätte zu beteuern, dass sie dies nicht störte. Sie sollte keine Bedenken haben, sich zu ihm und unter die Bettdecke zu begeben. Bacher wollte ihr erklären, dass er in diesem Fall leider darauf zu bestehen hätte, dass sie sich entkleidete. Dies wäre aus Gründen der Wohlerzogenheit erforderlich, würde er beteuern, weil man sich, wie allgemein bekannt, nicht mit der Tagesgarderobe aufs Schlaflager begäbe. 

Es sollte Bacher eine äußerst wohlgeformte Gestalt unter dem Kostüm hervor kommen ...  An dieser Stelle vernebelten sich allerdings seine Bilder immer mehr. Ein tieferer Schlaf entzog ihm diese verheißungsvollen Gespinste. 

 

Mit den Weckgeräuschen war dann sofort die Erinnerung an dieses Schlaftheater da. So etwas wie ein wenig Enttäuschung wollte aufkommen, da die Vorstellung an einem interessant zu werdenden Punkt abgebrochen war. Etwa die wahre Befriedigung im befreienden Schlaf. Er machte sich dann vor, wie es wohl sein würde, wenn er so eine sinnliche Visitation von Sonnenschein über sich ergehen ließe. Seine Schwärmerei entführte ihn – unterbrochen von Politik, Klatsch und Sportereignissen bei der Zeitungslektüre – in Gefilde, die für den Beginn eines Arbeitstages eigentlich ziemlich ungewöhnlich, vielleicht sogar diesem abträglich waren. Als er jedoch kurz an die eigentliche weibliche Erscheinung, eben die seines Traumes dachte, erschrak er. Es war ihm sofort aufgegangen, dass Sonnenschein ihm, hätte er ihr den Traum erzählt, wohl erklären würde, dass es sich dabei um reine Männerfantasien gehandelt habe, die da an ihm vorbeigeflimmert waren. Und dass sich eine Frau eigentlich davor hüten solle, einer Männergesellschaft vorstehen zu wollen. Da sie dauernd mit den Augen entkleidet werden würde und für sonst was als Vorlage diente. Der einzige Schutz davor wäre womöglich nur eine betonte Unansehnlichkeit als

Frau.                                                                                                       

 

 

Am 12. Juli hatte Bacher erneut über das Gute nachgedacht. Natürlich war der Einstieg dazu wieder durch die gute alte Frau gegeben. Er war dem nie richtig ausgewichen, denn es könne nicht schaden, meint er, auch solche Felder zu bestellen. Nur wurde Bacher natürlich durch die üblichen Tagesgeschäfte ständig davon abgelenkt.

Ein wenig war er allerdings vorangekommen. Bacher hatte Anleihe bei irgendwann Gehört- oder Gelesenem genommen: Es, das Gute, habe keine allgemeine Inhaltlichkeit, war dort behauptet worden. Sondern es stelle eine Position dar, für die sich einer im Rahmen einer immer gruppenspezifischen – welch toller Wortakt!, ging sich Bacher selber dazwischen – Umschreibung entscheiden und damit das Verworfene, als böse Bezeichnete, ausschließen könne. Diese Meinung wollte Bacher bereitwillig teilen. 

So weit also war er gekommen, und zwar bis zur Zeit des Zu-Bette-Gehens. Damit sollte es sein Bewenden haben, sprich, für heute genug sein. Er schlief zufrieden ein.

 

Ein Trommelbub begegnete Bacher dann im Schlaf. 

Es konnte leicht Grass' Oskar Matzerath gewesen sein. 

Aber nein. Bacher erkannte, dass der Junge eine echte Trommel hatte, keine Blechtrommel. Es war sogar eine, wie H.'s Trommelbuben sie hatten und sich damit im Marschtritt durch die Straßen bewegten. Als künftige Bannerträger der Bewegung, wie sie ihren Spuk zu nennen pflegten. Wenigstens hatte man es aus den Filmen zu wissen, die sie einem immer wieder im Fernsehen zeigen. 

Dieser Knabe sprach sogar zu Bacher, dass es so viele Wege zu Gott gebe, wie Menschen existierten. Bacher war erschrocken, da der Junge bei diesen Worten wuchs und bald auch im Ornat eines kirchlichen Würdenträgers erschien: Dass er eine knöchellange schwarze Soutane anbekam und von gestaltlosen Händen zugeknöpft erhielt. Ein Kleid, das dann sonderbar ins Kardinalpurpur wechselte und plötzlich im vatikanisch höchstamtlichen Weiß erschien. Dieser eigentümlich Gewandelte lächelte Bacher sofort gütig zu und vollführte sein Segenszeichen ins Leere. Bacher mochte vor Staunen über dieses Verwandlungswunder in eine Starre verfallen sein. Jedenfalls war er nicht imstande, das Kreuzzeichen an sich nachzuvollziehen, wie es eigentlich erforderlich gewesen wäre. Vielleicht war dann einige Zeit vergangen. 

Wieder stand so ein Knabe mit einer großen

Trommel wie vorhin da. Bacher suchte in dessen

Zügen den möglicherweise wieder geschrumpften Zeichengeber zu erkennen. Dieser Knabe fragte

Bacher, ob es so viele Wege zu Gott gebe, wie Menschen existierten? Bacher wollte etwas entgegnen, was er allerdings gar nicht wusste. Gottlob lärmte sich das Nachtgeschöpf bereits mit seinem Instrument davon – das jetzt allerdings den Klang von Bachers Wecker hatte. 

 

Es war sonderbar, beim Erwachen war Bacher sich nicht gewiss, ob er eine Antwort auf des Knaben Wunderworte überhaupt gewusst hätte. Wichtiger erschien ihm jedoch, darüber nachzudenken, wo und von wem er diese im Grunde ja gar nicht so unrechten Worte denn vor diesem Traum bereits gehört haben mochte.

 

 

Die Nacht des 14. Juli bescherte Bacher (S. war in seiner Begleitung) den Besuch eines Kabaretts. Ein Biergarten an einer Straße war da zunächst. Ein sommerlicher Abend mit der nur spärlich durch das Licht von Tischkerzen gebrochenen Dunkelheit. Auf einer Bühne buhlten dann drei Komiker um das Lachen der Zuschauer. 

Endlich kam die letzte Szene: Die Spaßmacher saßen auf Stühlen und flachsten herum. Die letzte Pointe lief auf "three Titts" hinaus. Beide Witzbolde von den Außenseiten zupfen dem in der Mitte im Brustbereich am Hemd herum, so dass drei Hügelchen entstanden. Das war es dann auch. Erst nach einer Pause Wartens auf vielleicht noch etwas zu der Szene Gehörendes kam der dünne Applaus. Bacher und seine Begleiterin saßen noch eine Weile. Da erschien dieses frisch vermählte Paar, Bacher bekannte Personen, das ihnen anscheinend auf stumme Weise angekündigt worden war. Bacher eilte auf die beiden zu, umarmte seine Schwester, als welche Bacher sie ausgemacht hatte, und nannte den Mann, von einem herzlichen Händedruck begleitet, Schwager. 

Aufbruch irgendwohin, nur weg von da. Sie besaßen so ein Auto, das hinten eine offene Ladefläche hatte, einen Pick-up, den sie auf dem nächsten Parkplatz abgestellt hatten. S. holte ihn jetzt. Die anderen waren die Straße entlang gegangen, die vermutlich zu diesem Irgendwohin führte. S. würde sie auflesen. Allerdings waren sie vermutlich in der falschen Richtung unterwegs. Jedenfalls musste S. auf der Straße wenden. Sie geriet über die Bankette hinaus. Das Fahrzeug kippte und überschlug sich etliche Male die steile Böschung hinab. Schrecken. Aber S. krabbelte heil unter dem havarierten Fahrzeug hervor. Lachend stellten sie das Auto wieder auf seine vier Räder, und weiter ging es ...

 

Als Bacher die Augen aufschlug, war die nächtliche Gruppe noch nicht am Ziel angelangt gewesen. So wusste Bacher nicht, wo es eigentlich hingehen hätte sollen. 

Es gibt eben solche Tage, an denen einem der erste

Morgenschimmer bereits ratlos sein lässt, leistete Bacher sich deswegen. Vielleicht rührte es von diesen mageren Spaßvögeln aus seinem Traum. Jedenfalls erinnerte er sich seines Wunsches, den er sich neulich eingestanden hatte, ein Clown zu sein. Gleich flog ihn die Vermutung an, dass dies ja längst in Erfüllung gegangen sei – in seinen Träumen zum Ausdruck gebracht. Es schauderte ihm vor Wonne.

 

 

Am 15. Juli bot Sonnenschein Bacher etwas an, das sie in einem Roman gelesen hatte und das ihr wie eine Traumerzählung vorgekommen war. Cassian war darauf gespannt. Sie begann gleich zu lesen: "Ich saß auf der Bank vor einem Häuschen und blinzelte in die Sonne. Da fiel ein Schatten auf mich. Ich blickte auf, konnte nicht gleich etwas erkennen. So schloss ich die Augen wieder und harrte der Dinge, die da wohl kommen würden. Da tönte dieser Schatten und begann vorzutragen: Ich bin ein Clown. Aber ich will gleich darstellen, was für einer ich bin. Die Leute lachen, wenn sie lachen ... – man stelle sich vor, nicht einmal dessen bin ich mir ganz sicher. Es scheint schlimm zu sein, wenn man sich keiner Sache sicher ist! Aber, wie gesagt, es scheint nur so, denn genau das ist mein Wesen und es gehört also zu mir. Wenn ich dessen nicht inne wäre, könnte ich nach meinen vielen Niederlagen, die auch meines Wesens sind, nicht mehr antreten. Die Leute lachen also nicht unbedingt. Aber wenn, dann lachen sie überhaupt nicht über meine Witze. Die gar nicht so sicher als solche abgesetzt worden sind. Sondern die sich einfach aus meiner Wesensart ergeben. So bin ich überzeugt, dass mir mein durchaus vorhanden gewesener Witz mit jeder seiner Äußerungen abhandengekommen ist. Das wiederum in der radikalen Weise, dass er mir erst gar nicht so recht eigentlich bewusst geworden war.

Die Leute lachen, wenn sie lachen, über mich, über mich als Figur. Und wenn ich mich dessen überhaupt bedienen darf: Sie lachen sozusagen über mich als sogenanntes Gesamtkunstwerk. So lege ich besonderen Wert auf die Figur, weil ich ja das Lachen der Leute benötige, um überhaupt zu sein. Wer sich seines Witzes für nicht teilhaftig erklärt, der kann sich allerdings auch gleich von allen guten Geistern abmelden und verlassen fühlen. Der Mensch ist ja so unglaublich schnell tot, lange bevor er richtig lebt.

Um am Leben zu bleiben, macht es keinen Sinn, sich seiner Abstammung zu erinnern. Das wäre nur ein schwacher Trost und gerade so viel wert wie eine Grabrede. Die gute Gestalt des Satyrs reizt mich verbürgerlichte, offen anständige Figur gar nicht mehr. Denn warum sollte ich mir die Last der vielen Nymphen aufbürden?

Warum, zum anderen, sollte ich den Bauerntölpel der Römer abgeben? Lieber noch sähe ich mich als den Burschen aus Bergamo, als Harlekin. Aber wie ich hörte, ist der vom Teufel zum Spaßmacher heruntergemacht worden. Das sehe ich eben auch wieder als eine unerträgliche Selbstbescheidung an. Das gesammelte Zappeln der Commedia dell`Arte? Aber vielleicht benötigen die Leute dieses Lachen über meine natürliche geistige Gestalt. Jede Zeit findet ihr eigenes Gelächter in ihren eigenen wunderlichen Figuren. Jede Zeit behauptet ihre Normen, indem sie die Abweichung davon markiert. Wo sie zurzeit doch weit unter der Gürtellinie sind. Da wäre zu fordern, dass alle sich um eine lautverschämte Art einer pausbackigen Unmoralität zu bemühen haben. Derer sich hingegen jeder schämt in seiner verzwirbelten Keuschheitsvermutung. Das Lachen meiner Zeit trifft mich, wenn schon, dann frontal, prallt an mir ab und erreicht die Lacher dann als Echo. Das ist gewiss ökonomisch und weist doch darauf hin, dass es sich lohnt, über mich seinen Spott, vielleicht seine Heiterkeit erschallen zu lassen. Ich selbst lache selten, wenn ich doch einmal lache, dann aus einem einzigen Grund – den ich dann allerdings gar nicht kenne.

Offen gestanden: Ich kann mich gar nicht richtig leben. Das ist mir immer gewisser geworden. Ich bin sozusagen mein eigener Embryo, der zu reifen vergessen hat. Das beweise ich mir immer dadurch, dass ich, obwohl ich mich stets genauer Beobachtung befleißige, die für meine Existenz notwendige Überlegenheit der Lacher mir gegenüber nicht entdecken kann. Und dass ich den Kampf also aus Gründen der Fairness gar nicht zu beginnen gewillt, sondern dazu gezwungen bin. Ich überlasse den ersten Angriff allerdings immer den Anderen, den Starken, Normalen – den Lachern eben. Da ihnen ihre Heiterkeit als Instrument die dichteste Grenze zur Unangefochtenheit ihrer Seriosität ist.  Aber vielleicht ist es nur das: Ich nehme jedem Lacher meine Rolle ab und habe außerdem schon lange meinen Namen vergessen. 

Dasselbe mit meinem Gesicht: Unter meiner Maske, die meine Person zu repräsentieren scheint, ist ja im Grunde etwas ganz Intimes. Dessen ich mich nur noch als etwas möglicherweise Vorhandenes und somit nur ausgesprochen Schemenhaftes erinnere. Auch würde ich gewiss erschrecken, wenn mir da – besonders, wenn es unvorbereitet geschähe – aus einem Spiegel mein Passbild entgegenschlüge. Dem sie heutzutage obendrein auch noch das leiseste Grinsen verbieten. 

So fahnde ich der Form halber weiter nach mir. Und dies hauptsächlich an meinen Grenzen. Mich stört nur an der ganzen Angelegenheit, deren Notwendigkeit ich weiß Gott nicht im Entferntesten bezweifle, dass dieses Vorgehen nur zu bewerkstelligen zu sein scheint, wenn ich von den immerhin vielfältigen Gestalten meiner selbst – man denke nur! – eine Verbrecherkartei anlegte. Und zwar diese mit lauter Gesichtern und Mutmaßlichkeiten meiner selbst. Wo würde sich dann allerdings das Gericht finden, das mir meine Unschuld beweist?"

 

"Ich musste am Ende darüber eingenickt sein", bekannte Sonnenschein. "Als mir das Buch aus der Hand auf den Boden fiel, erwachte ich wieder. Ich war da allerdings nicht gleich ganz da. Dieser Clown zappelte noch vor mir herum – oder bildete ich mir das nur ein? –, gönnte mir Sonne, warf seinen Schatten. 

Ich hielt die Augen geschlossen und tagträumte jetzt sozusagen noch ein wenig meiner Lektüre nach. Denn ich wünschte mir, eine lustige Gestalt mit rotem Haarkranz um die nackte Kopfhaut, Knollennase, Weißgesicht und Riesenrotmund. Ich war jedoch erstaunt darüber, mir nur einen von der Sonne erhellten Irgendwer erschaffen zu können. Einen, wie er mir überall begegnen könnte als Familienvater oder als potenzieller Freitodler oder Lotteriegewinner oder in sonst einer Berufung. Vor mir stand eben so ein Mensch, wie der Alltag ihn mit seiner starken Hand unerbittlich formt.  Ja, ich war überzeugt, meinen lieben Cassian zu erblicken! – Bitte, sieh es mir nach! – Freilich, das war es! Und ich freute mich darüber. Du hattest mir doch neulich verraten, dass du Sympathie hast fürs Clowndasein!

Setz dich neben mich, forderte ich meine Erscheinung auf. Da du halt mal da bist, so bleibe eben. Und noch eines: Wenn du dich in diesem Aufzug und in dieser Verfassung selber verfolgst, erwischst du dich nie. Wenn du gestattest: Du hast dich mit dir selber getarnt."

"Ach, Sonnenschein", stöhnte Cassian, "was hast du da alles in deine Worte gepackt! Doch den Schuh ziehe ich mir an", lachte er, "weil du ihn mir hingestellt hast."

"Das ist ja recht brav!", quittierte sie etwas schul-

meisterlich.                                                                                            

"Wenn ich dem ein wenig folge", fuhr er fort, "so leuchtet mir ein, dass es sich hinter einer Maske sehr sicher – wenn auch nicht immer bequem – leben lässt. Wie ein Ritter in seiner Rüstung. Ritter des Alltags vielleicht. Es hat eben seinen Grund, weshalb man sich so zurückzieht. Wobei mir gerade klar wird, dass das von mir eben verwendete

Man geradewegs wieder so eine Maske ist."

 

Es war wieder Zeit, sich zu verabschieden. 

Als Bacher die Toilette aufsuchte, blickte er beim Händewaschen etwas länger auf sein Spiegelbild, in dem er den Clown suchte.

 

 

 

  20. Juli

Eine Gestalt spukte in einem langen, dunklen Gang in Bachers Nachtgesicht – und auf ihn zu. Von Weitem schon glaubte Bacher, dieses Gespenst zu erkennen. Es war mittelgroß und etwas untersetzt. Besonders der leicht federnde Gang kam ihm sofort bekannt vor. Es war sicher Gummi, wie sie den Mathepauker genannt hatten. 

Näherkommend, bedeutete ihm diese Erscheinung doch tatsächlich, Lope de Vega zu sein. Bacher war enttäuscht, dachte jedoch sofort nach, wo dieser Name einzuordnen wäre und ob Gummi sich vielleicht wieder einen neuen Spitznamen zugezogen hatte. Da wurde Bacher von dem Schemen etwas bewusst gemacht, und zwar von Hunderten von Schauspielen, die aus seiner Feder geflossen sein sollen. Von denen allerdings die meisten nicht

mehr auffindbar seien. Dieser Umstand, der zwar für Kunst als völlig normal gelte, beflügle ihn jedenfalls, immer wieder seinen verlorenen Werken nachzuspielen. Und so eben dieses Stück hier aufzuführen. Um eingangs Benannten wirklich gerecht zu werden, weil gewisse Namen immerhin Verpflichtung bedeuteten. Obendrein sei das die umweltfreundlichste Art, etwas zu produzieren und der Pflicht als Urheber nachzukommen, auch für die Beseitigung dessen Sorge zu tragen: Diese seine Art des nur vorgeführten Produktes fördere das beliebte allgemeine Vergessen äußerst zuverlässig. Jetzt ging Bacher ein Licht auf. Er erinnerte prompt den Schalk in diesem Rechnerkopf. Diese furztrockenen Mathematikerwitze. Gummi hatte immer geglaubt, nach der Darbietung seiner Witze, in das verständnislose Schweigen seiner Zuhörer hinein sie als solche zu bezeichnen und erklären zu sollen.  Gummi-Lope gab gleich etwas von seinen vielen Frauenhändeln zu verstehen, wie sie es damals, zu seinen, den Zeiten des Vegas genannt hatten. Etwa wenn ein Kavalier sich promiskuitiv gab wie etwa der von Mozart zum Klingen gebrachte Don Giovanni. Aber, beteuerte Lope wiederholt, er habe später dem Genuss des anderen Geschlechtes entsagt und schließlich als Priester sich ein wenig der Keuschheit befleißigt.

 

Bacher trieb am Morgen das Spiel mit den Gedanken, dass Gummi – im Übrigen ebenfalls längst hinüber – vielleicht wirklich die Wiedergeburt des Lope gewesen sein könnte. So begriff Bacher Gummi's Darstellung, so viele Stücke verfasst zu haben. Bacher meinte, verstehen zu können, dass sich ihm deshalb die von Gummi gestellten Mathematikaufgaben, die somit eigentlich als lauter kleine Theaterstücke, als Sketche vielleicht, gedacht gewesen waren, so selten, eigentlich häufig gar nicht erschlossen hatten.

Tagsüber drängte es sich Bacher dann doch auf, sein gewesenes Schülerdasein als Posse zu begreifen. Dieses dauernde Inhaltewälzen, um abzugleichen und irgendwelche Bestätigungen zu produzieren, passte so richtig zu seiner alltäglichen Arbeit hier.

 

 

21. Juli

Es war ihm der reine Horror in dieser Nacht: Bacher rannte durch einen schier endlosen Stollen. Es konnte sein, dass da etwas hindurchgeleitet worden war. Güllig riechender Morast war zu seinen Füßen. Es tropfte ekelig von Decke und Wänden.  Krämpfe im Leib, und hinter ihm her zwei Weißkittel, die irgendwelches Schlauchwerk in Händen hielten, mit dem sie herumfuchtelten. Bacher ahnte, sie wollten in sein Gekröse, und es liefe alles auf eine tiefgreifende In-Augenschein-Nahme dessen hinaus. Bacher rannte und rannte und schrie etwas dabei, ohne Laute von sich zu geben. Es konnte immerhin die Beteuerung haben, dass er noch ein wenig sein Innenleben geheim halten wolle. Dass er sogar jedes Recht dazu besäße, verknüpft mit der verdammten Pflicht zu einer Selbster- und Geheimhaltung. Die Verfolger gaben nicht auf. Bacher hörte von ihnen keine Entgegnung. Er fühlte jedoch ihre Belehrung, dass diese Innenschau außerordentlich lebenswichtig und gewissermaßen auch -erhaltend sogar für beide Seiten sei und das obendrein zum selben Preis.

 

Erwachen, schweißgebadet. Bacher nahm sich allerdings vor, das Problem der Innenschau doch gelegentlich mit dem Hausarzt zu diskutieren.

 

 

Am 22. Juli gönnte sich Bacher einen Abstecher zwischen den Träumen: Feeling, eine aufs Überleben reduzierte und an den Rand des Seins verlagerte Existenzbestrebung, war ihm neulich – etwas üppig, wie er sich eingestand – in den Sinn gekommen. Bacher hatte so vor sich hingedöst. Er sträubte sich gar nicht gegen den Eindruck, dass es sich dabei um so etwas wie ein Hirngespinst gehandelt haben konnte.

Man muss doch seine eigenen Geschichten haben, war ihm wieder klar. Diese Info-Storys von außen leeren einen aus, obwohl dieses Hereindrängende zu behaupten scheint, es fülle aus. Vertraue eher, empfahl Bacher sich jetzt, auf so etwas wie das aus deinem nächtlichen Untergrund.

Da ist das tiefe Loch. Angenommen natürlich. Man hält sich am Ufer auf. Der Boden unter den Füßen des Lebens ist einem immerhin etwas Gewisses und ziemlich Zuverlässiges. Und wer soll es jemandem verdenken, wenn er dieses sein Ufer allmählich paradiesiert? Das ist echtes Feeling. Dieses Begnügen mit den immerhin auch noch sehr schwierigen Machbarkeiten, woraus etwas Greifbares werden soll.

Jene, gerade jene, die eine Legende als liebenswürdigen Unsinn abtun, jedoch unbesehen jeden Eid auf ihren angeblich autonomen Realismus zu leisten bereit sind. Sie beziehen ihr Weltbild als abgetretenen Flickenteppich aus irgendwelchen Redaktionen der Presse, des Rundfunks, insbesondere des Fernsehens – o ja, dieses!

Siehe die Schotten!, predigte sich Bacher, sie hocken am Ufer, saufen ihren vorzüglichen Whisky und ableugnen nicht, dass in Loch Ness ein Ungeheuer hause. Was für einen ungeheuren Spaß türmen die Wogen des Weltinteresses an dem Ding auf. Wie viele aufregende, mitunter aufwändige Unternehmungen zur Aufdeckung des mutmaßlichen Geheimnisses dieses magischen Loches liefen bereits ab!

Nicht auszudenken, welche Aufregung entstünde, gäbe es auch nur einen Anschein von wirklicher Existenz davon. Oh. Alles ans Licht zerren, aufdecken, entblößen – blöde gaffende, glotzende Öffentlichkeit herstellen – und Einschaltquoten – und jedes Märchen zertrampeln wie eine Blumenwiese, die zum Parkplatz verkommt. Ich bin mir jedoch ganz sicher, betonte sich Bacher, dass sich das Magische mit großem Erfolg dem Technischen zu entziehen vermag.

In Erwartung neuer Mitteilungen sein, die ja nicht gerade gleich als Botschaften zu firmieren brauchen. 

Er wollte dann allerdings von derlei Gedankenspielen ab- und sie doch eher nächtlichen Eingebungen überlassen. Er gönnte sich wieder einmal ein paar Schlucke von dem zitierten vorzüglichen Whisky schottischer Art. Von dem er längere Zeit nicht mehr gekostet hatte.

 

 

25. Juli 

Bacher erzählte heute Sonnenschein, die zum Morgenkaffee mit einer Tüte Semmeln erschienen war, was er in der vergangenen Nacht geplant, sozusagen in ihm traumlich inszeniert worden war: "Ich werde in See stechen, war es mir heute Nacht.  Hinter der Mole, auf einer weiten, in unendliches lichtes Grau verlaufenden Fläche standen Menschen, einzeln oder in kleinen Gruppen, schwarz, wie lauter kleine dunkle Pfähle, unbeweglich, starr und anscheinend unbeteiligt. Von Casablanca aus sollte meine Reise gehen, meinte ich zu verstehen. Aber da waren gar keine weißen Häuser auszumachen. 

Ich ließ mich allerdings nicht irritieren, sondern nahm ein weiteres Geheiß an: In einem Schlauchboot mit Paddel und Segel sollte ich den Ozean überqueren.

Sofort sah ich mein Gefährt. Das Schlauchboot war gelb, sein Boden blau, so entstand in Momenten der nicht ganz ungefährliche, da zur Unachtsamkeit verleitende verniedlichende Eindruck von einem Swimmingpool.

Einige Menschen, darunter eine verschleierte Dame, bemühten sich um mich von der Kaimauer herab. Proviant wurde gereicht und gute Ratschläge erteilt. Ich machte mir Mut und stellte die wenigen Anteilnehmenden zufrieden, indem ich irgendwelche Gemeinplätze absonderte, die zwar so hohl waren, wie es ihnen auch immer zustand, doch die Leute am Ende freundlich dreinschauen ließen.

Schließlich war eine weitere Dame eingetroffen.

Sie würde meine Gefährtin sein, war mir auch ohne Erklärung gewiss. Sie würde mit mir allen Erfolg haben, billigte ich ihr sofort zu – oder sie würde mit mir leiden und untergehen ... 

Sie war äußerst behutsam, stellte ich fest, an dem wie sie herabstieg und wie sie die mitgebrachten Utensilien verstaute. Sie ließ sich hingegen nicht im Boot nieder. Sie schwebte irgendwo über mir und bald über dem Ganzen und strahlte Trost spendend in das Dunkel meiner immerhin vorhandenen Furcht.

Ich werde sie während des Abenteuers ständig in meiner Nähe wissen, war ich mir sicher. Sie wird hingegen nie Platz in Anspruch nehmen. Sie wird mir Engel, vielleicht sogar Schutzgeist sein. Ich hatte abgelegt und war bald zu zweit allein in der Wasserwüste. 

Tage und Nächte kamen und schwanden. Wir waren allen Gefahren ausgesetzt. Sie schauderte mit mir auf dem Wellenkamm, durchlebte wie ich den Sturz in tiefe Bangnis. Und ihr Schluchzen, das ich ganz deutlich fühlte, umfing mich wie ein schützender Mantel in der Gewissheit, nicht einsam zu sein.

Dann war da ein Streifen am Horizont. Ein Ufer, dämmerte es mir. Zunächst kaum zu glauben, dann mit Gewissheit aus der Trostlosigkeit herauswachsend.

Freude, der eine große Erleichterung folgte, die am Ende von Entdeckerstolz überragt wurde. Ich erblickte die Karte Amerikas vor mir an einer Wand aufgerollt. Mein uralter Schulmeister stand mit dem Zeigestab daneben. 

Land, zum Glück. Allerdings ein leeres Ufer. Auch der Alte war plötzlich mit seinen Utensilien wieder verschwunden. Schade, da waren keine Menschen, denen ich meine Glasperlen hätte schenken können und von denen ich womöglich eine ganze Insel dafür erhalten haben könnte. So blieb mir das Ufer Niemandsland. Eine Einöde ließ auch bald die Zeit versickern, verschlang schließlich sogar den Raum. Ein Sein ohne Gefüge. Aha, dachte ich, nicht ganz unbekannt. Unersättlichkeit der Leere. Und erneut dieses Zagen.

Das Ablegen wurde dann zur Flucht. Gleich, es war ein verhängnisvolles Versehen, trieb das Boot auf die offene See. Ich hätte mich am Ufer halten sollen! Das erkannte ich sofort. Doch zu spät! In dem Maße, wie die Gestade entschwanden, erfasste mich eine tiefe, lang wirkende Unruhe. Irgendwann, zwar ganz weit weg, doch immerhin ein Schiff!

Bald bewegte ich mich auf sicheren Planken. Rohre mit riesigen Mäulern starrten mich an. Ein Kriegsschiff, durchfuhr es mich, und ich hob beide Arme, um zu zeigen, dass ich mich ergebe. Sie hatten hingegen das weiße Himmelsgewand meines Engels als ausreichende Friedensbekundung bereits angenommen.

Ich wurde eingeladen, in der Messe zu speisen. Später tanzte ich im Smoking mit meinem zauberhaften Schutzengel, der sich zu mir herabgelassen hatte. Dessen Weißgewand sich hier wie ein Hochzeitskleid ausnahm und der sich jetzt von mir umarmen und herzen ließ.

Auf diese Weise in jeder Hinsicht gestärkt, stach ich erneut in See. Ich legte ab vom doch immerhin, trotz aller Rettung Argwohn erregendem Gastschiff – und lief nach einiger Zeit in einen Hafen ein. New York war es wohl, der tiefen Straßenschluchten wegen, die ich hinter der riesigen Freiheitsdame ausmachen konnte.

Da stand gleich wieder eine schüttere Menge Menschen, dieses Mal mit müden Blicken dem Meer zugewendet. Sie rafften sich zu einem lahmen Winken auf, als ich haranschipperte.

Es sei Krieg, klagten die Leute, und gleich flossen Tränen. Sie begrüßten jeden als Überlebenden, wurde mir berichtet. Jede Katastrophe habe eben ihre eigenen Freuden. Die sie sich in diesen ansonsten freudlosen Zeiten nicht auch noch rauben lassen wollten. Aus dieser Einsicht heraus schwangen sie sich plötzlich zu schallendem Jubel auf, dass ich erschrak. Sie hatten wohl meinen Begleitengel ausmachen können. Sie hatten ihn umgehend in ihrer Sehnsucht zur Friedenstaube erhoben. Eine Blechmusik marschierte gleich auf, Konfetti durchschneiten die Atmosphäre.

Ich hatte dann das Gefühl, in der Stadt leider mein Girl verloren zu haben. Jedenfalls machte ich mich bald wieder auf Reisen. Ganz allein.

Wieder diese langen Gesichter bei denen von der Kaimauer, nahm ich noch wahr. So sei es stets, wenn jemand eben noch Willkommener zu bald seinen Abschied nimmt, bildete ich mir ein. Die Zeit schleiche so dahin. Niemand kennt ihre Richtung und kennt ihre Geschwindigkeit."

 

"So oder so ähnlich war mein Traum", schloss Bacher.

Während seiner Schilderung war das Frühstück absolviert worden. Sonnenschein merkte noch beim Weggehen an: "Wie dir doch dein Frauenbild immer abhandenkommt! Wie kann einer damit leben, dass ihm die Engel zu Girls schrumpfen? Wie damit, dass er sie dann auch noch verliert?", sie lachte ihren Worten hinterher und Bacher zuckte grinsend die Achsel.

 

Einige Nächte danach waren von Cassian Bacher zwei an einem Tisch sitzende bezopfte Figuren auszumachen. Sie befanden sich offenbar in Verhandlung. 

Ganz eindeutig, das waren Perückenträger. Sie redeten, eifrig gestikulierend, aufeinander ein. Sofort war Bacher das Rokoko gegenwärtig. Weiß gepuderte Perücke, Langrock in blauer Seide, gelbe Culottes, aus denen heraus weiße Kniestümpfe liefen und in Schnallenschuhen mündeten. Einer von den beiden wäre der Figur und der Lebendigkeit nach wohl als Mozart auszumachen. Wie sie ihn gerne in ihren Filmen zeigen, überkam es Bacher. Vor einiger Zeit war der Äther voll von seinen Tönen, gesteigert durch ein Jubeljahr. Was blieb einem da anderes übrig, als anzunehmen, dass auch er das eine oder andere Mal irgendwo auftauchte. Das sei ihm gegönnt, beteuerte sich Bacher. Da Mozart doch nur wenige Jahre hier auf Erden und diese dabei auch noch in einem Handwerk zur Verfügung hatte, bei dem die Werkstatt immer im Kopf und ständig dabei und dauernd in Betrieb war. 

Er schien zu verhandeln. Es ging ihm offenbar ums immer durch die Finger rinnende Geld. Im Hintergrund erkannte Bacher eine Handvoll Musiker ihre Geigen schrubben, vernahm jedoch keinen Ton. Da bot er an, mit seinem Handy auszuhelfen: Die Kleine Nachtmusik schrillte tatsächlich aus der Technik hervor, peinlich platt.

Während Bacher sich noch dieser grellen Verzerrung schämte, war der Kleinere da drüben vom Tisch weg und fuchtelte sofort auf eine andere Person ein. Die Hände waren schier rhythmisch in Bewegung. Mit den Füßen hob er in seinem Zorn wie im Takt vom Boden ab. Die andere Gestalt, ihm um Kopfes Größe überlegen, schien im Dauerbesitz ihrer Würde zu verharren. In einer kurzen Atempause spürte Bacher diesen Verhaltenen von sich geben, er, der Herr Kompositeur möge endlich von dieser blau-gelben Mode lassen. Er habe sie ihm vorweg in seiner Profession als Skribent längst in seinem Werther verarbeitet.

 

Ach, Mozart, dachte Bacher sich beim morgendlichen Zähneputzen. Hättest du dem Herrn Geheimrat Goethe doch angeraten, Beethoven nicht nur als tüchtigen Klavierspieler einzuschätzen. Aber gewiss seid ihr euch gar nie begegnet ...  Bacher war zwar gewillt, solche meist länger aufhaltenden Gedankengänge bei seinen Morgengeschäften zu unterlassen. Er behielt sie dann doch bei, weil – kalauerte er in sich hinein – diese ihn am Schrubben der Zähne und diese gesund erhalte.

 

28. Juli 

In dieser Nacht hatte Bacher in irgendwelchen, vermutlich in alten Prüfungsaufgaben gewühlt. Er hatte ein unangenehmes Gefühl dabei, erkannte meist erfolglose Lösungsversuche, auch jetzt, wo er nach langer Zeit darin nur herumblätterte.  Jetzt stand plötzlich das Examen wieder unmittelbar bevor. Schrecken hatten ihn erfasst. Hektik beim letzten Vorbereitungsversuch. Ein bestimmter Aufgabensatz setzte Bacher zu. Trotz all der Aufregung gelang ihm doch eine Aufgabe. Es waren hingegen drei gewesen, die er sich vorgenommen hatte. 

Dann wurden ihnen die Plätze zugewiesen. Da ging es gleich los: Schweigen, Blätter, Aufgabensatz.

Schier unerträgliche Spannung. 

Da war es zum Erstaunen: Es handelte sich tatsächlich um die Aufgaben, an denen er sich vorhin noch versucht hatte. 

Und da war es: Nur die erste gelang ihm. An den anderen bastelte er vergeblich herum, probierte diesen Ansatz, versuchte jenen Gedankengang.

Alles verwischte ihm im Kopf. 

Am Ende erschien einer, den Bacher sofort als Max Reger ausmachte. Dieses immer durstige Musikgenie. Reger sammelte die Aufgaben ein. Bacher zitierte ihn währenddessen ganz gelöst: Er habe ja seinem Kritiker zur Kenntnis gegeben, dass er dessen Kritik vor sich hatte, als er sich im stillsten

Raum seiner Wohnung zur Entleerung aufhielt, und dass er diese Kritik dort bald hinter sich hatte. Mozart tauchte an dieser Stelle auf und kicherte über diese Direktheit. Weil er sie in ähnlich unverblümter Weise auch bevorzugt hatte. Wie es durch seine Briefe hinreichend belegt scheint. Leider fingen die beiden Musiker zu streiten an, dass die Papiere, die Reger eben eingesammelt hatte, nur so durch die

Luft flogen. Irgendwas glaubte Bacher dabei von Mozart zu fühlen: Dass Regers Töne nur so durch die Lüfte flögen, schier wie verwirbelt, dass sie torkelten, sich überschlügen. Dass Reger den Ohren seiner Zuhörer zumute, sie einzusammeln und melodisch zu ordnen. 

 

Beim Frühstück setzte sich bei Bacher jenes Ein-Mädchen-oder-Weibchen fest, das sich Papageno gewünscht und Wolfgang Amadeus dem Bariton so freundlich auf die Stimmbänder gelegt hatte. Es gedieh ihm bald zum Ohrwurm und verfolgte ihn den ganzen Tag, so dass er es am Abend Sonnenschein ins Telefon trällerte. Ihre Frage, ob sie seine Papagena singen solle, machte ihn so glücklich, dass er fürs Erste zu antworten vergaß.

 

Am nächsten Tag erschien Sonnenschein bei ihrem

Cassian und begann gleich: "Du wirst lachen, heute Nacht warst du ein Bauer in meiner Show und ich habe das gleich wieder mit viel Spaß daran aufgeschrieben!"

Bacher wollte ihr gerne Bauer sein. Weil er, wie er ihr verriet, als Junge diesen Plan hegte, nachdem ihm die Mutter den Lokführer mit Erfolg ausgeredet hatte.

Sonnenschein begann: "Als du beim Eineggen der Furchen auf dem Feld warst, sahst du eine sonderbare Gestalt auf dich zukommen: Da war einer des

Wegs, grau von Staub, und eine eisige Blässe der

Innenwelt schien durch sein Äußeres."

 

Sonnenschein unterbrach ihren Vortrag und blickte auf Bacher. Der saß ganz gelassen da und wartete. "Okay", sagte sie, "warte ab, es kommt gleich ganz dick!" 

 

Sie fuhr fort: "Du hieltest deinen Gaul an und blicktest freundlich zu ihm hin. Er schaute dir nicht in die Augen. Er hob an zu deklamieren:  Hörer versteht, es schwingen immer in den vielen alltäglichen Geschäftsgängen so viele Möglichkeiten mit, dass sich so mancher für zunächst gangbar gehaltene und vielleicht sogar als Entscheidung fixierte Weg letztendlich doch als Imponderabilie – Hörer versteht das gefälligst als Unwägbarkeit – entpuppt.

Hörer verzeiht diese quasi verbale Bruchlandung mitten in der Biologie eines sich aus seinem Kokon befreienden Insekts. Welche doch einen wenn gar nicht anders möglich – zugegebenen Ausweg in aufbrechendes, sich nicht selten zum Hinwegflug, namentlich zur Transzendentiation generiert. Hörer versteht das als Überschreiten der Grenzen der Erfahrung. 

Es ist geradewegs ein konstitutioneller Mangel, dass sich Leben immer auch auf anderen Gebieten abzuspielen scheint. Es begründet nicht wenige Zerreißproben, dorthin zu gelangen. Eben darin äußert sich doch letztlich Lebenskraft, mit den Unzulänglichkeiten eine friedliche Koexistenz zu begründen und – was natürlich von großem Gewicht ist – diese auch zu erhalten. 

Dabei stieß Referent auf eine zunächst sehr verheißungsvolle Apperzeption – Hörer versteht das gefälligst als bewusste Wahrnehmung. Diese bestand darin, dass alle Teile einer Erkenntnis zu gleicher

Beachtung zu erheben sind ..." 

 

In Bachers Staunen hinein erörterte sie: "Also, du weißt ja, lieber Cassian, dass niemand solche Reden träumt. Zumal das Reden, nebenbei bemerkt, in den Träumen gar nicht möglich zu sein scheint.

Aber mich hat mein nächtlicher Eindruck gereizt, das auf diese ausformulierte Weise darzustellen und voll in die Irre zu greifen. Ich hatte einfach Lust darauf. Ich mache jetzt weiter, wenn du magst, Cassian: 

... worin sehr leicht der Vorteil in einer erheblichen Sichtbarmachung aller Partikelchen wahrgenommen werden kann ... 

– Du erinnerst, Cassian, dass es dabei um alle Teile einer Erkenntnis geht! – 

... Und am Ende doch noch hurtig zu einer Entscheidung mit Hilfe, sozusagen, eines Vergrößerungsglases. Bei aller gebotenen Vorsicht im Umgang mit der Bündelung des Tageslichtes als heißes Leben durch dieses Lupeninstrument, das dem Papier abhold ist und es gerne in Flammen aufgehen lässt.

 

Wie kommst du hierher?, unterbrachst du als der Bauer, der du in meinem Nachterlebnis warst, den Redefluss des sonderbaren Passanten. 

Er entgegnete, sich wohl eines höchstamtlichen Zitates erinnernd: Ein Dienstortswechsel im Sinne des Gesetzes in seiner jetzigen Ausformung und Geltung liegt ebenso vor, wenn der Behördenleiter im Rahmen seiner Organisationsgewalt den Beamten von der im Rahmen der Ämterneugliederung für eine Übergangszeit errichteten Außenstelle der Stammbehörde zuteilt, die an einem anderen Orte als dem bisherigen Dienst- oder Wohnort des Beamten untergebracht ist, und dieser Wechsel auf Grund einer im unmittelbaren Zusammenhang mit der Ämterneugliederung stehenden Änderung des sachlichen oder räumlichen Zuständigkeitsbereiches der Außenstelle dienstlich veranlasst ist ..." 

 

Sonnenschein musste in Cassians Staunen hineinlachen. "Diesen Wust habe ich aus einer dienstlichen Fortbildung. Ich musste das Monstrum einfach loswerden, da habe ich es aus der Dienstordnung abgeschrieben und dem Staubmännchen in den Mund gelegt. Aber ich mache weiter, wenn du noch Geduld hast", dachte Sonnenschein, ihre Geschichte zu Ende bringen: 

"Du – als eben wieder der Bauer – schwiegst ergriffen. 

 

Dein Gast fuhr diensteifrig fort: Die Welt verändern – weiß Gott irritierend eminent, da es keiner mit bloßem Auge zu erkennen vermag. Das Resultierende ist weltverändernde, die gewachsenen Zustände umgewichtende, radikal eingreifende, neue Wirklichkeiten schaffende und so weiter. Referent graut es vor seinen vielen Möglichkeiten, die kein betroffenes Subjekt mehr zu erfassen vermag. Da gewöhnlich Sterblichem weder Auge noch Perspektive zu diesem Behufe zu eigen ist.

 

Setz dich, befahlst du dem Wortwicht. Du Mensch ohne. Wo hast du nur dein Ich gelassen? Setz dich, wenn du nicht erst eine Vorschrift dazu hervorkramen musst.

Du merktest, dass er dich nicht verstand. Daher machtest du dich mit ihm auf den Heimweg. Setze ihn einfach, dachtest du – er ist leicht wie ein dünnes Schulheft – auf den Gaul und hoffe, dass ihm der warme Tierleib wenigstens den Arsch – ein herzliches Pardon! – auftaut. Zum reitenden Ausbalancieren reicht es bei ihm wohl nicht, daher binde ihn fest, dachtest du.

 

Die neuen Klarsichthüllen von Leitz bekannt?, erklang es vom Gaul herab. 4153? Diesen sind neuerdings einreißgeschützte Ecken zu eigen! Sachaufwandsträger veranstaltete einen Tages-Ordnungs-Punkt mit dem Ziel der Einführung dieser! Jedem Bediensteten drei Stück angewiesen und gegen Abzeichnung ausgehändigt. – Selbst, wenn es sachfremde Erwägung abbildet: Referent erblickt Ästhetik, vorwiegend eine beinahe erotisch geladene natürliche Aufwändigkeit in der milchig gedämpften Glanzhaftigkeit der Oberflächen. Ganz zu schweigen vom stumpfen Knick der unteren Kante, im Gegensatz zu früherem harschem Versuchen bei Leitz 4100.

 

Etwas Farbe war nach dieser für seine Verhältnisse außergewöhnlich betont vorgetragenen Sequenz auf seinen eingefallenen Wangen. Er hatte sich beinahe erkühnt und vorschriftswidrig erregt.

 

Diese neue Seriosität von Leitz, fuhr der Wicht fort, knüpfe an alte Vorbilder jener Bureaukultur. Der Karriereaspekt der ganzen Problematik sei andererseits darin zu erblicken, dass diese Klarsichthüllen ohne Weiteres selbst höheren Chargen vorbehalten sein könnten. Hinwiederum offenbare sich in genau dem Verfahrensakt der Materialausreichung ohne Rücksicht auf den hierarchischen Personalaspekt die entwicklungsoffene, gegebenenfalls soziale Progression neuzeitlichen inneramtlichen Verwaltungsverfahrens.

 

Das traute Heim erreicht, setztest du den Bürokraten zum Clown, von dem ich dir bereits erzählt hatte, auf die Ofenbank. 

Du betrachtetest deine Sammlung, wusstest im Nu, dass sie komplett war – und erkanntest dich selber, als ob du in zwei Spiegel zugleich blicken würdest." 

Sonnenschein schien ihr Vortrag gutgetan zu haben, so als sei sie jetzt etwas sie ein wenig Bedrängendes losgeworden. Sie benetzte ihre wohl von ihrem Wortreichtum etwas trocken gewordene Kehle und lachte, als sie das Glas abstellte, laut heraus.

Bachers "Oh, Sonnenschein, du Spieglein mein!", ging in dem Freudenlärm, in dem sie sich noch aufhielt, fast unter.

 

 

In der Nacht darauf schien eine soldatische Schildmütze einer Aktentasche unablässig Fragen zu stellen, widerfuhr Bacher. So sonderbar es sich auch darstellte, Bacher akzeptierte das, weil er hinter diesen eigenartig aktiven Requisiten jemand Menschlichen vermutete.  

Die Fragen, deren Inhalt Bacher eigentlich gar nicht vernahm, wurden anscheinend immer bohrender gestellt. Es war der Tonfall, den Bacher lediglich vermutete, allerdings genügte das dazu, diesen Eindruck zu erzeugen. Es sah sogar so aus, als wirkten die Fragen als Folterinstrumente oder unterstützten solche. Dass da im Verborgenen scheußlich Menschenverachtendes ablief, ging ihm durch den Kopf. 

Jetzt erschien eine Pistole. Ihr Dahinter wirkte auf das Verhör ein. Es richtete an die Mütze fordernde Appelle, die etwa die Aufforderung darstellen konnten, endlich zum Ende zu kommen.  Nun erst bemerkte Bacher, dass die Mütze die Aktentasche hinter den Scheiben einer Glasvitrine bearbeitete. 

Die Mütze quälte die Aktentasche pausenlos. Bacher entnahm jetzt den hektischen Gesten, die durch die Forderung des Revolvers vorhin offenbar trotzig verstärkt wurden: Sofort aussagen! 

So ging es eine ganze Zeit. 

Der Revolver begleitete seine Anweisungen mit

Warnschüssen an die Decke des zu vermutenden Raumes. Immer wieder krachte es auf die Forderung der Mütze hin: "Aussage!" – peng – "Aussage!" – peng ... 

Bacher hatte gleich beim ersten Schuss erwartet, dass die Mütze eine Kugel abbekommen würde. Als das Spektakel lange so gegangen war, wuchs in ihm geradezu das Verlangen, dass die Mütze endlich niedergeschossen werden würde. Das geschah schließlich auch. Die Kugel durchschlug das Glas, zerfetzte den Mützenrand. Es tauchte immer noch kein Kopf auf. Allerdings war das Loch in der Mütze jetzt von Blut rot umrandet. 

 

Bacher erwachte mit einem Wohlgefühl und ordnete diesen Zustand der Erlösung von diesem doch immerhin albtraumhaften Ereignis zu. Er schloss dagegen nicht ganz aus, dass dabei auch etwas Genugtuung über diesen finalen Schuss mit im Spiel war. Dieser wäre schließlich ebenso jedem Quälgeist aus seinem Umfeld zu verpassen, leistete er sich.

 

 

31. Juli

Schön, dass S. wieder hier war und Bacher heute von sich selber erzählte. Vielleicht wollte sie damit ihre auf ihn bezogenen und sehr direkten Geschichten versöhnlich etwas abmildern:

"Ich war doch erst vor vierzehn Tagen beim Friseur, überraschte ich mich", begann sie, "als ich bereits im Behandlungssessel des Haarkünstlers saß. Weg mit dem Styling der deutschen Frau, blond mit Dauerwelle. Vollschlank, immer ein Aussehen mittleren Alters!, forderte ich mich auf. Während an mir gerupft und gezupft wurde, blätterte ich in einer Illustrierten, um eine flottere Frisur zu finden. Ich nickte jedoch immer wieder für Sekunden ein.

Der Maestro schritt einher und bedeutete mir wort- und gestenreich, mich zu erheben und mich der Bluse zu entledigen. Nur so sei er in der Lage, die meiner Hals- und Schulterpartie, respektive meines Typs gemäße Stufungsstruktur, Haarlänge etc. einigermaßen richtig ... 

Er vollendet seine Sätze selten, bemerkte ich. Nun ja, er ist ein Künstler und schafft Werke. Und Schöpfungen der Kunst, besonders Gesamtkunstwerke wie Frisuren und die fantastischen Gespräche, die ihre Entstehung begleiten, sind immer unvollendet. Wie eben alle Schöpfung überhaupt. Das wusste ich noch aus der seinerzeit gebuchten Selbstfindungsgruppe der Volkshochschule. Auch Gedanken und Vorsätze sind Schöpfungsakte, sinnierte ich unter der Haube. Du musst sie lebendig erhalten, offen, entwicklungsfähig, wandelbar. Wer sie festhaltend beerdigt, dem begegnen sie höchstens als Wiedergänger, als Gespenster. Ich wurde am Ende durch einen Blick in den Spiegel von dieser Ebene der Gedanken getrennt. In einer gewissen Ähnlichkeit zu einem jugendlichen englischen Blaublut, der leider allzu früh verblichenen Lady Di, wollte ich mich erblicken, und diese Absurdität entzückte mich. Das ist der Reiz der Unwirklichkeit, des Scheins, ja des Widerspruchs, der Gegensätzlichkeit, wurde mir klar. Es geht ja auf den Herbst zu, die Leute strahlen noch kupfern oder ockerfarben. Das Bräunungsstudio des Salons lag unbenutzt. Obwohl meine Haut noch sommerlich getönt war, beschloss ich, diese Einrichtung aufzusuchen. Meine Bekannten hatten die Bräunungsbetten in höchsten Tönen gelobt.

Daliegen, Wachträume züchten, die Gedanken spazieren gehen heißen. In kleinen gepflegten Eitelkeiten, des Sommers müde, sich in Winters Freuden ergehen. Skifahrerbräune und unter modischer Montur hervorglänzen. Ab und zu wegtauchen. Das tat alles so wohl, dass ich im UV-Sandwich bald eingeschlafen wäre.

Ich beschloss, wieder hinzugehen. Du bist ja eitel!, bestätigte ich mir auf der Nachhausefahrt im Taxi. Und du bist verschwenderisch! Früher, noch vor Wochen, wärst du mit dem öffentlichen Verkehrsmittel gefahren. Du hättest nach dem Friseurbesuch noch ein paar Besorgungen erledigt. Du wärst dann mit einem Einkaufsbeutel links und rechts nach Hause gekeucht.

Früher? Wann war das? Warum war das? Es muss wohl immer so ein Früher geben, an dem man sich anprangert! Ein Spiegel. Drehen, wenden. Pirouette im Teenagerballett. Das wäre doch eine erregende, bewegende Verknüpfung: die Spiegelneugierde einer Achtzehnjährigen mit der verhältnismäßig hohen Selbstsicherheit meines Alters. Oh, sage bloß nicht Alter, nenne es einfach Zeit! Ja gut, das ist so ein notwendiger Glaube an sich. Jeder fühlt sich sowieso immer jünger, als er – besonders sie! – ist. Die Natur ist so gütig, sie schenkt uns diese Selbsttäuschung. Warum sollte jemand sich zu diesem überlebenswichtigen Irrtume nicht frei bekennen und ihn ungeniert genießen? Doch immer schön aufgepasst bei diesen Pirouetten, dem Drehen um die eigene Achse, dass der Schwerpunkt gewahrt bleibt. Du musst deine Zentralachse erkennen, so etwa mittels Spiegelung: Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist – sie? Diese vielen

Spiegel an den verschiedenen Standpunkten, außen – und innen. Vielleicht entsteht im Schnittpunkt der vielen Perspektiven ein Bild von dir als Zentralachse, um die sich deine Existenz einigermaßen sicher dreht? 

Während dieses Gedankenspiels hatte ich mich entkleidet und drehte und wendete mich als Eva vor dem Spiegel. Ich hüpfte, den Busen mit beiden Händen haltend, setzte überspannte Tanzschritte und lachte über mich. Am Ende in Tränen ausbrechend, von denen ich mir nicht ganz sicher war, ob es wirklich Freudentränen waren.

Eine ganz schön zerknitterte Zentralachse, meine

Liebe, bedeutete ich mir, während ich mir mein Hausdress anzog. Jetzt keine Selbstgespräche mehr, jetzt mit jemandem geplaudert! 

Mit diesen Gedanken holte ich mir das Telefon zur Couch.

Ist ja toll, wieder von dir zu hören!, die Stimme der Freundin Elli.

Ich komme eben aus dem Hairstudio, völlig entspannt, leicht gebräunt.

Um Gottes willen, du, ein Stück Braten!, lachte Elli.

So ungefähr!, meine Antwort. Braten im eigenen Saft!

Ach, entschuldige – aber sag, du bist doch okay?

Alles so lala!

Das Gespräch wechselte dann, Elli erzählte von ihrer Feier zur Mittdreißigerin, den Schulerfolgen ihrer Söhne und berichtete über die Hausse des eigenen Unternehmens. Das sprudelte alles nur so hervor, als habe Elli einen einstudierten Text vorzutragen gehabt ..." Sonnenschein brach ihre Story ab und blickte etwas ratlos drein, so als ob sie überlegte, wie sie eigentlich auf dieses Thema gekommen war.

 

"Es sind häufig nur die Geräusche von Anderen, die einer benötigt, um sich nicht allein zu fühlen", versuchte Bacher, auf Sonnenschein einzugehen. "Daher vielleicht die verbreitete Furcht vor der Stille. Vor der Einsamkeit." Dann schien ihm etwas eingefallen zu sein: "Es ist die große Trübsal der Einsamkeit unter Vielen. Diese bedrückt heute die Menschen in unserer Gesellschaft der Versingelung. Die vergeblichen Versuche, das mit ihrer Eventsucht in den Griff zu bekommen. Das stand

neulich in der Zeitung."

 

 

Anfang August kam es Bacher, dass er ein Problem, das ihn noch vor einiger Zeit richtig umtrieb, vernachlässigt hatte. Daher setzte er sich und begann zu notieren: Ich habe mir heute zu Allelter nachzutragen:

Diese Bezeichnung ist kein Name, kein Ersatz für das Göttliche der herkömmlichen Begrifflichkeit. Es kann lediglich der Ausdruck einer Vorstellung sein, die auch wieder keine Bildlichkeit annehmen sollte. Mein innerer Kampf gegen die Sucht der Vergegenständlichung des nicht Vorstellbaren sollte weitergehen. 

Vielleicht ist Allelter der Ausdruck, allenfalls die darstellende Umgrenzung, die eine Ahnung zulässt. Ahnung ist gut, finde ich. Wahrheit kommt nur als Ahnung auf einen. Zunächst wenigstens. Dann sollte einer doch erst darauf lauschen und sie danach ins Tun einfließen lassen. Denn Wahrheit, denke ich – das ist wieder ein weites Feld – kann nicht

besessen werden. Sie kommt im Versuch, im Tun

...

So etwas wird mich weiterhin verfolgen. Drum jetzt wieder weg damit.

 

 

Nachts darauf ... – Doch ein paar Gedanken vorweg: Es war gut möglich, dass seine wiederholte Beschäftigung mit jener Frau vom Trödelmarkt es ihm aufgedrängt hatte. Mit dieser Frau, die alles ihr Entbehrliche loswerden wollte. Mit dem von ihm in ihrer Bekundung überhörten letzten Teil, diesem jetzt schon viel zitierten Oben, war er längst einigermaßen zurechtgekommen. Die Antwort auf die gestellte Frage danach lag ja auf der Hand – wenn sie ihn auch gelegentlich zum Rätseln nach der eigenen Ortsbestimmung in der Angelegenheit geführt hatte. Dieses Gretchen'sche: "Wie hältst du es mit der Religion ...", kicherte sich Bacher gelegentlich sein kleines Faustfragment. Und das – wie er sich schließlich eingestand – zur Entspannung vom Zwang dieser bisweilen lästigen Ungelöstheit.  Er dachte jetzt darüber nach, es vielleicht der Frau mit dem Abstoßen von überflüssigem Hausrat gleichzutun. Allerdings musste er da ziemlich bald passen, denn er war ja als noch einschichtiger Mensch nicht gerade üppig ausgestattet. So ein

Kerl wie ich, machte er sich vor, hat seinen Besitz – wenn überhaupt davon zu reden ist – im Kopf.

Selbst diese Einschränkungsfloskel inmitten seines Einfalls führte ihn zu einem energischen Rückzieher: Wer wollte denn etwas von diesem bisschen Gedankenkrempel haben? Die Masken einer Marionette?, reizte er sich noch etwas, zog hingegen das gleich wieder in Zweifel mit der Frage, ob Marionetten denn solchen Außenschutz überhaupt benötigten?

Er ließ es sein – was die Angelegenheit jedoch in sein Schlafgeschehen brachte: 

Da sah er eine Figur von Weitem. Es mochte eine Frau sein. Er bemerkte bereits aus der Entfernung, dass sie in einem Gewand wie einem langen weißen Hemde steckte. Irgendwie herumfuchtelnd, damit häufig ins Kreuzweise geratend, konnte Bacher feststellen. Dass sie immer wieder auf riesige Säulen wies. Sie wollte wohl damit andeuten, dass sie das gewaltige Gebilde mit den Säulen zu veräußern oder jedenfalls irgendwie loszuwerden trachtete. "Bereits etliche Jahrhunderte, im Grunde noch vor seiner Fertigstellung!", wollte Bacher vernehmen. "Das ganze Spielzeug da hält mich von meiner ernsthaften Arbeit ab!", konnte die Fortsetzung gelautet haben. Darauf wurde Bacher von seinem Traum ganz in die Nähe der Gestalt gerückt. Er erkannte, dass der Figur derbe schwarze Schuhe unter seinem weißen Hemde hervorlugten und sie auf dem Kopf eine weiße Kippa trug. "Die ganze ausufernde Schönheit bindet die Blicke und lässt alle am großen Ganzem vorbeischauen, das überall ist!", glaubte Bacher, hinter sich noch klagen zu hören. Er war jedoch bereits auf dem Weg zu einer anderen Gestalt. Hinten an der äußersten Ecke saß diese und präsentierte – ach ja, Masken ...

 

Die Nacht war vorüber, und Bacher erwachte mit

"Sonnenschein" auf den Lippen. "Franziskus und Sunny", stöhnte er fast beim Frühstücken vor sich hin – und auch tagsüber das eine oder andere Mal. 

 

 

Es konnte leicht sein, meinte Cassian Bacher am 2. August, dass ich mir Sonnenscheins Traumworte von neulich sehr zu Herzen genommen habe. Diese Charakteristik, die ihrer Meinung nach mich betraf und mich wesentlich beschrieben haben soll. Er sagte sich: In der vergangenen Nacht war ich jedenfalls weiß geschminkt mit breitem, rotem Mund ... Da bin ich mir als Clown deutlich vor Augen getreten. So dass ich nun bei Tag beinahe gezwungen bin, es für mich endgültig geltend zu machen.  Bacher hatte heute richtig Lust, sich in seinen beiden Figuren zu inszenieren. So setzte er gleich ein stilles Selbstgespräch in Gang, das er als sowas wie Puppentheater fassen wollte:

 

Man tritt als Clown dauernd – ää – gegen sich selber an. Kein Zweifel, dass ich, der Clown, mich möglicherweise – ää – stets selbst darstelle. Ob ich bissig scharf – ää – die Schwächen der Anderen thematisiere oder sonst was unternehme. Es rührt womöglich von den bäuerischen Ahnen her, dass eben die irgendwie täppische, derbe, tölpelige Art meinen wesentlichen Effekt ausmacht. Das Scheitern an der Tücke – ää – des Objektes auch. Und dieses verdammt tragische Bedürfnis, das ich Clown immer bei den Anderen auszulösen im

Stande bin: zu treten und zu schlagen. Ich arbeite – ää – eifrig gegen mich. Und die Anderen haben vielleicht den Gewinn davon an Belustigung – ää – und Bestärkung in ihrer Überlegenheit. Die man ihnen gönnen muss. Ich versuche darum, die Kollegen zu verstehen. Die gewissermaßen ihre Art reduzieren in der Begnügung mit der nackten Satire eines – ää – Kabarettisten oder gar mit der Mitleidsmasche. Letztere vermag man besonders häufig bei Musikkollegen zu finden, die – ää – schlauerweise meist auf die Liebe der Kinder und Kindgebliebenen abzielen. Aber die Kollegen von der Satire sollten sich ja nicht wundern, wenn man das Clowneske – ää – in ihrem Sein übersieht. Gerade lustiges Publikum benötigt immer das ganze Schauspiel, um seine Heiterkeit zu mästen.  Ein geteilter Spaß – ää – erweckt den Eindruck, dass man dem Publikum etwas vorenthalten wolle. Erweckt den Eindruck des Entzugs, ja den Eindruck des Diebstahls.

So arbeitet leider wohl – ää – auch die Entwicklung gegen meine Art. Immer weniger Menschen werden bereit sein, sich – ää – in mir als Clown in ihrem Lebensvortrag zu erkennen. Man denkt, handelt, spricht, kleidet sich, wohnt, liebt und so weiter wie vielleicht andere oder – ää – vermeintlich alle oder doch wenigstens die statistische Mehrheit. Niemand von denen, die in mir Clown sind – und das sind immerhin die allermeisten –, will sich – ää – allerdings in mir sehen. Sind wir doch alle Narren, wollen das allerdings nicht bei uns selber, sondern nur an den Anderen erblicken können.

 

 

Man wisse nicht, meckert es amtsgnomisch, warum

Müßiggänger immer wieder, als gäbe es nichts Wichtigeres zu veranstalten in dieser unserer Gesellschaft, die Individualität hervorzuzerren begehrten. Sie sei immerhin und rechtzeitig Ende der 40er Jahre sicher ins Gesetz gepackt worden. Als Menschenwürde. Sie lugte da geradezu jungfräulich hervor. Sie sei, wie im Übrigen alle Idealformen, im reinen Vollzug nur hinderlich. Ich hegte seit einiger Zeit gerne den Verdacht, dass Machiavelli einer von uns und nicht etwa der schlechteste Teil davon sei. 

 

Ein immer wieder – ää – wie du zu sagen beliebst – ää – in der Praxis missbrauchter – ää – da meist ganz mies imitierter, kontert der Clown in mir. 

 

Und das Staubmännchen entgegnet gelassen: Es wäre, mein Herr, ein Akt, der nachgerade nach Erläuterung drängte. Wenn sie eine historische Person zitierten, die in diesem Falle der Auslegung der Rolle in eine ganz besondere Position gerückt zu werden den Augenschein erweckte. Aber Unterfertigter müsse das entschieden den sachbezüglichen Sparten zuweisen. Nach dieser Feststellung ließe sich schließlich eine Kommentarstelle einbringen: Mit Historismen immer ganz vorsichtig umgehen zu wollen. Mein guter Herr Clown, wenn man sich endlich gehen lassen dürfe. Man darf es natürlich nicht, auch nicht in der fälschlichen Annahme, darin eine persönliche Note erblicken zu sollen. Was ich anmerken wollte, ist dies, dass wenn man seine Sparte verließe, sein Fachgebiet, den Bezirk seiner Kompetenz. Anhaftet doch Letzterem immerhin etwas so Bedeutendes wie die Aura der Autorität an. Wenn man sich zu Äußerungen hinreißen ließe, sind da immer welche, die bereits da waren und ihre Ergebnisse abgesetzt haben wollten. Da befinde man sich in der mitunter schwierigen Situation, diese Menge wenigstens der Kenntnisnahme zu unterziehen und abzuzeichnen. Man beginne sich insgeheim zu teilen, was in ein Zerreißen münden könnte, betriebe man es zu heftig. Item: Leistung wäre heute mehr denn je nur mit Begrenzung möglich! Wolkenkratzer-Effekt, erlaube ich mir zu sagen: kleine Basis mit Auswuchs bis in den Himmel darüber!

 

Ich habe dir – ää – lieber ...rat – ää – Bürokrat ist mir als Wort zu lang – ää – ich werde mich überhaupt beschränken – ää – gar nicht zugehört. Ich habe dich gleich zu Anfang deines ersten Satzes ertappt. Ich kenne dich und dein Instrument der Möglichkeitsform. Wenn du das benützt – ää – hörst du dir selber nicht mehr zu. Es ist so mit der Distanzierung – ää – es handelt dann irgendwer irgendwo für dich. Und sei es nur die Null. Ich zeige dir gerne den Unterschied zwischen uns. Für unsereinen ist Wirklichkeit alles von uns Getane – ää – Gedachte – ää – Gewollte – ää – Gefühlte. Was unsereins auslässt – ää –, das gibt es gar nicht für unsereinen ...

 

Cassian Bacher fühlte sich nun in seinen beiden Selbstfiguren weitgehend ausgesprochen. Er nahm sich also aus seinen Gebilden mit den Worten wieder heraus: "Es tut auch wieder gut, sich die Maske abschminken zu können". Er ließ es sich laut vernehmen, damit es auch über die Ohren ins Bewusstsein gelangen konnte. Als Echo sozusagen. Denn es kann auf Dauer nicht von Nutzen sein, war er überzeugt, als Marionette auch noch maskiert zu spielen. 

Cassian Bacher erklärte sich beinahe feierlich: "Auf der blanken Haut wünsche ich mir von Sonnenschein dann einen frischen Teint, so dass ich

wenigstens einigermaßen gesund aussehe." 

 

Dem Traumtheater lediglich eine andere Regie gönnen? Nein, das genügte ihm nicht! Die Inhalte umzuschreiben? Bestimmt wäre dazu ein seelischer Geniestreich erforderlich. 

Worauf er zunächst allerdings doch ein wenig hoffen wollte.  

 

Von Ausreißern und ihren Umständen

(aus dem Roman "Gandauers Ankunft")

 

 

 

Zu seinem neunzigsten Geburtstag war die Zeitung da und der Austragsvater erzählte: 

 

"Als ich noch ein ganz junger Bursche war, stand ein Ochse im Stall. Es war ein liebes Tier. Ich hatte das Kalb mit zur Welt bringen helfen. Es der Kuh zum Ablecken vorgelegt. Es zum Euter gebracht. Später musste ich helfen, als ihm der Bauer mit seinem Stilett das Stiersein wegmachte.

Als der Ochse kräftig genug war, musste er ans Geschirr gewöhnt und zur Arbeit gebracht werden. Das ging nicht so einfach, denn es heißt ja: stur wie ein Ochse. Wenn ein Tier zum Laufen gebracht werden sollte, war es üblich, es an einen Wagen hinten mit Halfter anzubinden und mit einem anderen Gespann loszufahren. Oder einer schlug mit einem Prügel auf das Vieh ein. Meistens machte man beides.

Ich wollte das nicht so machen. Bei meinem Hulimu schaffte ich es mit Getreideschrot. Das hatte ich im Pferdestall den Rossknechten geklaut und hielt es in der hohlen Hand lockend, immer etwas entfernt vor Hulimu. Der wollte es natürlich lecken und lief also seinem Fressen nach. ('Wie der Mensch auch', nuschelte der Bauer.) Irgendwann klappte es dann ohne das. 

 

Niemand sonst wollte mit dem Ochsen arbeiten. Wir lebten schließlich in einer Pferdewelt. Ein Hornvieh im Gespann schlug sich auf das Ansehen.

Das Ross machte mehr her. Meine Vorliebe, mit Hulimu zu arbeiten, wurde bespottet. Aber ich hatte ja das warme Leben mit ihm bei der Arbeit.  Eines Tages fraß Hulimu nicht mehr. Fremdkörper im Pansen, stellte der Tierarzt fest. Er meinte, dass es sich meistens um mit dem Futter aufgenommene Nägel oder Zaunkrampen handelte. Die blieben im Pansen und drückten später aufs Herz. Das Tier verendet. Ich stand da und schaute Hulimu an und malte mir sein Leiden aus. Hulimu gab keinen Laut von sich. Er würde plötzlich umfallen und tot sein, ohne einen Laut von sich gegeben zu haben. Ich fühlte mich in sein Leiden hinein. Ich wollte mein Geld zählen, das ich immer in meinem Strohsack hatte, ob es für eine Operation reiche. Als ich wiederkam, war Hulimu bereits umgebracht. Hing aufgeschlitzt an einer Pfette in der Scheune. Blutbefleckte Gestalten liefen umher, die im geöffneten Körper wühlten. Ich packte eine Mistgabel, aber die Metzger trieben mich lachend mit ihren Messern weg und hatten ihren Mordsspaß. Im noch warmen Fleische wühlend, maulte einer: Man sollte die ganze Menschheit nach Hirnkranken durchsuchen und den Ausschuss gleich zur Kadaververwertung bringen! ('Der windige Schwätzer und die ganze Menschheit!', murmelte der Austragsbauer vor sich hin.)"

 

 

 

Fischer – eigentlich Piscator, allerdings hatte er den privat bereits hinter sich – begegnete dieser Geschichte in seinem Heimatblatt. Obgleich sie dort den Worten des Alten durch die Verschriftung den sprachlichen Reiz geraubt hatten, bescherten sie Fischer starke Gefühle. Er befand sich im Krankenstand und hatte ausreichend Zeit, sich besagten Regungen für alles Kreatürliche zu widmen. Allmählich bezog er das Ländliche überhaupt (von dessen Bewohnern allerdings absehend) mit ein.

 

Seinen Kollegen im Betrieb hatte er zu Beginn seiner Abwesenheit selbstverständlich gefehlt. Nicht eben aus Zuneigung, sondern wegen der vermehrten Arbeit, die ihnen dadurch aufgetan worden war. Wochen vergingen. Allmählich wurde seine Absenz in den Augen der Anderen zum Urlaub, sozusagen auf Krankenschein. 

Zwei Monate verstrichen, bis Buchhalter Piscator wieder auftauchte.

Er hatte früher graues oder braunes Tuch bevorzugt – Anzüge gewissermaßen der vorletzten Mode. Heute dagegen meldete er sich irgendwie bunt gescheckt in Landhausstil gewandet zurück. (Da er ja – was allerdings noch niemand wissen konnte – in seinem Hang zum Ursprünglichen seinen Namen für den persönlichen Gebrauch in Fischer gedeutscht hatte, soll ihm hier der Gefallen getan werden, ihn so häufig wie möglich damit zu nennen.) Fischer parierte mit breitem Grinsen die wegen seines sonderbaren Outfits erstaunten Blicke – und begab sich nach kurzem Gruß in sein Büro. Dort setzte er den Computer in Gang, tippte sein Passwort ein – und erschrak: eine Fehlermeldung mitten in der ansonsten zunächst leeren Mattscheibe. Er wollte sofort begriffen haben – und stieg kalt aus, indem er der Kiste einfach den Strom abdrehte. Dann lehnte er sich zurück. Klar, sagte er sich, ich bin hier abgemeldet. Er atmete tief durch. "Out!", hörte er sich. Er atmete nochmal so tief durch und dann immer wieder. Er sog die Luft so tief ein, wie es nur ging – und hielt sie an, so lang es ging. Das trieb er, bis er Sterne vor den Augen hatte. Die Nacht dazu machte er sich, indem er die Lider schloss. Er tauchte für eine Weile weg. Als er mit einem Stechen im Kopf zurück war, fasste er sich wieder: Hoffentlich ist es von Dauer, dieses Abgestelltsein. In der Erwartung, endlich wieder von Hand schreiben zu dürfen, begann er, Bleistifte zu spitzen. Dann sortierte er Büroklammern. Um das sanfte Kratzen eines Stiftes und die Befriedigung beim Entstehen von etwas Handgefertigtem zu genießen, begann er zu zeichnen: Bäume, Wiesen, Tiere, Scheuern und sonst was entstand, jedenfalls alles in Richtung Natur und Landleben. Er holte sogar noch aus, indem er die Fenster aufriss und sich etwas von frischer Luft, Bewegung und Gesundheit, ja Freiheit vorschwärmte. In diese gute Stimmung platzte Frau Metz mit der Anordnung herein, dass er, Herr Piscator, bei Herrn Direktor Heldmeier zu erscheinen habe.

Früher, sogar noch zu Zeiten, als er bereits bekennender Sozialist war, hätte ihn diese Mitteilung elektrisiert. Sie hätte ihn emporschnellen lassen, wenigstens innerlich. Und wäre er ehedem erregt, Anzug und Krawatte zurechtzupfend, des Weges gewesen, so ließ ihn diese Nachricht jetzt ziemlich unbeeindruckt. Fischer nahm sich Zeit, versuchte sogar in seine Vorstellung von Paradies zurückzukehren. Das wollte ihm – doch wieder irgendwie auf Piscator gesetzt – allerdings nicht gelingen. Die Stimmung war dahin. So machte er sich auf den Weg – nicht ohne mit dem Finger in die Erde der hier und dort aufgestellten Blumentöpfe zu drücken, um zu prüfen, ob sie gut gewässert sind. Beim Betreten der Kommandozentrale fühlte er stechende Blicke auf sich gerichtet und sich von oben bis unten gemustert. In Heldmeiers Gesicht fehlte heute allerdings das sonst wenigstens anfänglich zwar äußerst verhaltene, dennoch ohne weiteres feststellbare Exponentenlächeln. Buchhalter Piscator erhielt allerdings keine Zeit, Verlustgefühle aufkommen zu lassen. Er wurde gleich überaus schroff mit einer Frage konfrontiert: Wo er denn in Teufels Namen die ganzen Belege für die vielen Spenden habe. Und zwar völlig irrwitzig jeweils einen Tausender. Welche Prokura, verdammt noch mal, hier im Betrieb der Auftraggeber gewesen sei. "Dieses schöne Geld dauernd für Naturschutz!", entrüstete sich Heldmeier lautstark und dem Nachsatz, dass ihn wohl der Affe lause. Er, Heldmeier, gebe schließlich genügend Geld dafür aus, dass in den Büros Blumentöpfe stehen und der Rasen ums Fabrikgebäude regelmäßig gedüngt, gewässert und gemäht werde. So dass seinetwegen ein die Gemüter angeblich beruhigendes und damit das Betriebsklima positiv beeinflussendes Gefühl von so was wie Landleben sogar hier in der Stadt aufkommen könne. Was er jedoch im Grunde für die reine Idiotie halte, wollte er sich nicht verkneifen.  Fischer hatte die Zeit dieses Vortrags genutzt, um sich auch hier mit prüfender Augenscheinnahme den Pflanzen zu widmen. Heldmeier sah ihm dabei einen Augenblick völlig befremdet zu, beließ es jedoch zunächst bei einem Kopfschütteln darüber. Auf einmal setzte Heldmeier dazu an, seinen Text erneut vorzutragen, nun allerdings noch mit etlichen saftigen verbalen Entgleisungen aufgeladen. Da er dabei hinter seiner Bastion von Schreibtisch hervorkam und sich bedrohlich, mit hochgezogenen Schultern und angewinkelten Armen, auf den attackierten Piscator zu bewegte, schloss dieser, dass seine weitere Anwesenheit hier nicht vorteilhaft sei.

Fischer begab sich noch kurz in sein Büro, um seinen Abschiedsgruß unter Benutzung jener eben vernommenen prallen Grobheiten, wenn auch mit anderer Adresse, mit Filzstift auf die nackte Schreibtischplatte zu kritzeln. Dann machte er sich davon. 

Auf dem Fabrikhof griff er sich eines der Diensträder, die für untergeordnetes Personal zum eiligen Durchqueren des Firmengeländes bereitstanden. Er schwang sich auf den Drahtesel und setzte, vorbei an seinem eigentlich noch gut erhaltenen fahrbaren Untersatz, seine Flucht fort. Einige Meter war er bereits in Richtung Straße, da kehrte er wieder um. Er fingerte aus der Hosentasche die Schlüssel für Auto und Wohnung. Er warf das Bund aufs Dach seines Wagens, dass es krachte – und Fischer doch noch etwas schmerzte, wegen der zu vermutenden Beschädigung des Lackes. Dann machte er sich davon, tauchte in den stinkenden, röhrenden, bedrohenden Straßenverkehr ein und sozusagen unter.  Nach etlichen Schüben von Lebensangst, die er jedoch in einer Stehkneipe wegspülen konnte, kam er bei Dunkelheit am Wohnsilo im alten Industrieviertel an. Dort hatte er sich längst nach seiner Jahre zurückliegenden Landflucht und im Hinblick auf seine Pläne (worüber beides noch zu berichten sein wird) neben seiner eigentlichen Stadtwohnung einen Unterschlupf reserviert. Denn ihm ahnte seit geraumer Zeit, dass er eines Tages nicht mehr widerstehen können und alles hinschmeißen würde: So richtig mit Abbruch aller Brücken, weg aus dem Spießerleben (das zu führen er sich immer wieder bezichtigt hatte). Raus aus dem Alltag (der einen in seiner Greiferklaue hielte, wenn man ihm nicht immer wieder und dann gehörig auf nämliche schlage). In seinem eigenen Land leben wollte er (das jeder sich überall erobern könne, und zwar unter gewissen Umständen, welche er natürlich herbeiführen müsse, was Fischer jetzt tatsächlich anpacken wollte).

Das Fahrrad in den Lift gezwängt, es muss mit in die Wohnung! Fünften Stock anwählen. Etwas Zeit. Riecht fies hier!, stellte er fest. Da haben es wohl etliche nicht mehr aufs Klo geschafft.   Oben streckte er erst den Kopf raus und prüfte, ob die Luft rein sei. Er wollte sich hier endlich seinen Traum erfüllen und unbekannt und vor allem in Ruhe gelassen sein.

In seiner neuen Heimat wuchs sein bereits üppiges Wohlbefinden noch. Er schob die Flurkommode vor die Eingangstür. Er warf eine Decke auf den Boden und wollte pennen. Mal schlafen, wann ich will. Er lag eine Weile. Er war allerdings zu glücklich und viel zu aufgekratzt, um gleich wegzutauchen. Mein lieber Schwan! Ich bin erst vor einigen Jahren ... Egal. Aus meinem Bungalowviertel ...!, ging ihm durch den Kopf. Dieses künstlich und scheinheilig grüngespickte Kaff mit so viel Himmel darüber. Und das war bereits ein Wagnis. Immerhin noch in eine stinkordentliche Gegend der Stadt. Aus nur scheinbar hoffnungsfrohen gesellschaftlichen Anfängen weg. Was würden die guten Eltern sagen?, kratzte er sich auf und wälzte sich eine ganze Weile auf seinem Lager von einer Seite zur anderen. 

Gehört auch was dazu, alles wegzuschmeißen!, konnte er sich wieder fangen. Und kein Abstieg, sondern ein Aufstieg hier. Zu mir ... Ich kann stolz sein, auch und gerade, weil das so schnell keiner nachvollziehen kann. Sich seinen Lebenstraum zu befleischen um ein festes Knochengerüst herum und so irre zu beleben. Hier in der Absteige, die in Wahrheit eine Aufsteige ist! Hier, wo sie mit ihren

Betonsilos in die Höhe gegangen sind. So ein geiler Aufstieg Richtung Himmel. Mit Obdachlosen hier und Asylanten unterm selben Dach, mit Stützeschnap­pern und den ganzen Dauerbrennern der Stammtische der spießigen Zeitgenossen.  Er dämmerte vor sich hin und dachte noch verschwommen darüber nach, wie er sich das Nötigste beschaffen könnte, wenn die Büchsen mit den Fertiggerichten alle sein werden. Besorgungen bei Dunkelheit plante er. Sie haben ja jetzt ihre Läden so lange auf ... Dass er auf jeden Fall sein Leben als Solo spielen wolle ... Und in Ruhe sollten sie ihn alle lassen. Bis der Arsch kalt ist!, puschte er sich hoch. Auch wenn ich abgekratzt bin, sollen sie es erst an meiner Gaslichkeit merken. Die ihnen erst in die Nase kommen muss, bevor sie im Hirn landet. Wenn sich meine Natur auflöst und sich dem großen Ganzen zurückschenken will ... Als er nach Stunden aufwachte, blieb er noch eine Zeit liegen und

fuhr mit den Augen die Decke und die Wände entlang. Er sinnierte den Gebrauchsspuren nach, malte sich in die dunklen Bahnen der Umrisse von Bildern seine Gemälde, die er dort gelegentlich einbringen würde. Er traute seinen Augen kaum, als er auch die staubige Hinterlassenschaft eines Kruzifixes ausgemacht haben wollte. Er schaute immer wieder hin, um zu prüfen, ob es nicht doch was anderes war. Ein Kreuz? Vielleicht hing da eher ein Hakenkreuz – bei dem Publikum, das hier wohl verkehrte, meinte er. Lachend rappelte er sich auf: Müssen recht sonderbare Heilige gewesen sein. Die hier vor mir! Dann begann er zu kramen, stellte um, hängte einstweilen an die Nägel über den nach Vorsatz noch auszumalenden Bildrändern, was ihm so in die Finger kam: eine Bratpfanne, ein Latschen ... Nur das Zeichen des Kreuzes, auf das er schließlich doch erkannte, verschonte er. Worüber er sich über sich selber wunderte. Er lenkte sich gleich davon ab, indem er dieses und jenes immer wieder umgarnierte und sonstige Verrichtungen vollführte. Damit verging der Tag. Er freute sich schließlich und hüpfte in der Behausung herum, riss sich die Klamotten vom Leib und vollführte splitternackt seinen irren Freudentanz. Als ihm richtig schwindlig war und er mit dem Atmen nicht mehr so richtig mitkam, ließ er sich auf sein Lager fallen und schlief schließlich ein. 

Dass es eine traumlose Nacht war, verzieh er dieser. Er habe ja seinen Traum zu leben begonnen, beteuerte er sich. Er benötige deshalb dazu keine von diesen halbbewussten Befeuerungen mehr. 

 

Als er nach einigen Tagen eines Morgens die Augen aufschlug, überkam es ihn gleich, dass es so eigentlich nicht weitergehen könne. So?, fragte er sich. Ja wie?, forderte er sich zu einer Antwort auf – die er sich jedoch schuldig bleiben musste. So wich er sich aus: Es sei erst sieben! Die blöde innere Uhr noch!, maulte er. Was anfangen mit so einem langen Tag? 

Derart mies gelaunt, ging er ans Fenster, um sich in der Gegend umzusehen. Überblick schaffen von hier oben aus!, meinte er. Stadtrand ohne Landschaft!, stellte er fest, hatte es allerdings vorher bereits gewusst. Alles hier schon so total fertig, erledigt. Obwohl es noch gar nicht richtig da ist. Ohne irgendwie Natur, dass ein Baum was zudecken könnte, was fürs Auge nichts ist. Der Müll, die Autowracks, die anscheinend immer zur Umgebung der Drop-outs gehören ... Bei diesen Beobachtungen überkam ihn noch ein ungutes Gefühl. Er war sich jedoch sofort sicher, dass es nicht von diesem Verhau da unten herrührte. In den hinein könnte er sich sogar wachträumen: Dieses verbeulte Ami-Auto dort ohne Räder und Scheiben, ein Chevy vielleicht. In dem steckte eine ganze Story von Besitzerstolz, Gafferneid und Verrichtungen des Lebens. – Was für Flausen!, nahm er sich zurück. Auch in dem anderen Zeug ... Er könne ja gleich zum Müllromantiker werden ... Irgendwas fehlt aber da unten! Er wendete sich ab. ... auch hier oben! ... 

Er machte sich Milch heiß. Er saß dann so da und schlürfte immer etwas davon. Als das Glas fast leer war, überkam ihn die Zeit. Er empfand sie als bewegungsloses Nichts in einem unermesslich großen, obendrein leeren Raum. Die viele Zeit, die er doch jetzt nach seinem Befreiungsschlag haben würde. Er ging ganz aufgebracht zum Fenster und sah umher und zum Himmel hinauf. Da weitete sich ihm alles ins mutmaßliche und deshalb beängstigende Unendliche. Wozu sich ihm dann noch das Gefühl von Verlorenheit gesellte ... Er flüchtete in die kleinste Örtlichkeit seiner Bleibe und befreite sich unter anderem von seinem Entsetzen. Am Ende konnte er Abstand gewinnen, fasste sogar den Entschluss, darüber nachzudenken, wie er diesen übergroßen Zeit-Raum irgendwie füllen könne. Dabei wanderte er im Flur auf und ab. An der Wohnungstür wurde er immer wieder Schritte gewahr, die den langen Korridor draußen entlang schlurften, trippelten ... Da kam er darauf, dass es spannend sein könne, den Geräuschen in diesem Wohnsilo hier zu folgen. Er legte sich gleich auf Lauer. Er presste das Ohr an die Wand zur Nachbarwohnung. Allerdings war es noch zu früh am Tag. Lauter Leute hier ohne Arbeit. Die stehen nicht so früh auf, wenn sie überhaupt aufstehen. So einer von hier hat Angst vor dem Tag!, war er überzeugt.

Als er so auf dem Boden lag und horchte, schlief er wieder ein. 

Beim Erwachen fasste er einen Entschluss. Er wollte sich ein Hörbild von seiner Umgebung machen. In seiner natürlich noch vorhandenen Neigung zur Registratur strebte er die Gewichts-, Geschlechts-, und derlei Feststellung mittels Erfassung des Gehgeräusches an. Er war sich sicher, bald über die Stimmung der Leute, die er den Flur entlangkommen hörte, urteilen zu können: erregtes Trippeln, missgelauntes Schlurfen, tölpeliges Trampeln ... Das lief dann tatsächlich über Tage recht gut und zufriedenstellend. 

Die Stimme eines Kindes, das nach seiner Mutter rief, drängte sich ihm irgendwann in den Vordergrund: Mama, mach auf! Das ging so eine ganze Zeit. Immer wieder: Mama ... Tags darauf wieder. Das fesselte Fischer. Er wartete jeden Tag darauf, konnte ausmachen, dass da zuerst schwere Schritte waren – Mann mittlerer Größe, etwas Übergewicht, wertete Fischer, vielleicht Bodybuildertyp. Schritte, die in dieser Wohnung verschwanden. Türenschlagen – frustrierter Macho, folgerte Fischer –, drauf das Mamamama und nach kurzer Zeit war der Spuk stets vorbei. Polternder Abgang des Monsters.  Interessant, dachte Fischer – und füllte seine Zeit damit, dass er seine Fantasie darin spazieren führte. Fischer hätte brennend gern gewusst, was da immer lief. Vielleicht ganz einfach etwas Menschliches, kombinierte er, wenn auch nicht gerade auf brav bürgerliche Art und Weise. Da könnten hingegen dunkle Geschäfte abgewickelt werden!, durchfuhr es ihn. Drogen etwa oder sonst was Kriminelles. Ausländer und Verbrecher hier. Und ich gleich nebendran. Wenn da die Polypen aufkreuzen!, schreckte Fischer auf. Auch bei mir herumschnüffeln und mich hochnehmen!

Diese Sorge verfolgte ihn. Er stellte seine Lauschaktion ein, um nicht dauernd wieder auf diesen ungemütlichen Gedanken zu stoßen.

Irgendwann überkam ihn das Bedürfnis, entgegen seines Vorsatzes am helllichten Tag seinen Unterschlupf zu verlassen. Er kämpfte zwar erst ein wenig dagegen an, gab sich doch bald selber nach.  Ein Blick in den Spiegel überzeugte ihn, sich wenigstens etwas kultivieren zu sollen. Etwas kämmen. Vielleicht auch waschen. Auch eine Rasur wäre fällig.

Er machte sich dann mit dem Rad auf den Weg in die City. Umherschlendern. Konserven beschaffen. Vielleicht eine Spraydose, um das geklaute Fahrrad etwas umzufärben. 

Die Bewegung tat gut. Doch die Puste ging ihm bergauf immer gleich aus. Das Gammeln hat seinen Preis, tröstete er sich und stieg ab. 

Irgendwann war er wieder zuhause und ging gleich zum Kühlschrank. "Einen Joghurt reinschaufeln!", redete er laut vor sich hin. Diese weiße Schlotze. Milch – von Blutes Ursprung. Dem besonderen Saft. Eben Natur. Alles ist Natur, auch und gerade das Viehische im Menschen!, machten seine Gedanken Sprünge. Ich krame im Kühlschrank und unversehens in mir!, suchte ihn heim. Und es wird für einen Augenblick ersichtlich. Wie ich gearbeitet bin. Dass alles allmählich auseinanderfällt. Es ist immer das gleiche mit dieser Sorge ...  Er zuckte zusammen: Der Schimmel im Joghurtbecher! Ein saustarkes Sprossen, das. Durchdringen. Zerfressen der Substanz. Natur. Alles zerfällt in seine letzten Winzigkeiten. Mist, Jauche, Kadaver ... Fischer hielt das vergammelte Zeug mit ausgestrecktem Arm von sich. Es würgte ihn. Er rannte ins Bad, schüttete es in die Wanne und starrte es an.  Als er sich wieder beruhigt hatte, bemerkte er, dass er den Becher immer noch in der Hand hielt. Er rannte zum Fenster, riss es auf und befreite sich davon. Jetzt atmete er tief durch. 

Dann schaute er in seiner Wohnung umher und an sich hinunter. Er wollte sehen, ob seine Befürchtung von vorhin bereits Wirklichkeit sei. Ob er bereits befallen und bereits angefressen sei ... Es beginnt mit einem winzigen Fleck irgendwo auf der Haut oder an der Wand oder sonst wo!, warnte er sich. Es ist dann lange bereits krebsig gewesen, wenn es mit diesem Zeichen aus seiner verfluchten Unsichtbarkeit heraustritt. Es weitet sich ganz allmählich und unaufhaltsam aus! 

Ein Grauen hatte ihn gepackt. Er begann umherzulaufen, riss Türen auf, eilte durch die Zimmer ... Einige Stunden mussten vergehen, bis er wieder einigermaßen Frieden fand. 

Es stimmt ja noch alles!, konnte er sich jetzt versichern. In meinem Saustall hier steht noch alles an seinem Platz, ist nichts weggerottet. Und es hat sich nichts Zersetzendes gezeigt. Nicht mal neuer Dreck. Es ist der alte. Es ist gar nichts zu ermitteln. Jedenfalls jetzt noch nicht. Ich werde die Schatten, die Ränder von meiner Haut wegwaschen und nachsehen. Ich werde wachsam sein. Das genügt. Er lachte trocken über sich und seine Zustände, er­schrak über seine eigenen Geräusche ...                                             

Fischer setzte seinen langen Marsch zwischen seinen vier Wänden fort, als wäre er im Freien, in Feld

und Wald. Schließlich kickte er gegen eine leere Blechbüchse am Boden, dass sie krachend am Küchenschrank landete ...

Er hatte sich eine Zigarette angezündet. Er starrte erschrocken, noch mit brennendem Streichholz zwischen zwei Fingern, auf den Fleck. Auf die Delle, welche die vorhin von ihm getretene Blechdose auf der glatten Oberfläche des Schrankes hinterlassen hatte. Ein Rest bürgerlicher Abscheu vor seinem Vandalismus – und ein brennender Schmerz an den Fingerkuppen ... Er schrie auf und warf das Streichholz weg.

Dann qualmte er wieder etliche Runden durch sein Geviert. Dabei flog ihn eine Erinnerung an und setzte sich ihm gleich im Kopf fest: Mein verrückter Versuch, Anker zu werfen in der Öffentlichkeit damals, damals, damals in diesem Dorf. In dieser Gesellschaft dort. Wo jeder, wenn immer er nur konnte, aus dem Haus und hinter dem eigenen Geschwätz herlief. Ich war dann auch – doch nur meiner eigenen fixen Idee hinterhergelaufen. Stürzte ich mich in das Gemeinwohl, in Verbände, in Vereine. In alles, womit sie sich ihre Unwichtigkeit überschminken wollten!, beschimpfte er sich und hastete weiter durch sein Asyl.

Da er jetzt ein hohles Gefühl in der Magengegend spürte, nahm er einen neuen Anlauf in Richtung Kühlschrank.

Er griff sich wieder ein Töpfchen Käse, öffnete es äußerst behutsam, während er es weit von sich hielt. Er kontrollierte es mit Augenscheinnahme – es immer noch mit gestrecktem Arm von sich weghaltend. Er unterzog eine winzige Löffelspitze der Sinnenprobe von Nase und Zunge. Er befand es schließlich und vor allem erleichtert als unbedenklich. Er rückte es in seine Nähe und begann zu löffeln.

Auswaschen und sammeln!, bestimmte er sich, plötzlich vom Umweltbewusstsein oder so etwas enorm Zeitgemäßem gepackt. 

Später, am Fenster stehend, packte es ihn gehörig: Kenne ich das eigentlich? Das Abendbrot im Zauber der sinkenden Sonne genießen. Das Frühstück in der strahlenden Verheißung des Morgens zelebrieren, wenn sich die zarten Schleier der Morgennebel heben. 

Obgleich etwas erschrocken darüber, was ihm da in seinen Gedanken aufgestiegen war, vor allem wie es sich in seiner Formulierung dargeboten hatte, gab er sich dem doch weiter hin: Wie sich mir diese ansonsten hässliche Welt mit Träumen von ihrer Natur garnieren kann! Vielleicht versetzt es mich in einen Rauschzustand. Der sich schließlich ganz fett als Optimismus einnistet. Wie viele Gesichter doch das Glück hat! Und in welches davon habe ich denn überhaupt geschaut?

Sein Blick fuhr jetzt die Wand entlang, fiel auf die

Staubrahmen. Ein Gedanke ging ihm durch den Kopf, dass er so eine Stimmung festzuhalten versuchen könnte. Er ging gleich, um sich einen Stift zu suchen, mindestens Blei, aber besser natürlich etwas Farbiges, dachte er. Während er alles durchkramte, versuchte er, sich ein Motiv auszudenken, zu gestalten – eben schon mal in seiner Vorstellung zu malen. Da kann mir am Ende jeder auf meine Absteige neidisch sein, wegen allem, was mir hier so begegnet!, begleitete das Suchen und Gestalten. Hier im fünften Stock gibt sich mir der Tag nachgerade am Morgen und am Abend als Bescherung. In einer Weise tut er das, wie es die in ihren parterren Häuschen gar nicht erlangen, nicht mal die auf dem Land draußen. – Er war noch nicht fündig geworden und dachte daran, die Suche nach Malwerkzeug aufzugeben, wenigstens fürs Erste. So blieb nur seine Gedankenarbeit, die allerdings wollte er zügig zu Ende bringen, um sie loszuwerden: Die Häuscheninsassen können das Licht nicht genießen. Weil sie sich in ihrer Grünbesessenheit die Fenster zuwachsen lassen und ihre Gärten verdüstern. Also habe ich doch einen Vorteil hier in meiner Ab-Aufsteige mit dem Weiteinblick. Fischer war jetzt entschlossen, sich seine guten Gefühle zu

erhalten, wenn möglich zu steigern. Er griff sich seine Schnapsflasche und hängte sich daran. Bis er richtig wegsackte. 

Der Tag darauf begann ohne Sonnenerlebnis. Sondern er präsentierte sich mit den bekannten Nachwehen seines gestrigen Abgangs. Dazu mit Durst. Die Zunge klebte Fischer am Gaumen. Er hatte das Gefühl, sie nur mit Mengen Flüssigkeit lösen zu können. Während er die Schnapsflasche von gestern immer wieder an der Wasserleitung füllte, erinnerte er sich an einen Zeitungsartikel. Dass sie irgendwo das Regenwasser auffingen und nutzten. Dass sie das Badewasser auffingen und nutzten. Dass sie lauter solche nützlichen Sachen machten oder wenigsten nur mal darüber redeten ... Nichts soll mehr verschwendet werden!, versprach sich Fischer. Nichts. In Hinblick auf die unleugbare Tatsache irgendwann zur Neige gehender Ressourcen – schwang er sich mit brummendem Schädel auf. Und zwar nicht nur des Weltganzen im Allgemeinen, sondern auch der eigenen Existenz im Besonderen. Ich sage, es wird alles Greifbare zurückgewonnen werden, wenn schon das unaufhaltsame Leben entschwindet ...

Seine Gedanken flogen weiter in die Höhe – und blieben an der Dachrinne hängen. Dort reifte sofort der Plan, diese anzubohren. Bei der Menge Regens, die hier in dieser nassen Gegend dauernd vom Himmel fällt, sagte er sich.

Aber wie? 

Er hauste zwar im fünften Stock, also gleich unterm Dach, doch wie hinaufkommen, ohne bemerkt zu werden. Ohne auch und vor allem das Genick zu riskieren?

Und dann das Andere alles! – Ach, das Ausmalen dieser vorhandenen Rahmen da! Sogar eher, das Einbringen der bereits im Kopf vorhandenen Bilder! – Immer das viele Wie?

Fischer war in der nächsten Zeit von seinem Vorsatz und dessen Ausführung planerisch voll in Anspruch genommen. Für kaum etwas sonst hatte er Zeit. Er konnte gerade noch das unbedingt Erforderliche erledigen. Aber bereits das Endergebnis der Nahrungsaufnahme, die Ausscheidung – wenig genug bei dem geringen Einsatz im Falle Fischers, aber immerhin –, bereitete neuerlich Kopfzerbrechen: Könnte ich das Zeug nicht auch recyceln? So über Pflanzen, Grünzeug und all das. Mensch! – hob er begeistert ab –, ich mache mir mein Landleben hier, hier oben. Grünwelt hier! Dass es sprießt und treibt und wuchert in den vier Wänden!

Er genoss das, er ging in all dem für eine Weile richtig auf – kam allerdings doch wieder zu Boden, als ihm einfiel, dass er erst sein Wasserproblem lösen müsste – klar Wasser! Da kam ihm die Fäkalidee wieder: Bestimmt, mit den kleinen und einfachen Dingen beginnen! 

Doch während er seiner Verrichtung zusah, gingen seine Gedanken wieder zur Dachrinne. Und dass deren Sammlung durch ein Fallrohr hinabstürzte, um irgendwo aufgefangen und weggeführt und verschwendet zu werden. Eine Stange zum Hinaufkommen. Ein Rohr. Und irgendwie ein Loch ins Blech?

Da ließ sich nicht gleich eine Lösung finden, sondern nur eine Erkenntnis: Dass es gerade die einfachen Dinge des Lebens sind, die einen vor Rätsel stellen. 

Wegen des Wasserproblems beschloss er bald, sich zunächst mit der Weiterverwendung seines Badewassers zu begnügen. Was ihm allerdings eine neue Verlegenheit bescherte. Weil bei ihm keine nennenswerten Mengen Badewassers anfielen. Er schnupperte an sich, begriff, dass es keine Vergeudung sei, riss sich die Wäsche vom Leib ... Er hatte sich entspannt und war in der Wanne eingeschlafen. Wieder wach, im jetzt unangenehm kalten Wasser sitzend, schlugen die Wellen des Alltags erneut über ihm zusammen: Sollte er sich rasieren oder den Bart stehenlassen, sollte er sich die Haare etwas kürzen oder hinten zusammenbinden, sollte er ... Unter fluchen auf die Banalitäten der Lebensbewältigung sprang er aus der Wanne,

so dass ihm ein gehöriger Schwapp nach- und herausplatschte. Aufwischen oder es sein lassen? Die Schwierigkeiten nahmen kein Ende.  Was sich da an Resignation anzubahnen drohte, wurde allerdings gleich von einem Einfall überlagert. Dass er ja noch gar kein Grünzeug für die Verwertung seines Badewassers und Begründung der Aufforstung und Landschaftsgestaltung seiner Wohnung besaß. Der daraus erwachsende, auf jeden Fall höherwertigere Planungsgedanke rettete ihn davor, in den sich aufdrängenden Alltäglichkeiten auf- und vielleicht sogar unterzugehen. Auf diese Weise erlöst, plante er aufzubrechen, um sich Natur zu beschaffen.

Und das mit dem Loch? – Es beim Badewasser lassen. Wenn ich mich nur öfter badete, dann hätte ich Wasser genug. Im Übrigen mit düngerwertiger Versetzung des abgetragenen Hautbesatzes. Ohne Seife, freilich. Und noch mehr Gebüsch muss her. Pflanzen. Diese und jene. Und mit Eigenwasser beginnen. Mit welchem auch immer! Es muss hier alles grün werden. Zu den Fenstern rausquellen. Wuchern. Sich jede Ritze erobern und besetzen. Das Mauerwerk durchsetzen und sprengen. Aufs Teufelskommraus. Dass am Ende alles zusammenkracht. Und es über dem ganzen Schutt brünstig weiter wuchert ...

Wie viel Zeit gebe ich mir hier? Wird es wenigstens noch zur Durchgrünung reichen?, wollte ihn am Ende doch seinen Eifer etwas anfechten. 

Erst mal kurz raus hier!

 

Er lief sich im Grunde selber davon – und sogar in die vermutlich richtige Richtung, in die Stadt. Nach etlichen Besorgungen kam Fischer völlig geschafft zurück. Er schleppte eine große, unförmige Einkaufstasche. In der waren etwa ein Dutzend mickrige Setzlinge verstaut. Er hatte ordentlich zu schleppen. Er maulte dauernd etwas von einem Idioten von Verkäufer, der auch noch Wasser drü­ber gekippt hatte, dass das ganze Grünzeug jetzt noch schwerer sei. Die Namen der Pflanzen hatte sich Fischer eine Weile selber aufgesagt. Doch diese Litanei war immer kürzer geworden und schließlich mit dem Sammelnamen Scheißzeug bedacht.  Es war fast ein Leidensweg, den er heute zurücklegte – zusätzlich durch die Erinnerung belastet, dass er wieder vergessen hatte, sich Malstifte zu besorgen. 

Aufheiterung bescherte ihm dann der Einfall, sich in sein geplantes grünes Paradies irgendwann auch ein Stück Vieh zu stellen. Eine Ziege vielleicht. Ziegen seien sehr genügsam, machte er sich vor. Aber nein, sie sollen einen ziemlich strengen Geruch verströmen. Wenn allerdings die Pflanzen groß sind, dann werden die Ausdünstungen doch auf die natürlichste Weise recycelt, bildete er sich ein. Er habe ja sogar vor, erinnerte er sich, sein persönliches Abwasser dort hinein abzuschlagen. Sogar die schweren Sachen ließen sich gewiss irgendwann im Humus und zu dessen Anreicherung in der zimmerlichen Pflanzenlandschaft unterbringen. Irgendwer hatte jedenfalls behauptet, dass das alles möglich sei. Einer muss ja mal damit anfangen.

So langte er vor dem Betonturm an, das Eingeholte in der Linken, mit der Rechten hielt er das Fahrrad. Ein paar Halbwüchsige blödelten am Eingang zum Wohnblock herum. Da Fischer keine andere Möglichkeit sah, die Haustüre zu öffnen, balancierte er mit dem rechten Bein zur Tür, um den Fuß hinter die Klinke zu bringen. Es mochte komisch aussehen. Nach dem dritten Versuch konnte er einhaken und wollte nun die Tür aufziehen. Vom "Hauruck" der Flegel begleitet, gelang es ihm endlich. Er erhielt hämischen Beifall von der Bande. "Verdammte Bastarde, verkommenes Gesindel, asoziales Mistpack!", wetterte er – allerdings gerade nur so laut, dass bloß ein Geräusch seiner Unmutsäußerung bei den – wie er überzeugt war – dreckigen Ohren der Halbstarken ankommen konnte. Mehr riskierte er nicht, denn er wollte aus der Zeitung wissen, dass diese seiner Überzeugung nach versaute Jugend mit Messern und Schlagstöcken hantierte. Dann war der Aufzug da. Es roch heute besonders streng. Er verstaute seine Sachen und streckte gerade die Hand aus, um das Stockwerk zu wählen. Da zwängte sich eine etwas üppige Frau, so am Beginn des dritten Lebensjahrzehnts mochte sie stehen, in den engen Kasten und war dann beinahe hautnah bei ihm. Fischer lief ob dieser Nähe ein angenehmer Schauder über den Rücken. Er blickte jedoch in einer Mischung aus Freundlichkeit und Vorwurf an der Frau vorbei. Sie behauptete, sorglos lächelnd, dass das die alte Kiste locker nach oben schaffe. Dass da noch ein paar rein könnten – was sich Fischer allerdings gar nicht wünschte.

Ein missverständliches Grinsen mochte sich in seine Züge verirrt haben. Die Türe hatte sich gerade geschlossen. Als er in ein von Vitalität strahlendes Gesicht blickte, errötete er. Er hätte jetzt gerne etwas gesagt, doch es fiel ihm nichts in dieser Situation Verwertbares ein. Angenehm peinlich berührt, schloss er die Augen. Als der Fahrstuhl mit dem vertrauten Ruck anfuhr, war da wieder das wohlige Gefühl in der Magengegend. In dem Augenblick wurde Fischer des intensiven, ihn auf unerklärliche Weise ungemein herausfordernden Odeurs seines weiblichen Gegenübers gewahr. Lustvoll überwältigt, öffnete er wieder die Augen – und begegnete einem glühenden Strahlen. Ist ja irgendwie toll!, fand er, und nahm den Glanz für Augenblicke wieder hinter die geschlossenen Lider mit. Aus Ratlosigkeit, was jetzt zu tun sei, streckte er den Arm aus, um an ihr vorbei noch mal die Stockwerktaste zu drücken. Sie musste diese Geste missverstanden oder, sei's drum, bewusst fehlgedeutet haben. Jedenfalls sank sie Fischer mit einem tiefen Seufzer an die schmale Brust. 

Fischer konnte nicht ausschließen, dass ihr in ihrem Befinden etwas Abträgliches zugestoßen sei. Klar, die Hitze, die Enge. So konnte er gar nicht anders, als sie in einer Aufwallung mitmenschlichen Fühlens zu umschlingen und festzuhalten. Seine Last war allerdings hellwach und quicklebendig, das fühlte er ganz deutlich. Wieder überkam ihn dieses ungemein angenehme Schaudern.

Er hielt sie jedenfalls umschlungen. Sich in ihrer umfangenen Lage sanktioniert fühlend, begann die Frau damit, etwas zu erzählen.  Fischer war über das Mitteilungsbedürfnis zwar erstaunt, bereute seinen Handlungsirrtum von vorhin jedoch keineswegs. Er fühlte das fremde weiche Fleisch an seinem Körper unter den verbalen Lebensäußerungen angenehm beben. Ja, ihre weiblichen Konturen arbeiteten sich in Fischers Bewusstsein hinein und lösten eine ihm schier unbekannte Wallung aus.

Und das alles in Sekunden. Ein Wunder!, war er sich gewiss.

Sie mussten gleich auf Höhe des dritten Stockwerkes sein. Diese Eva redete immer noch – eine Etage weiter schien das Stenogramm ihrer Lebensgeschichte abgespult. Fischer hatte indessen nur etwas von vier bis fünf größeren Hieben des Schicksals mitbekommen, die sie meist im Gefolge von Scheißkerlen abbekommen hatte. Auf jeden Fall wusste er jetzt, was für ein gebeuteltes Wesen er da immer noch in seinen Armen hielt. Das richtige Leben also, kein Spuk, nicht bloß ein Traum. Es war immer noch reichlich angenehm, ungemein prickelnd.

Fischer befiel es irrsinnig, dieses Leben halten zu wollen – und sich also etwas einfallen lassen zu müssen, wie das stetig nach oben strebende Gefährt zu stoppen sei. Allerdings hätte ein zusätzliches Eingehen auf die ihm immer noch vorgetragene Biografie, eine Denkleistung in zwei Schichten erforderlich gemacht, mit allen Gefahren der Fehlleistung. Jetzt in dieser so wichtigen Phase meiner Existenz keinen Fehler machen!, ermahnte er sich.  Als der Zielruck, der die Eingeweide ebenfalls immer so angenehm bewegte, erfolgt war, drückte Fischer einfach die Taste fürs Erdgeschoss. Seine Leibdame kicherte, griff nach hinten – und brachte mit einer gewissen Tastenkombination den Fahrstuhl noch vor dem Erreichen eines Stockwerkes zum Stehen. 

Fischer hatte bis jetzt noch kein Wort gesprochen. Was nun ablief, machte das weiterhin überflüssig.

Hatte er je gehört, dass eine Frauensperson viel Zeit aufzuwenden habe, um sich anzukleiden, so erhielt er jetzt und in diesem sehr engen Raum den Beweis, dass der umgekehrte Vorgang keinesfalls des gleichen Aufwandes bedürfe. 

Alles erschien ihm jetzt märchenhaft unkompliziert. Abgesehen davon, dass sie ihm in einer gewissen Zuordnung behilflich sein musste, weil er da anatomisch nicht so bewandert war, lief alles beinahe wie von selber. Jedenfalls war es befreiend und unkompliziert ... 

Fischer glaubte am Ende nicht mehr, dass er bis vor kurzem noch anderer Meinung gewesen war. Nämlich dass alles, insbesondere mit dem anderen Geschlecht, sehr verwickelt sei. Er war, noch im Aufzug, davon angetan, ab heute alle Leute, die es sich so leichtmachen und das Leben überhaupt auf die leichte Schulter nehmen, ganz und gar zu verstehen. Ja, er plante, einer von ihnen zu sein. Während er sich noch mit solchen Grundsätzlichkeiten beschäftigte, war seine Gefährtin bereits erneut mit irgendetwas auf Sendung. Der Aufzug musste wieder in Fahrt gebracht werden, bevor ein Menschenauflauf stattfinden oder gar der Hausmeister anrücken würde. Sie fuhren zur Tarnung einen Stock

weiter und begaben sich dann über die Treppe nach unten. Das war umständlich genug mit dem Fahrrad und dem Einkauf. Aber auch hier zeigte sich das zupackende Talent von Fischers Begleiterin. Vor der Türe zu seiner Wohnung strengte er sich an, doch noch ein Wort herauszubringen: "Kommen sie – du-sie mich besuchen? Doch mal?", stotterte er. Sie hatte ihn erschrocken angestarrt, als er den Kopf bei seinen Worten angestrengt nach vorne geschoben und wohl ein wenig idiotisch geglotzt hatte. Gleich war jedoch wieder das Strahlen in ihrem Gesicht. Freudige Zustimmung. Ein flüchtiges Küsschen. Dann wippelte sie davon – von verträumten Blicken verfolgt.

Hinter der geschlossenen Tür lauschte Fischer den davoneilenden Schritten noch in der Erinnerung. Er hatte dieses satte Bild vor Augen, das sich da überaus beschwingt von hinnen bewegte. Ein Wunder ist mir widerfahren!, kam ihn an – und so ein Gefühl, bei dem es sich um die bare Seligkeit handeln musste. Sie hat wohl nicht weit, kalkulierte er. Gleiche Etage. Nur weiter hinten. Die hatte ich doch gehört. Das ist die mit diesem tänzelnden Gang. Selbstverständlich. Habe ich richtig eingeschätzt: eminent erotisch, die! 

Er packte seinen Einkauf aus, fügte das Grünzeug seiner bereits bestehenden, doch noch recht schütteren Pflanzung hinzu. Schließlich begoss er sein bisschen Natur mit dem ziemlich jauchig riechendem Badewasser und kommentierte: "Wo’s stinkt, da gedeiht’s", weiß ein jeder auf dem Lande. Einen Ranken Brot in der Hand, setzte er sich aufs Bett und sinnierte dem Tagesablauf nach. Er verspürte heute allerdings nicht viel Lust, den Dingen allzu tief auf den Grund zu gehen. 

Bald war er eingenickt. 

Als er erwachte, machte er sich daran, sein sonderbares Land weiter zu kultivieren: Diese hängenden Gärten, schoss es ihn in den Sinn. "Piscator", fügte er hinzu – jetzt doch wieder der Name vom Pass, redete er sich ein. Und zwar wegen des fremden Klangs und überhaupt in Anlehnung an diesen Teil der Sieben Weltwunder der Antike. Ebenso weil Piscator klanglich eher zu der legendären Semiramis mit den erwähnten Gärten passte.  Er konnte sich jetzt selber stumm Meldung machen: Heute Grünzeug gewässert. Wachstum kontrolliert. Bei-Kraut ... – und nicht etwa Unkraut, welche Bezeichnung eine widernatürliche Unverschämtheit sei – ... also Bei-Kraut gejätet. Es folgten auf diese Weise einige erfüllte Tage! Im Ganzen höchst befriedigend!, bestätigte er sich sein Tun. Er blickte umher und jubelte auf: Prima!

Beim Philodendron im Wassereimer tut sich was. Unten am Stängel Ausbuchtungen, Hervortretungen, rundum solche verheißungsvollen Knuppel. So ein Wunder, wie das da kommt. Ganz deutlich winzige Wurzeln bereits, sagenhaft. Leben bricht hervor! Fischer starrte lange voll Entzücken auf seine Entdeckung. Er konnte sich gar nicht losreißen und murmelte vor sich hin: "Pflanzen erkennen und benennen; Verhältnis zu grünen Hausgenossen vertiefen; Rückwirkung auf eigenes Seelenleben; Empfehlung an gesamte Menschheit, auf diese

Weise im Hause Erde zu verfahren." Mit dieser Rakete hatte er sich dann doch selber etwas erschreckt, setzte dennoch nach: "Was einer kennt, das kann er achten, ja lieben lernen."  Fischer fühlte sich in seinem gedanklichen Patchworking wohl. Ein schrilles Läuten an der Wohnungstür beendete allerdings jäh den eben erzeugten Gleichklang mit sich selber. Er schreckte auf.

Die ... Klar, den Geräuschen nach mehrere Störer.

Die da draußen waren ganz offenbar ungeduldig.

Das aufdringliche Geklingle wiederholte sich. 

Unmöglich Besucher! Wer könnte das sonst sein? Wer weiß von mir hier? Fischer überkam ein Entsetzen. Er fühlte, wie es im gar nicht mehr enden wollendem Generve sich in seinem Inneren eiskalt ausbreitete: die Polizei! Die Schnüffler! Sie haben mich aufgespürt! 

Ein Trommeln an die Tür. Scharren. Dann diese Stimmen – Fischer war ratlos: diese Stimmen – jedenfalls nicht von Männern, von Polizisten! Oder sie haben ja jetzt auch Tussen in Uniform! Fischer fiel aus seinem Horror in eine nicht weniger packende Bestürzung, als ihm aufging, dass da draußen auch diese brutalen Rüpel an die Türe hämmern könnten. Die von vor dem Haus neulich erst. Die Fahrstuhlpisser. Diebe und Dealer. Jetzt bin ich dran. Jetzt wollen sie mich terrorisieren. Mich, einen Friedlichen. Einen Wehrlosen. Wie könnte ich mich auch verteidigen? Wen könnte ich um Hilfe rufen? Die Polizei etwa?

An der Tür wurde es noch lauter – ein Hund brachte sich dazu auf seine Art ein. 

Doch die Bullen! Ein ganzes Kommando! Mit Spür­hund!

Aus! Ich bin aufgeflogen und aufgeschmissen. Das war es dann wohl! Nur eine Stippvisite in der Freiheit! Die trommeln das ganze Haus zusammen! Wenn es doch Rambos sind. Sie sollen mich zumindest gleich so zurichten, dass man mich ins Krankenhaus bringen muss. Wenigstens nicht sofort in den Knast!, beruhigte ihn allerdings kaum.  Schicksalsergeben schlurfte er zur Tür. Er dachte noch für einen Augenblick daran, sich mit einem Küchenmesser zu bewaffnen. Er ließ es jedoch sein, öffnete, auf alles gefasst, unbeholfen – und fiel fast in eine Schockstarre! Vor ihm stand die dralle Gefährtin aus dem Aufzug. Ein sonderbarer Laut entfuhr seiner Kehle in seinem Gefühlsmix aus Angst, Erlösung, Staunen. Fischer erblickte mit weit aufgerissenen Augen hinter der Frau noch zwei Jungen, nach dem anstrengenden Radaumachen nun auf Koffern rastend. Daneben lagen einige Bündel, von einem zotteligen Hund bewacht. 

Gefolgschaft und Zubehör. 

Ihm ahnte etwas! 

Besuch? Nach dem Gepäck zu urteilen, einer, der plante, nicht so bald wieder abzuziehen. Fischer war immer noch sprachlos. Er gab nur noch so einen Laut wie vorhin von sich und vergaß den Mund wieder zu schließen. Was ihm den Kommentar aus Kindermund eintrug, ein komischer Heini zu sein. Die Frau tat, nachdem der Kritiker von eben eine saftige gefangen hatte, einen Schritt auf Fischer zu und informierte ihn, Rebekka zu heißen. Der Zug kam wie auf Kommando in Bewegung. Sie drängten sich mit ihrer Habe an dem sprachlosen Wohnungsinhaber vorbei.

Die quasi Ansiedlung schritt schnell voran. Übung darin schien vorhanden und sich auszuzahlen – wie es ihr nun einmal zu eigen ist. 

 

Nach einigen Tagen ergab sich Fischer dem Gefühl, allein wegen der in seinen vier Wänden eingetretenen Enge gehörig aus der Bahn geworfen zu sein. Resignation kündigte sich bereits an. Der Eindruck beschlich ihn, dass die verhältnismäßig starken Emissionen von Geräuschen und die enorme Betriebsamkeit der bei ihm Eingedrungenen seine Existenz bedrohten. Möglicherweise hätte er bald aufgegeben, wären da nicht auch allerhand Annehmlichkeiten gewesen. So arbeitete er redlich daran, wieder Boden unter die Füße zu bekommen.  Dann war es ihm sogar geglückt, einem der Jungen Farbstifte abzubetteln. Mit diesen malte er in zwei der Staubrahmen Bilder, die er ja längst im Kopf hatte. "Landschaften!", behauptete er stolz.  "Nulles Rumgepinke!", hielten die Jungen cool dagegen.

Sein Los wurde wieder durch das seit Tagen herrschende Regenwetter erschwert. War er als Einzelkämpfer in solch trüben Zeiten im Bett geblieben, so hatte er sich jetzt auf Rebekkas Geheiß mit den anderen im Wohnzimmer zu versammeln. Sie hockten sich dort auf der Pelle. Der Himmel sah aus, als wollte er sich weiterhin ergießen. "Nordstau der Alpen", war immer wieder aus dem Radio zu hören. Immer wieder Kurznachrichten. Musik, Musik. Den ganzen Tag plärrte und schepperte Bayern Drei. "Tatü, tatü, tatüta", echote Fischer immer seine Münchenmelodie "solang der alte Peter". Die Anderen ärgerte das. Diesen Ärger genoss Fischer mit breiter Foppvisage. 

Nach einigen Tagen in dieser Zwangslage fiel Fischer auf, dass seine Wohnungsgenossen immer dann in eine andächtige Stille fielen, wenn der Sender nach seinem Tatü-tatü-tatüta begann, Straßenberichte abzusetzen: ... auf der Autobahn München-Nürnberg bei der Ausfahrt Manching; das und das bei Stegen am Ammersee in beiden Richtungen; auf der A 9 in Richtung Ingolstadt ... Schlagartig war Ruhe in der Stube. Selbst der Hund schien das einleitende Signal zu begreifen, er spitzte die Ohren und wedelte mit dem Schwanz. Die Kinder hörten angespannt zu und hielten mitten im Satz den Mund.

Als er das begriffen hatte, stellte Fischer seine akustische Rache ein. Er beteiligte sich mit wachsendem Interesse an der Höraktion: Da ein Crash mit Kurzschilderung von Verlauf und Folgen; dort wieder Stopp-and-Go; wohlmeinende Belehrung ... Man hatte dann selber seine Ratschläge abzusetzen und zu diskutieren. Allmählich war ihm die Musik nur noch Hintergrundbeschallung. Sie konnten jetzt bringen, was sie wollten.

Sein Gesicht wurde ebenfalls auf besagtes Signal hin lang. Sein Tatü..., auf das er bereits festgelegt war, wurde zunehmend melodischer und vor allem ausgesprochen verhalten. Am Ende entdeckte Fischer sogar, dass seine Fantasie bei diesem Anlass Flügel bekam. Er machte sich immer ohne Verzug in die vom Radio genannte Gegend auf und kam auf diese Weise in wenigen Sekunden im ganzen Land herum. Man war immer gleich weit weg. Man erträumte sich eine Blitzreise in den entferntesten Landstrich. Man war bei dem jeweils genannten Geschehen zugegen, träumte sich in Situationen hinein, war Held der Landstraße, Sanitäter oder bloß Katastrophentourist. 

Wegen der Bereicherung, die einem da zuteilwurde, ließ Fischer das plärrende Ding selbst dann an, wenn sich die Bande in den Supermarkt abgesetzt hatte. Er malte dabei den einen oder anderen der Rahmen an der Wand aus oder übermalte mit anderem Motiv. Nicht dass es jemand von seinen Wohngenossen gut gefunden hätte, was er da so hervorbrachte. Doch es tat ihm wohl, sich damit beschäftigen zu können. Nur an dem kruzifixernen Rahmen blieb er immer hängen, ratlos.

 

Heute packte ihn der Trübsinn. Fischer überflog sein Grün, das augenscheinlich nicht vorankommen wollte, mit traurigen Blicken. Er blieb am dürftigen Blattwerk hängen und machte sich vor, dass die Pflanzen sehnsüchtig durch das Fenster auf das viele Nass blickten. Und dass sie den Wunsch hegten, sich so richtig volllaufen zu lassen. Er spielte kurz mit dem Gedanken, es an ihrer statt zu tun, ging aber doch nur, Wasser für die Gewächse zu holen. Er wollte keinen Stress mit Rebekka haben. Die Jungen waren dann mit sich beschäftigt – sie hatten im Großmarkt verschiedene Sachen mitgehen lassen und verglichen hier die Beute. Fischer gab sich währenddessen einer von ihm noch vor Kurzem als völlig indiskutabel weit von sich gewiesenen Betätigung hin. Er nahm sich des Hundes mit einer Lektion Pfötchengeben an. Das Vieh war ja noch so unerzogen.

Ein Idyll entstand auf diese Weise: zwei heftig diskutierende, sich ab und zu balgende Knaben; Hund und Herr im Bestreben, die Domestikation zu vertiefen.  

So verging eine geraume Zeit – bis Rebekka von der Kochnische her mit einem Aufschrei die Szene stoppte. Der Hund hatte sich mit einem Satz unter den Tisch in Sicherheit gebracht. Die Zweibeiner starrten auf die entsetzte Frau. Sie suchten mit den Augen Scherben auf dem Boden, ein blutiges Messer auf dem Tisch ...

Nichts. 

"Mensch, ich habe die Kartoffeln vergessen!" Das löste die Spannung.

Alle wollten wieder ihrer Beschäftigung nachgehen. 

"Los, wir müssen wieder in die Stadt!", herrschte Rebekka die Jungen an.

Ärger im Gesicht. Murren: "Soll doch der gehen! Der Alte!", Markus zeigte mit dem Finger auf Fischer.

"Folge deiner Mutter!", ermahnte der ihn – und erhielt eine Grimasse zur Antwort.

Rebekka hatte die Jungen schon bei der Hand gepackt und war dabei, sie aus der Wohnung zu zerren. Etwas wie "Scheiß Penner" wollte Fischer in seine Richtung hin noch mitbekommen haben. Er lauschte genussvoll dem Schwinden des Spektakels nach. Als alles ruhig war, ging er, um zu sehen, was Rebekka bei ihrem ersten Gang alles heimgeschleppt hatte. Er wühlte in den noch nicht verstauten Nahrungsmitteln und stieß auf eine Zeitung, die als Verpackung gedient hatte. Bei dieser blieb er hängen, weil er sich wunderte, dass hier eine Gazette aus einer kleinen Nachbarstadt auftauchte. Er überflog die Seiten, las hier und da etwas genauer und stieß auf einen Artikel im Heimatteil. Dieser eröffnete die Möglichkeit, ausgewachsene Kartoffeln, ja sogar deren Schalen zur Erzeugung frischer Ernte zu nutzen. Fischer war begeistert und plante, sofort damit anzufangen, wenn Rebekka mit dem Einkauf da war und zu schälen begonnen haben würde. Er glotzte auf seine Pflanzentöpfe und nahm sozusagen Maß.

Die Regenwoche war dann endlich vorbei. Aber die Feuchtigkeit hing noch in der Luft.  Es war unangenehm kühl. Dieses Wetter war wieder ständig Thema: Anfang August wie Herbst, klagten alle. 

Sie hockten herum, Frau, Kinder, Hund und Mann. Gelegentlich zwängte sich wer zwischen den anderen durch. Jeder hatte so seinen Bereich, den er aufmerksam hütete und durch Auslegen von Krimskrams allmählich auszuweiten versuchte.

Man rempelte dann schon mal etwas absichtlich an. Ein Aufschrei, gepaart manchmal mit einem Gegenschlag, brachte Bewegung in die Szene und ein bisschen Entladung. Zudem waren da die vielen Blumentöpfe, die weiter so vor sich hin mickerten und sich für Rebekka zu einem immer ärgerlicher werdenden Hindernis auswuchsen. Das Zeug roch immer merkwürdiger, je länger die Fenster wegen des Wetters geschlossen bleiben mussten. Rebekka hatte allerdings den Jungen längst eingeschärft, dass alle diesen Blödsinn hinnehmen müssten. Jeder müsse auch ein wenig verrückt sein dürfen.

Weil er sonst ganz überschnappt.

Dann waren da die Bilderrahmen ausgemalt: Bäume, immer wieder Bäume, darunter Wiese, durchsetzt mit bunten Tupfen, die wohl Blumen darstellten, Tierchen. Oder was jemand mit ausreichend Fantasie dafür halten mochte ... Nur das Kreuz war leer geblieben – bis eines Morgens darauf oder eher darüber so etwas wie ein Korpus gekritzelt war. Fischer warf nur einen kurzen Blick darauf und fühlte sich wie elektrisiert. Er verlor jedoch kein Wort, tat so, als berühre ihn das nicht, dass da wer von der Bande in sein Handwerk gepfuscht hatte. Und wie! 

Er merkte bald, wie ihn die Jungen immer wieder von der Seite belauerten. Er tat ihnen aber nicht den Gefallen, eine Bemerkung abzugeben. Das erhöhte noch die Spannung zwischen ihnen. Mit jedem Blick umher schien die Wohnung enger zu werden. Kaum ein richtiger Streit wollte mehr losbrechen, mit dem sie sich für kurze Weile hätten Luft schaffen können.

Dann kam gegen Mittag die Sonne durch. Es entwickelte sich bald eine unerträgliche Schwüle. Die Kinder waren mit dem Hund hinuntergeschickt worden. Sie hatten den Auftrag, ihn sein längst fälliges Geschäft irgendwo außerhalb, allerdings nicht auf der Straße machen zu lassen. Damit es nicht wieder Ärger gebe. Erziehung sei ..., hatte Rebekka sinniert, während sie ihren beiden Jungen nachblickte: "Erziehung ist, wenn jemand nicht wo aneckt. So beknackt, wie das ist, es ist so." Dann nahm sie wieder ihr Frauenjournal in Augenhöhe und tauchte in die andere, ihr weitgehend versagte Welt.

"Raus aus der Bude!", schrie Fischer plötzlich. Rebekka war dadurch mit einem Ruck aus der Harmonie ihres Fortsetzungsromans gerissen und hatte im Reflex die Arme in Abwehrhaltung hochgerissen. Sie ärgerte sich jetzt über ihre Reaktion und schaute Fischer mit stechendem Blick an. "Los, pack dich zusammen! Wir gehen baden!", befahl Fischer.

"Du hast doch wohl nicht alle Latten im Zaun! Das Wasser ist nach dem Regen eiskalt. Der Boden ist schlammig vollgesoffen. Da frierst du dir einen ab. Da holst du dir was und die Kinder auch. Dann rotzt ihr hier rum, im Sommer. Da ist das besonders blöd, so eine Sommergrippe!"

"Ich habe vorhin in den Spiegel gesehen: Ich setze ja schon Schimmel an!", jammerte Fischer und ging mit dem Kopf ganz nahe zu Rebekka, um ihr eine wunde, nässelnde Stelle hinterm Ohr zu zeigen. Sie wich quietschend zurück. Um sie zu ärgern, folgte er ihr, bis sie ihn mit Fäusten bearbeitete. Er schrie, dass er heute voll drauf sei, und warf sich auf sie. Sie wälzten sich auf dem Boden, drückten und balgten sich – während Rebekka keuchend eine Inhaltsangabe ihres rührenden Fortsetzungsromans von sich gab, aus dem sie durch Fischers irre Anwandlung gerissen worden war: "Dass da ein Geschäftsmann erkrankt war und seine Nichte die im heiratsfähigen Alter und gescheit und hübsch war beauftragt hat den Laden zu führen da sei aber eines Tages der Stiefsohn des Alten auf­getaucht und hat sich eingemischt und Mist gebaut lauter so Sachen und das arme Mädchen hat er ganz link angeschmiert um ans Geld zu kommen und gerade als sich die Sache zu lösen begann vielleicht zugunsten des armen Mädchens so ein richtig armes Schwein wie man selber ja immer mal eines ist da ist er Fischer aufgetaucht und habe sie angemacht jetzt weiß sie nicht, ob das Mädchen das Geschäft und Nachbars Sohn diesen feschen Doktor gekriegt hat ..." 

Rebekka war durch diesen Bericht unter laufender

Gegenwehr gehörig in Atemnot gekommen. Doch Fischer setzte die Balgerei unbarmherzig fort. Sein bisschen Kraft durch Hektik steigernd, walkte er Rebekka mit beiden Armen und hielt sie sozusagen in Schwebe zwischen Lust und Schmerz. Selber konnte er zwischen seinem Gekeuche nur einige Grunzlaute von sich geben.

Rebekka hatte schließlich nur noch Sorge, dass die Jungen gleich wieder zurück wären. Als sie sich darauf schweißtriefend erhoben und ihre Sachen im Zimmer zusammensuchten, schimpfte Rebekka, dass er dauernd eine Sauerei in der Badewanne mache. Wegen seinem blöden Grünzeug überall rum. Jetzt müsse sie doch mit in das fiese Freibad. Weil alle nur einmal in der Woche, noch dazu ohne Seife, in die Wanne können. Hier, in diesem stinkenden Laden. "Du bist ein richtiger ..., na, ich will ja gar nicht mehr sagen, in allen Sachen bist du ... du bist eben ein ganz verrückter Hund!", schloss sie ihr Lamento. Die Jungen streunten noch unten rum. Rebekka holte sie mit einem kräftigen Pfiff herbei. Sie hatte die Finger zu Hilfe genommen. Fischer war von ihrer Pfeifkunst begeistert und bat sie, ihm das auch beizubringen. Er habe es seit seiner Schulzeit immer wieder, aber ohne Erfolg, da ohne Anleitung, versucht. 

Bald machten sie sich auf den Weg. Die kleine Kolonne hatte nur ein paar Straßenzüge zu passieren, bis sie im Freibad war, einem Seitenarm des Lechs.

"Wenigstens keine Leute da!", freute sich Fischer. Rebekka schimpfte, dass ihm das ähnlichsehe. Wenn nur keine Leute da seien, dann fühle er sich bereits wohl. Da könne er doch gleich aufs Dorf ziehen. Und überhaupt, da könne es auch arschkalt sein. Er lande doch noch in der Klapsmühle – und sie geriete immer nur an Hanswurste.

Vor Ort fröstelte es Rebekka beim bloßen Anblick des rasch dahinfließenden grünbraunen Wassers. Sie blieb eine Weile demonstrativ zitternd mit hochgezogenen Schultern und über der Brust verkrampften Armen stehen. Bis sie sich entschließen konnte, sich wenigstens auf die Decke zu setzen, waren die Jungen bereits im Auewäldchen verschwunden.

"Du glaubst ja gar nicht, wie du allein bist, wenn du allein bist in diesem komischen Sozialstaat. Oder wie der Affenstall um uns rum heißt!", fing Rebekka unvermittelt an. Fischer konnte nur mit einem erstauntem "Aha" reagieren. Eine Weile Stille, bis Rebekka ganz traurig verkündete, dass sie baden gehe. Sie streifte sich die Klamotten vom Leib. 

"Was machst du?", fragte Fischer entsetzt. Er musste lachen, als sie sich anscheinend entschlossen zum kalten Nass hin bewegte. Er lief ihr nach. Auf dem Weg zum Wasser zeterte sie noch, dass es sich um lauter Halunken handle, in diesem Staat, lauter Männer: "Der Staat sind alles Männer. Die schlimmsten sind die Kissenfurzer, die wo kein Verständnis für Alleinerziehende mit zwei Gören haben. Die paar Weiber, die da mitmischen, sind oft schlimmer als wie die Männer ..."

Fischer war ratlos und wich aus: "Als wie", setzte er an – und bereute es sofort. So wiederholte er: "Als wie, so was gibt es nicht in einer anständigen ..." In einer versucht versöhnlichen Art schloss er:

"... Spreche!" 

Zu spät! Sie nannte ihn einen beknackten Oberlehrer, der ihr gerade noch gefehlt habe in ihrer

Samm­lung von Dreibeinern. Damit schien die Sache für sie erledigt zu sein – wenigstens vorerst. Sie tauchte kritisch einen Fuß ins Nass, nach und nach – ganz vorsichtig und unter Stöhnen und verhaltenem Kreischen – weitere Körperteile. Fischer machte es ihr nach, versagte sich hingegen, männlich gefasst, die Töne des Unbehagens. Es folgte eine Weile Herumplanschen mit Waschversuchen unter Verwendung von Seife. Die Veranstaltung wurde mit Verstauen der Sachen und Herbeipfeifen der beiden Jungen beendet. Auf dem Nachhauseweg merkte Rebekka an, dass es natürlich Männer gebe, einigermaßen richtige: "Aber die sitzen oft im Knast. Die laufen nicht als solche Witzbolde rum wie du!"

Fischer steckte das einigermaßen gelassen weg. Er trottete hinter der Gruppe her und hörte sich zur Entspannung an, was sie in den Flussauen alles getrieben hatten: Kleine Frösche fangen; sehen, was die Leute alles weggeschmissen hatten, versiffte Matratzen, abgeschlappte Autoreifen, jede Menge Plastikzeug ...

Zu Hause schien für Rebekka wieder alles im Lot. Sie bewegte sich in alter Frische. Schließlich war es nach den Fernsehstunden Zeit, den Tag auf der Matratze zu beenden. 

 

Fischer hatte am Morgen drauf das Bein vorsichtig aus dem Bett gestreckt. Er maulte, durch künstliches Zähneklappern unterstreichend, dass gegen Mitte August, wo eigentlich die Hundstage sein sollten, so eine Kälte herrsche. Nur ein paar Badetage und dann gleich dieser Verrat an der guten Laune.

Das blasse, dünne Ding war wieder unter die Decke gezogen worden. Oben nörgelte es weiter über die verhexte Gegend hier, dass die Leute da im Sommer heizen müssten. Abhauen von hier. Weg, in ein anderes Land, am besten auf eine Insel in der Südsee. 

"Was?", krächzte Rebekka heiser unter der Bettdecke hervor. Das hatte bedrohlich geklungen. Fischer warf sich herum, um nach ihr zu sehen. Sie war hervorgetaucht und wiederholte ihre Frage eigentümlich gut gelaunt: "Was murmelst du da dauernd?" Sie ließ ihm keine Zeit zu antworten. "Was ist heute für einer? Der fuffzehnte August?" Sie hatte sich, die unwirtliche Kälte missachtend, die Decke vom nackten Körper gerissen und ruckartig aufgesetzt. Fischer war nicht viel Zeit gegönnt, sie erotisch zu mustern. Sie war gleich auf den Beinen, im Bad, angekleidet und hatte die Jungen lautstark und unnachsichtig aus den Federn getrieben. 

Fischer wusste sich keinen anderen Rat, als sich zum Schutz und aus Abscheu vor der ganzen Hektik die Decke über den Kopf zu ziehen.

Jetzt ging sie mit entschlossenen Schritten auf sein Lager zu und riss ihm lachend, allerdings rücksichtslos das Federbett vom eingeigelten Körper. Er klagte über ihre Brutalität, demonstrativ zitternd, und angelte nach seiner Zudecke. Sie schien keine Zeit zu haben, sich weiter mit ihm abzugeben, und warf ihm die Decke hin. Als er in der sicheren Wärme lag, konnte er sich aus einem winzigen

Seh­schlitz zwischen seinem Plumeau und dem

Kopfkissen doch noch dem Genuss von Rebekkas Erscheinung widmen. Sie war in voller Aufmachung: Ein Kostüm, das er gar nicht kannte, ausgesprochen schick. Was für ein Kontrast zu der immer halb offenen Kittelschürze mit den knautschigen Klamotten darunter, dachte er. Etwas Schminke, Lippenstift und Lidschatten. Als richtige Dame huschte sie herum. Ich kann mich gar nicht erinnern, sie je so gesehen zu haben, staunte er.  In seiner Begeisterung hatte er den Kopf unter der Verhüllung hervorgebracht. Es blieb ihm allerdings nur Zeit, sein Wohlgefallen mit einem Pfiff auszudrücken. Sie eröffnete ihm sofort ihre Pläne für diesen Tag: "Also hör zu: Die Jungen schmeißt du nach dem Füttern raus. Die gehen auslüften, waren gestern nach dem Baden noch den ganzen Tag in der Bude. Zieh ihnen die Friesennerze an und Gummistiefel. Mit dem Hund musst du auch raus. Du weißt ja. Dir schadet frische Luft auch nicht. Du siehst schon graugrün aus wie einer aus dem U-Boot ..."

"Das Boot, dieser tolle Film, hat seine Spuren hinterlassen!", jubelte Fischer. "Da siehst du es, dass das Fernsehen doch eine Bildungseinrichtung ist!" "Ich sage dir was ganz anderes, du Stubenclown:

Solltest raus hier. Und solltest sehen, wie wieder Knete in die Kasse kommt. Sonst verkommst du.

Siehst eh aus wie ein Penner!" Das saß und hatte Fischer wenigstens für den Augenblick sprachlos gemacht. Sie achtete nicht darauf, sondern fuhr mit ihren Informationen fort: "Ich komm erst wieder am Abend! Auch darfst du was von deinem windigen Grünzeug rausschmeißen. Weil, der Hund will da dauernd rumwühlen. Muss den da dauernd wegtreiben. Wenn der da einmal reingepinkelt hat, dann macht er’s immer wieder!"

"Wohin machst du denn eigentlich?", wollte Fischer wissen.

"Gehe anschaffen. Bisschen Geld verdienen für unsere nicht vorhandene Haushaltskasse. Bei den Amis. Gibt ja hier noch genug und in allen Hautfarben, brauchen auch Tröstung die Jungs!", ärgerte sie ihn.

"Lass den Quatsch!" 

"Also nicht. Ich fahr nach Landsberg in den Knast. Das habe ich dir doch gesagt, dass ich da Besuche mache. Die Kerle brauchen das, dass sie sich nicht vergessen vorkommen. Der Pfarrer dort hat behauptet, das ist wie ein großes Fenster nach draußen für die Seele, wenn da wer kommt."  "Au, Pfarrer und Seele obendrauf!", wimmerte Fischer, "und Pfarrer und du!"

"Seele hat er gesagt, na ja, bei seinem Job eigentlich ganz normal", verteidigte sie ihn. Gleich holte sie jedoch weiter aus: "Die Kerls haben auch Leib, sage ich dir! Manchmal einen, der aus ihren Augen mir recht deutlich entgegen geiert!", rächte sich Rebekka. "Unter zwei Anträgen für alle möglichen Sachen, kann ich dir sagen, geh ich da nicht raus.

Wenn sie könnten, täten sie’s auch noch vor Ort!" Das begrinste sie hämisch.

Fischer wollte sich auf keinen Fall eingestehen, dass das bei ihm so etwas wie Eifersucht aktiviert haben könnte. Er schwieg und glotzte Rebekka mit weit aufgerissenen Augen an.

"Was, da gehen dir die Augen auf?", triumphierte sie und meinte dann, dass er sich ihr anschließen könne. Sie werde ihn auf jeden Fall schon mal ankündigen.

"Wenn ich dann auch Heiratsanträge kriege?" Mit einem "Blödmann!" knallte sie die Tür hinter sich zu.

Fischer sprang aus dem Bett und lief ihr nach. "Okay!", rief er keuchend in die Ecke gegenüber, wo sie begonnen hatte herumzukramen, "wir können die Jungen mit Hund in den Tierpark schicken. Da machen die Onkels vom Zoo immer ein Ferienprogramm, habe ich irgendwo mitgekriegt. Die von Raiffeisen karren Kinder aus der Provinz an. McDonald’s bläst Luftballons auf. Ich fahre gleich mit dir, das interessiert mich. Allerdings male ich schnell noch ein paar Kreuze in meine Bilder an der Wand". Er lachte seinem Schwenker hinterher und ergänzte bissig, dass das ja jetzt angebracht sei, wegen ihres Verhältnisses zu Pfarrer und Seele.  Rebekka tippte mit dem Finger an die Stirn. 

"Ja, schau her", reagierte er, "hier scheint bei irgendwem der Glaube ausgebrochen zu sein, denn das Kreuz war ja neulich mit einem Korpus dekoriert worden." 

"Ach so", kam zunächst nur von ihr. Dann setzte sie die Frage nach, ob das mit seinem Kreuzchenplan gleich sein müsse.

"Einfälle künstlerischer Art müssen immer sofort umgesetzt werden", begann er zu dozieren, "denn sie sind flüchtig wie ein Hauch Rosenduft." "Igitt!", ihr Kommentar. "So sieht es bei dir tatsächlich aus, du Einfallsduft!" Dem ätzte sie noch nach: "Eher wie ein Furz im Wind!" "Habe ich ganz überhört!", erklärte er gelassen. "Waren wohl die Jungen! Du vielleicht nicht gerade", fuhr er fort. "Es hat mich darauf gebracht, dass ja auf dem Land immer wieder Feldkreuze zu sehen sind. Deshalb ergänze ich noch schnell meine Bilder, es dauert ja nicht lange. Schau her!" Er hatte gleich einen Stift zur Hand und setzte seinen tatsächlich kleinen Plan um.

Sie konnte dabei nur den Kopf schütteln, während sie ab und zu sein langgezogenes Du-vielleicht-nicht-Gerade wiederholte.

Als er nach diesem Vorspiel mit ihr im Bus saß und aus dem Fenster blickte, überkam ihn Wehmut. Wegen der pflanzlichen Pracht, etwa jetzt auf dem Lande, sogar auf dem mageren Lechfeld – der Illusion von Weite und Ferne. An seine Kümmerlinge in den Töpfen, die meistens noch größer waren als ihr botanischer Inhalt, wagte er gar nicht zu denken. Man täuscht sich immer über die Wirklichkeit hinweg in seiner Traumwandlerei, jammerte er in sich hinein. Bis sie einen einholt und packt mit ihrer Greiferklaue. Die Pleite im Kopf dann immer.  In der Anstalt erfuhr Rebekka, dass ihre Besuchsperson ins Freigängerhaus umgezogen und unterwegs war. Die Enttäuschung war ihr deutlich anzumerken. Eine Unterhaltung mit anderen wollte nicht in Gang kommen. So blieb es heute nur ein kurzer Besuch. Nach dem Verlassen der Anstalt bildete sich Rebekka ein, noch unbedingt sehen zu müssen, wo etwa die neue Unterkunft ihres Freigängers lag. Fischer war nur widerwillig mitgegangen. Er hatte sich allerdings, seiner zwar etwas getrübten, doch noch vorhandenen Grünzeugliebe wegen, über den daneben liegenden landwirtschaftlichen Betrieb der Vollzugsanstalt informiert.  Jetzt befanden sie sich auf dem Weg in die Stadt. Sie gingen schweigend nebeneinander. Plötzlich sagte Rebekka: "Du hast doch Dreck am Stecken, hast du mir mal verraten. Dich werden sie vielleicht irgendwann holen, die von der Polente."  Fischer schwieg betreten.

Sie hatten die Bundesstraße überquert und befanden sich bereits auf der Fußgängerbrücke, die sich hier über den Geländeeinschnitt für die Gleisanlage der Eisenbahn spannte. Dann bummelten sie durch die Altstadt.

Bis zur Abfahrt hatten sie noch eine gute Stunde. Sie schlenderten umher und fühlten sich als Touristen. Rebekka musterte die Leute und rätselte, woher sie wohl jeweils gekommen waren. Diese Menschen hatten es ihr angetan, Reisende, Touristen, vielleicht von weit her. Sie war in Gedanken ganz auf Reisen durch die Lüfte und über die Meere.  Im Garten des Cafés am alten Mühlbach nahmen sie Platz. 

Der Tee wurde ihnen serviert.

Sie schwiegen und schauten auf das eilig dahinfließende Wasser im Mühlkanal. "Wenn ich lange hingucke", meinte sie, "dann kommt es mir vor, als fahre ich auf einem Schiff!" Rebekka genoss das – plötzlich fuhr sie auf: "He, lass uns doch weg von hier, irgendwo nach Übersee, einfach weg!"  Fischer reagierte nicht gleich. Er drehte sich eine Zigarette und konzentrierte sich auf das. "Stell dir vor", holte Rebekka aus, "da hat mir so eine olle Bekannte – ging mit mir putzen – einen irren Tipp gegeben. Sagt die – schon länger her: Wenn du wann in Urlaub willst oder gleich ganz weg, dann gib doch deine beiden kleinen Scheißer ins Heim. Oder lass die Bengel ein bissl ein Ding drehen, dass sie abgeholt werden. Oder vielleicht was ganz Krasses, gleich was ganz Mieses. Hat die gesagt. Dann bist du die Plagn für eine ganze Weile los. Da musst du nicht gleich ein Gewissen kriegen. Denn das steht ja oft in der Zeitung, dass solche versauten Ratten mit einem Typen vom Stützeamt ganz weit woandershin gebracht werden. Amerika oder zum Russen. In einen sauteuren Besserungsurlaub fahren dürfen sie. Kannst du mir glauben, dass es denen dann besser geht als wie dir selber. Wurscht, ob sie besser werden. Du bist eine Zeit lang frei." Rebekka blickte Fischer lauernd an, wartete vermutlich auf etwas Moralisches zu ihrem Bericht. Er schien allerdings mit den Gedanken weit weg gewesen zu sein und hatte vermutlich gar nicht richtig zugehört. Sie holte ihn zurück, indem sie fragte, ob er Geld habe.

"Null, fast", brummelte er. Sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas.

"Man müsste weg – verdammt vor sich selber weg!", murmelte Fischer vor sich hin. 

Rebekka hakte ein: "So wie die Leute hier, die hier rumlaufen. Die Leute aus Japan oder Hamburg. Oder halt gleich nach Amerika. Bei denen ist alles viel größer. Nicht so eng. Weites Land und leben auf dem Land. Oder in denen ihren großen Städten. Lieber in der Stadt, weil die Leute auf dem Land auch da drüben Leute vom Land sind. So wie überall. In der großen Stadt, da fällst du gar nicht auf. Da kannst du machen, was du willst, da kümmert sich keiner drum! Auf dem Land ist es so, dass jeder auf einen schaut und auf jeden! Da fühlst du dich immer beobachtet. Darauf sind sie ganz scharf, dass jemand was Schräges gemacht hat und die Spießer das mitkriegen und dann weitererzählen. Und dass es dabei immer fetter wird und zu einer richtig geilen Story." 

Rebekka musste zur Toilette. Als sie wieder erschien, hatte Fischer das Geld für die kleine Zeche auf den Tisch gezählt. "Verflucht, ich bin blank, völlig abgebrannt, alle Quellen versiegt!", jammerte er.

Rebekka legte noch zwei Münzen als Trinkgeld für die Bedienung hinzu: "Das Klo war umsonst – und das sind auch oft arme Luder". 

"Die Stütze vom Sozialamt reicht nicht für uns alle!", erklärte sie, "möglich, dass du irgendwann wieder in die Maloche musst. Aber ich glaube, du hast Dreck am Stecken. Wie du gesagt hast". Er ging nur mit einem Stöhnen darauf ein und erhob sich. Dann bummelten sie die Allee entlang in Richtung Brücke. 

Von Weitem das tiefe, satte Rauschen des Wassers, das über die drei Stufen des Flusswehrs stürzte. Sie gingen wortlos nebeneinander. Eine Gruppe Urlauber, wohl wieder eine ganze Busladung, kam ihnen schwatzend, schauend, knipsend entgegen. Sie mussten vor der Menschenflut ab und zu ganz an die Mauer treten. 

Da legte er Rebekka den Arm über die Schulter und fing damit an, ihr zu berichten, dass er sich nach der Landwirtschaft des Gefängnisses erkundigt habe. Da könnte er arbeiten.

"Na und?", fragte Rebekka erstaunt, "willst du vielleicht dort einen Job?"

"Einen freilich nicht ganz gewöhnlichen!", fuhr er fort und setzte gleich hinzu, dass er es jetzt doch endlich hinter sich bringen wolle. Sie schaute ihn erstaunt von der Seite an und schimpfte schließlich drauflos auf den ganzen Quatsch. Dass er oft so komisch daherrede, dass jeder erst eine Weile nachdenken müsse und dann doch nicht selber draufkomme.

Nun packte er richtig aus, dass er sich stellen wolle: "Wegen meines Drecks am Stecken, wie du so beinahe treffend formuliert hast. Es ist immerhin nur ein bissl Schmuddel und eigentlich gar kein richtiger im landläufigem, sondern nur im juristischen Sinn. Weil zu klauen für einen guten Zweck und noch dazu von Leuten, denen es überhaupt nicht wehtut, sondern sogar – allerdings auf weiteren

Um­wegen ..." 

"Mensch, du nervst mit deinem Durcheinander immer!", unterbrach sie ihn verärgert. Er brachte seine Erklärung gebündelt zu Ende. Er verriet ihr, dass er für jene klebrige Finger gehabt habe und es für die getan habe, die sich mit viel Edelmut und Freizeitopfer ums Wohl unserer Natur annähmen. "Weißt du, ich werde dann ein richtiges Leben auf dem Land führen. Vielleicht kein ganz so richtiges, wegen der doch etwas beengten Umstände im Knast. Aber ein doch einigermaßen originelles Landleben", lachte er zum Schluss. Aus Rebekkas eine Weile vor Erstaunen offengebliebenen Mund kam voll abgründigem Abscheu: "Landleben. So mit viel Grün und Stinkestall. Das Viehzeug. Immer mit den gleichen Leuten um dich rum, von denen die Uniformen dir sogar Befehle geben". Es schüttelte sie direkt.

"Ich würde am liebsten gleich hierbleiben. Da brächte ich die hier allerdings in Verlegenheit", bekannte Fischer in ihre immer noch sichtbar nachklingenden Bedenken hinein. "Denn die Justiz will erst auf Trab gebracht sein. – Ach, kennst du die Geschichte da von ganz früher aus der Königszeit? Wo der Landstreicher jeweils zu Winterbeginn vor dem Knast auftauchte und brüllte, dass seine Majestät ein Riesenarschloch sei. Das erste Mal sei er noch vor Gericht gestellt und verknackt worden.

Die folgenden Jahre aber wurde er von den Wärtern mit viel Verständnis und ohne weiteren Kommentar wegen Majestätsbeleidigung für ein paar Monate eingelocht. So war er also seinem Wunsch gemäß für die raue Jahreszeit beheizt behaust und befüttert?"

"Eine ganz bekackte Story!", maulte Rebekka.

"Typisch für dich. So ein Schmarrn!" "Nun ja, des Königs Zeiten sind ja längst vorbei ...", wollte er abrunden.

"Arschlöcher gibt es immerhin noch genug!", sprang sie ihn an.

Er zog sich diesen Schuh nicht an, sondern kam plötzlich mit einer Erinnerung daher: "Da fällt mir gerade was ein. Du kannst selbstverständlich meinen Urwaldversuch aus der Wohnung schmeißen, wenn ich weg bin. Doch die Töpfe mit den Kartoffeln drin solltest du behalten. Denn das gibt dann doch eine Mahlzeit für euch drei."

"Ich habe sowas alles kommen sehen mit diesem Kerl!", murmelte sie auf der Heimfahrt immer wieder mal vor sich hin. 

 

Und ihm tat sie leid.


 

 

 

 

Man hieß mich wallen

 

 

 

 

So, der Wagen war jetzt dem Auftrag gemäß vor der Brücke abgestellt. Eine kleine Anhöhe etwas abseits, ein Kirchlein lugte durch die Baumkronen. Tafeln davor, von denen eine an ein römisches Heerlager erinnerte, das sich hier befand. Natürlich tauchten da gleich die Gedanken an die Römersiedlung auf, die Abodiacum hieß. Epfach wurde daraus. Sie hatten sich in neuester Zeit darauf besonnen und ihre Dorfstraße nach der Via Claudia benannt, die ganz früher hier durchführte. Ich solle mich gefälligst von diesen Betrachtungen losreißen, raunzte es mich an: Dieser ganze Wust von Oppidum am Fluss; Castellum auf dem Berg, der jetzt dem heiligen Lorenz geweiht ist; die paar römischen Bruchstücke, die sie noch ausbuddeln und im ehemaligen Waaghäuschen in der Mitte des Dorfes ausstellen konnten. Die Steine der Römersiedlung sind vermutlich in Kuhställen der barbarischen Nachrücker verbaut oder per Floß nach Augsburg gebracht und verhökert worden ... Ich ließ von dem schließlich doch etwas gallig geratenen Gedankenmenü und wendete meine Schritte der Brücke zu. Der Lech floss da unter mir zu dieser Sommerzeit grün und friedlich in Richtung Landsberg, um sich dort die Staustufen hinunterzustürzen. 

Am doppelt lebensgroßen Lorenz vorbei führte mich mein Weg. Ich passierte die bronzene Hülle, nicht ohne mit der Hand über seine große Zehe zu streichen. (Das soll für irgendwas gut sein, glaubte auch ich. Ich tat es also wie offenbar viele der Passanten, die diese Übung an der dadurch entsprechend polierten Stelle vollführt hatten.) Am anderen Ufer angelangt, stieg die Straße nach etlichen Metern an. Sie führte den Hang entlang. Dieser erstreckte sich östlich des Lechs über zig Kilometer und wand sich zur Decke der Altmoräne hinauf. Die ich sofort als Landsberger Platte erinnert bekam. 

Eine Kapelle zur Rechten auf einer schmalen Terrasse der Halde. Frisch rot das Dach, wie angestrichen. Ein Türmchen. Helles Ocker das Gemäuer. Auch drumherum alles proper. Blumen in Sträußchen oder eingepflanzt. Beinahe putzig, dachte ich und warf noch einen Blick darauf – zugegeben etwas boshaft, um vielleicht einen Gartenzwerg auszumachen.

Meine Rechte fuhr zur Stirn. Es war ganz mechanisch, vielleicht sogar aus tiefem, wie stets unkontrolliertem Inneren über mich gekommen: Stirn, Brust, Schulter links, dann Schulter rechts. Menschenskind, ein Kreuzschlag. Schnell mit einem fast ungläubigen Kopfschütteln die Straßenseite gewechselt! Denn zwischen die Kreuzgedanken fuhr die Erinnerung, dass alle Fußgänger außerhalb von Ortschaften dem Verkehr entgegen gehen müssten. Ich war mittlerweile etwas außer Atem geraten, denn die Steigung und mein eiliger Schritt verlangten ihren Tribut. Trotzdem weitermarschiert! Dann huschte mir ein Grinsen durch die Züge – über mich selber. Ich glaubte mich der Flucht aus der Gegend mit dem Bethäuschen da und meiner Unwillkürlichkeit mit dem Kreuzschlag von vorhin selbst überführt. "Was hat mein Autor nicht alles von sich in mich eingepflanzt?", meine an mich selber gerichtete Frage.

Da war die Serpentine, an der die geteerte Fahrbahn nach rechts bergan führte. Ich nahm die Abzweigung nach links und befand mich auf einem Grasweg, der etwas abfiel. Das tat gut. Na ja, dachte ich, das macht sich die Landschaft mit einem eben steileren Anstieg irgendwo da hinten wieder wett. Auf seinem Weg wird einem nichts geschenkt. Da war sofort so eine Regel von schulischer Herkunft präsent: "Was an Kraft gewonnen wird, geht an Weg verloren – und umgekehrt selbstverständlich." Es klang mir gut, allein weil es von der Philosophie des Lebensweges weg und in die kühle Physik führte. Ich zweifelte – eigentlich nur sehr kurz –, ob solche Gedanken hier her passten und wenn dem so wäre, ob ich mich ihrer denn überhaupt bedienen sollte. Nämlich zu meiner Unternehmung, meinte ich – und überhaupt zum Ambiente, der ganzen Schönheit hier: Links streifte der Blick über Wiesen und Felder, hinunter auf die Gepflegtheit eines Reiterhofes. Rechts den Hang aufwärts überraschte die reiche Palette des Grüns der Fichten, Buchen, des Ahorns, von Gebüsch unterstanden. Wo die Kronen der Bäume den Boden in Schatten hielten, lief der Besatz in weite weiche Moosteppiche aus. Dass einem die Versuchung überkommen mochte, sich des Schuhwerks zu entledigen ... Hingegen lachten bunte Wiesenflecken hervor, wo die Sonne den Boden ... – ja was?, küsste etwa?, herzte?, liebkoste? Ich atmete tief durch, einmal, zweimal. Es tat gut, und ich fuhr eine Weile fort mit diesem Lustgewinn. Ich blieb stehen und blickte umher. Wieder fing mich diese paradiesisch reiche Natur ein: Da gesellte sich mir zum Gezwitscher der Vögel, vorbei am Summen von Insekten, eines Stocks von wilden Bienen vielleicht, das Rauschen der Kronen und mündete nach ein paar Schritten in ein sanftes helles Plätschern. Wasser! Kühle Feuchte! Ein Bach! Es durchrieselte mich geradezu beglückend in der Vorstellung von Erfrischung, Erquickung, Labsal. Den Klang genießend, begann ich zu suchen. Eine köstlich frische Quelle stellte ich mir vor und wie sie kühl und rein hervorsprudelte. Ich verließ den Weg, schlug mich durchs Unterholz, stieg – immer der Symphonie des Wasserspiels folgend – einen Hang hinab. Da! Es strömte hervor, der kräftige Strahl von Tropfen silbrig glänzend umspielt, makellos, quoll es aus dem Schoß des Berges – überkam es mich. Ich streckte meine Hand danach aus. Ich ließ diesen Segen der Erde über beide Hände rieseln. Ich erfrischte den Puls, benetzte das Gesicht, sehnte mich währenddessen nach dem ersten Schluck. Ich beugte mich hinab und schöpfte das mir bereits mythisch geratene Nass mit der hohlen Hand. Ein, zwei tiefe Schlucke. Tief Luft geholt. Eine Handvoll und noch eine und noch eine übers heiße Haupt und den Nacken hinunter. "Mein Gott", hörte ich es laut vor mich hinsagen, "das gedeiht dir ja richtig zur Taufe!"

Als ich mich erhoben hatte, war ich ganz eingenommen von diesem Einfall, während ich wieder die Böschung hinaufstieg – an einigen Stellen auf allen Vieren. Dieses Getauftsein solle mir sogar zu einer zu erinnernden Begegnung mit früheren Tagen gedeihen, die mich jetzt begleiten würde, wurde mir eingegeben. 

Da wollte sich das Verständnis einstellen, was diese Handlung eigentlich bedeutete. Als volle Urwohltat offenbarte sie sich mir ("Na danke schön!", setzte ich nach, um ein wenig Abstand zu gewinnen). Sie zeigte sich dann allerdings sofort ohne

Möglichkeit, sie (die Urwohltat) näher beschreiben zu können, widrigenfalls schwände sie wieder, war mir sofort bewusst. "Okay, okay, dann belassen wir es eben beim bloßen Gefühl", gab ich nach und

setzte hinzu, "was ja meistens auch angenehmer ist."

Während ich mich in diesen Handel verquickt hatte, übersah ich einen Wurzelstock und stolperte darüber. Im Ringen ums Gleichgewicht hatte ich mir gehörig auf die Zunge gebissen. Jetzt war ich eine Weile mit diesem Schmerz beschäftigt. So dass die Wohltat von vorhin samt des Versuchs, sie gedanklich zu fassen, augenblicklich verflogen war.

Weiter des Wegs und allmählich schmerzfrei, sah ich mich jetzt im Rückblick und dabei einigermaßen verdutzt als immerhin bekreuzigt und gewissermaßen getauft. 

Was nicht alles über mich ausgeschüttet worden war! 

Verwundert stellte ich fest, dass ich geradezu versucht war, mich aufzulehnen. Gegen keinen Geringeren als meinen Autor, der mich ja auf diese Reise geschickt hatte (und natürlich, wie unvermeidlich in seinem Job, immer gegenwärtig war). Er hatte mich – wie dargestellt – gedanklich ausgestattet und mich ja — das sei ihm dankend anerkannt — durch eine bezaubernde Landschaft geführt. Was ich ihm allerdings vorzuwerfen mich geradezu genötigt sah, war, dass er mich aus der Schönheit der unmittelbaren Wahrnehmung stets sofort wieder herausriss. Ich erinnere hier den Naturgenuss, der mich begleitet hatte. Sein Eingriff erfolgte nicht lediglich mittels strukturierender, von Hause aus entzaubernder Reflexion. Sondern er kam auch über mich mit dem Instrument solcher Zumutungen wie den vorhin geschilderten Schmerzen als Folge des Stolperns. (Wobei ich mutmaße, dass diese Vorgänge von symbolischem Charakter waren, die einen Hinweis enthielten auf die Gefährlichkeit solch geistiger Ausflüge und Abhebungen.) Worunter ich ferner – das fühlte ich ganz deutlich – im Augenblick richtig litt, das war der Umstand, dass ich vielleicht nur Figur zu sein schien. Eine, die vom Autor durch eine, gewiss nur seine Geschichte geleitet, eventuell sogar getrieben wurde. Ob es mir da gelingen könnte, eine eigene, lebbare Vita zu

er­langen? So eine mit einem richtigen Auf und Ab des wirklichen Vorhandenseins; eine, die einen sel­ber vorantreibt und die Anderen, die ebenfalls zu dieser Wirklichkeit zählten, neugierig werden lässt. Überhaupt ist noch die Frage offen, ob ich eine mehr oder auch nur minder eigen verfügbare Leiblichkeit erfahren kann. Oder ob ich lediglich je nach Laune und Gutdünken des Autors gelegentlich eine zugeteilt bekäme.

Ich befürchtete beinahe, dass ich mich selber danach umsehen müsse. Mich der Verwegenheit der Selbsterschaffung befleißigend. So blieb mir zunächst nichts anderes übrig, als – unter Vorbehalt zwar – wacker voranzuschreiten. Mich nicht etwa hier auf diesem Weg irgendwo im Lechtal durch schlichte Weigerung wieder in eine Nichtvorhandenheit aufzulösen. 

Ich beabsichtigte fürs Erste, mich schlicht und einfach als eben sogar recht anwesend wahrzunehmen und – wie gesagt – auf den weiteren Weg zu machen. Denn es gab viel zu sehen und wahrzuhaben. Solche konkreten Dinge wie die bereits ein wenig nachgezeichnete Landschaft hier. Wenn meine Gedanken dem Blick rechts hinauf folgten, erkannte ich, dass sich mir der Schoß der Erde auftun wollte. Dass Mutter Erde mir gleichwohl etwas von ihrem Inneren zu offenbaren gedachte. Es sollte aber nicht prompt in ein quasi erdkundlich Erotisches abgeglitten werden. Oder von ihm angestiftet, gar in andere Bereiche des prallen Lebens abgeirrt werden. In etwas mit seinem zugegeben auch von mir darin vermutetem Annehmlichem, wie es eben dem Sinnlichem so zukommt. 

Mein Blick wurde also versachlicht: Nach dem Passieren einer Windung, die weiter in die Höhe führte, öffnete sich ein Geländeaufbruch, dem seine Decke abgerutscht war. Das Auge legte die Struktur der Gesteinsschichtung frei und ließ sie Auskunft geben. Gelb und ockerfarben zeigten sich die waagrechten Lagen. An manchen Stellen ins Graue übergehend – beinahe sortierte Formationen, dann wieder grob gemischtes Material unterschiedlicher Größen. Unten als verbackenes Gebilde ... Gewaltiger Vorstoß der Eismassen denkbar (vor ... – ja vor Zigtausenden von Jahren), alles abschleifend, davontragend, umlagernd. Allmählicher Rückzug. Später unter der wiedergekehrten Wärme. Als sich die Sonne ihrer Kraft besann; verwitternd abdeckend; versöhnender Bewuchs schließlich. Als wollte die Natur einen guten Eindruck hinterlassen nach dieser wilden Zeit ...

An dieser Stelle bekam ich vom Autor die Anweisung, mich an so etwas wie die Schulzeit zu erinnern (als reichte es nicht schon) und dort einmal in Erdkunde, von den Eiszeiten gehört zu haben. Mit der Erlaubnis, stehen zu bleiben. Was mir natürlich guttat. Wegen der Anstrengung bergauf, die mir ein wenig in die Knochen gegangen war und mir zudem wieder ein wenig die Puste geraubt hatte. Ich dürfe ruhig zugeben, dass damals alles nur für eine Prüfungsaufgabe eingepaukt und dann aber vergessen worden sei. Ich solle jedoch auf Würm-, Riss-, Mindelglazial (wie gewählt!) eingehen und dartun, was da zu erblicken war. 

Ich fuhr also mit dem Auge wieder die Schotterwand empor. "Hunderttausende Jahre haben da ihren Schutt abgeladen", redete ich vor mich hin. Da erhielt ich gleich einen Rüffel wegen des abwertenden Begriffs Schutt: Eine sich in Zeitlupentempo fortbewegende, Hunderte Meter starke Eisraupe habe sich angestrengt, das Gebirge abzuhobeln. Was den Menschen zwar den Blick in Richtung Süden zwar nicht ganz frei gemacht, aber immerhin den Schlechtwetterstau der Alpen doch ein wenig gemildert und damit vieles hier im Norden des Gebirges erträglicher gemacht habe. Und das Geröllgut sei redlicherweise von dieser Raupe bei ihrem Zurückweichen hier liegen gelassen worden. Damit wurden immerhin ganze Landschaften gestaltet, die jetzt touristischen Reiz besitzen. "Albernes Zeug", riskierte ich zu kommentieren. Er solle mich nicht behandeln, als müsse er mir den Pauker spielen. Im Übrigen sei Würm als letzte Eiszeit an dieser Geländestelle zu vernachlässigen.

(Ich sagte ja im Allgemeinen etwas auf, redete daher – was ich, zugegeben, gar nicht immer verstand, also eingesagt, eingegeben bekommen hatte. Ich bezichtigte an dieser Stelle meinen Autor, mich gelegentlich ganz ungeniert dem sogenannten Zungenreden anheimgegeben zu haben. Einer seltenen Erscheinungsform, die dem ordinären Nachplappern eng verwandt ist. Die allerdings als die genannte Urform eigentlich nur biblischen Figuren zukäme. Und auch da lediglich zu Pfingsten. Als vor langer Zeit der Heilige Geist über sie gekommen sei.)

Er ging mir auf meine kritische Bemerkung nicht ein – was mich allerdings nicht gerade wunderte. Es war ja überhaupt nicht ganz auszuschließen, dass ich irgendwie und wenigstens zum Teil als Alter Ego meines Autors zu firmieren hatte (was er, wie es bei ihm und seinesgleichen branchenüblich ist, natürlich nie so ohne Umschweife zugeben würde). 

Ich hatte mich weiter voran zu begeben und stapfte drauflos. Wieder eine Serpentine nach rechts. Mein Blick fiel auf einen Stein, den ich sofort als eine Gedenkstele ausmachte. Meine Schritte lenkte ich zu dem Objekt und versuchte, die Schrift durch die angewitterte Oberfläche hindurch zu entziffern: Hirschauweg ... 1938 angelegt ... Ich war enttäuscht. Hatte ich doch geglaubt, diesem Weg ein ehrwürdiges Alter zuordnen zu können. Er lief den Hang entlang und führte zu einer ehemaligen Fährstelle über den Lech. Andererseits diente er, nahm ich an, vielen frommen Wallfahrern aus dem Schwäbischen, die hier entlang ihre Sorgen, in Fürbitten gepackt, zur Muttergottes schleppten. Sofort war ich — vielleicht sogar aus Rache – mit den Gedanken in der in den Stein gehauenen Zeit, 1938. Soweit man halt als Heutiger mittels der brüchigen, so genannten geschichtlichen Aufarbeitung Zugang dazu bekommen kann. Reichsarbeitsdienst zur nutzbringenden Beseitigung der Arbeitslosigkeit, wurde mir eingesagt. Diese verflucht glorreichen Jahre des Volkes, wo sie es mit dem Satan trieben ... Ich wollte hier nicht verweilen. Denn vielleicht war der Teufel noch hier, ging mir durch den Kopf. Und ich schüttelte denselben über diesen Einfall, dass mir das einige Meter von dem Stein entfernt errichtete Gestell des Funkmastes, das ich dabei in die Augen bekam, fast umzukippen drohte. Auch darüber ein Anflug Sinnens über dieses famose Geschenk der heutigen Zeit an uns. 

Doch ich sollte ja in die Richtung Wallfahrtskirche dort in Vilgertshofen wallen, war mir aufgetragen worden. 

Eiszeit, Letternstein, Sendemast und was sich darum alles im Kopf, den mir mein Autor aufgesetzt hatte, rankte! Es ist kein Wunder, dass den Menschen die Gedanken manchmal aus dem Ruder laufen – und sie sich am Ende selber nur als Einfall und banale Schnapsidee begreifen wollen.

Ich zog den schnurgeraden Weg entlang. 

Links und rechts hohe Stämme, stark durchforsteter Bestand. Auffallend weniger Mut, die Natur sich selber zu überlassen, als an der Leite vorhin, dachte ich. Sie haben ja vor, war verlautet worden, den staatlichen Forst mehr auf Gewinn zu bringen, wurde mir erinnert. Alles verstanden. Langholzstapel. Da und dort frische Bearbeitungsspuren. Eine Waldarbeiterhütte – auf Rädern. Ich wollte an Gemütlichkeit und Romantik denken, obwohl oder gerade deswegen, weil ich beim eigenen Tun Ermattung und Schweiß spürte. "Im Schweiße deines Angesichts sollst du ...", war allerdings auch gleich da. "So ein sonderbarer Fluch", setzte ich an. Ich konnte es jedoch sein lassen, denn diese Bibelstelle wurde durch den Anblick eines flatternden Rockes verwischt, der in der Ferne wehte. Frau auf Rad, stenografierte ich im Kopf. Weibsgedanken waren mit dieser Sicht sofort gegenwärtig. Alter, Aussehen, Möglichkeit ... – wozu? Man ist eben Mann. Mann ist Sämann — über den Furchen streut er sich breitwürfig aus, fuhr mir angenehm durch den Sinn ...

Augenblicklich schämte sich mein Autor für mich, das fühlte ich deutlich. 

Indem der Rock näher kam, wurde mir klar, dass mich dieser zwar wohl durchaus schamhafte, allerdings doch andererseits auch ein wenig genierliche Autor noch gar nicht ganz vorgestellt hatte. So hier einmal (während das weibliche Geschöpf wie gesagt näher kam) schnell meine Wünsche mir selber vorgehalten: Vielleicht könnte er mich im Äußeren groß und ansehnlich gestaltet haben. Solche Menschen, Männer vor allem, haben es im Leben leichter, heißt es. 

Na ja. Es klingt gut, denn wer will es nicht leichter haben? Ich zweifelte, ob das so genannte leichtere Leben notwendig auch ein gutes sei. Vielleicht reichten einssechzig, um ein ruhiges Leben zu haben, das deshalb möglicherweise eher gelingen könnte. Doch ich war gar nicht vorgesehen, mir solche Fragen zu beantworten, nicht einmal, sie zu stellen. Mein Autor wäre dafür zuständig. Reizend natürlich dennoch, sich auszumalen, dass einem als ansehnlicher Mensch die Herzen des anderen Geschlechts geradezu zuflögen. Herzsammler sein, ach! Ich war jedoch vermutlich zu unfertig, als dass ich mit dem Gedanken produktiv hätte umgehen können. Also ließ ich es sein – wenigstens vorläufig.

Wie hieß ich eigentlich? (Das dachte ich noch, als die Frau bereits in meiner Nähe war.) Mein Autor schien sich ja für das nackte Ich entschieden zu haben. Das genügte im Allgemeinen – für sich selber, denn wer nennt sich sich selber gegenüber schon beim Namen. Außer, man wäre außer sich. Meinetwegen. Doch wie sollte ich mich möglicherweise vorstellen, wenn dieser Rock da ist? Ich solle, vernahm ich, die physische, sozusagen die irdische Weiblichkeit aus meinem Denken wenigstens zu einem Teil streichen. Befände ich mich doch auf dem Weg zu einer Kirche, die einer Heiligen erzkatholischen Formates geweiht ist. In mein Staunen hinein, das augenblicklich meinem Bewusstsein als Mann, als welcher ich immerhin vom Autor ein wenig konstruiert war, entstieg, bekam ich eine Empfehlung. Ich solle den Part des Ave-Maria "Du bist gebenedeit unter den Frauen und ..." eben sozusagen total ohne die Körperlichkeit betrachten. Ich solle mir die Weiblichkeit an sich, und zwar völlig vergeistigt vor Augen halten. Wohlgemerkt vor dem inneren Auge.

Natürlich kamen da sofort Fragen in mir auf, türmten sich bei näherem Hinsehen geradezu. Wie sollte ich das verstehen, die Frau war obendrein in voller Leiblichkeit ganz in meiner Nähe. Das Weibliche versinnbildlicht erblicken und als die Fortsetzung des göttlichen Aktes? Das solle sich immerhin im zweiten Teil des gebetlichen Satzes um die gebenedeite Frucht des Leibes auch deutlich offenbaren

... 

Da war die Radlerin bereits vor mir und hielt an.

Fast war ich froh darum. Dieser Umstand riss mich aus diesen irritierenden Gedanken, die mich vorhin so überkommen hatten. 

Mein Gruß wurde freundlich erwidert, begleitet von der rhetorischen Frage: "Ein Wandersmann?" Was ich natürlich so stehen ließ: "Man hat mich auf den Weg gesetzt!" Was ihrerseits mit einem erstaunten Kopfschütteln quittiert wurde. Was aber gleich mit Worten des Verständnisses zu kommentieren war: "Ja, ja, jeder ist zum einen immer Wanderer und ist zum anderen auch auf den Weg gesetzt, mitunter sogar ohne viel eigenes Zutun!"   Ich wollte ja bestätigen, dass es im Leben eben mal so sei bei der vielen Fremdsteuerung, beschränkte mich jedoch auf ein Lächeln. 

Mein Autor begann, fühlte ich, an unserer Begegnung herumzuzündeln. Ich hatte ihn gleich im Verdacht, dass er daraus ein Verhältnis zu gestalten plante. Ich fürchtete, ich werde ihm das übelnehmen müssen. Denn nicht genug, dass er diese weibliche Person, die mir da begegnet war, so an die achtzig Lebensjahre sein ließ (was sie mir ungefragt und unumwunden bekannte). Er stattete sie auch noch mit einer Attraktivität aus, wie sie für gewöhnlich einem solchen fortgeschrittenen Vorhandensein eigentlich nicht gerade zu eigen ist.

Drauf pflanzte er ihr eine Sportlichkeit mit allem möglichem Accessoire, sogar einem Crossbike.  Man müsse sich in Bewegung halten (als wie alt bin eigentlich ich vom Autor gedacht?), ging ich wieder auf den Wandersmann ein, den sie mich genannt hatte. Sie gab mir begeistert recht. Ich setzte im (mir eigentlich unerklärlichen) Wohlgefühl, bei ihr sozusagen angekommen zu sein, hinzu, dass ich eine gewisse Rücksichtslosigkeit gegen mich selber praktiziere. Und das indem ich den alten Spruch englischer Bewohner von fernen Kolonien in die Tat umsetze. Der da etwa laute, dass derjenige verkomme, welcher um sieben in der Früh noch nicht rasiert sei.

Sie strahlte mir entgegen: "Early to bed, and early to rise, makes healthy, wealthy and wise!" Sie übersetzte und reimte sogar ihr Produkt: "Früh zu Bett und früh erwacht, / hat gesund, betucht und gescheit gemacht!"

Ehe ich es mich versah, waren wir uns wohl richtig nähergekommen.

Sie mochte das genauso empfunden haben und blätterte mir prompt ihre Vita hin: Anglistikstudium kurz vor dem Examen abgebrochen, weil der Klapperstorch überm — wie im Übrigen damals beinahe üblich — noch gar nicht fertigem Nest gekreist war; diesen Halunken von Taxler geheiratet, weil verschiedene Geschlechter im zeugungsfähigen Alter zu der Zeit nur mit Trauschein zusammenziehen durften, um den Vermieter nicht wegen Kuppelei vor den Kadi zu bringen; dann statt des früh ziemlich total erschöpften Mannes Taxi gefahren, und zwar bis siebzig; dann aus diesem immer verrückter werdendem München heraus und jetzt ... Ich fand sie am Ende tatsächlich sympathisch. Ich ärgerte mich allerdings gehörig, dass mich der Autor derart eingewickelt hatte (etliche Jahre jünger, wäre ihm ganz bestimmt möglich gewesen!).  Ich vernahm von ihm gleich so etwas wie eine Entschuldigung. Gefolgt von der Bitte um Verständnis. Gepaart mit der Ausrede, dass so ein Leben, das er sich aus gewissen methodischen Zwängen heraus mir zu verpassen genötigt gewesen sei, ohne Überraschungen doch recht langweilig und am Ende unerträglich ausfiele.

"Okay Meister", entgegnete ich. "Ich werde jetzt auf die Uhr schauen und mich von meiner weiblichen Begegnung mit den Worten verabschieden. Dass ich ja noch zum Gottesdienst und möglichst — andererseits nicht viel später — nach der Predigt anzukommen plane".

Ihr Verständnis dafür war mir nach ihrer Bekundung sicher. "Predigt", merkte sie noch an und nickte dazu wissend. Ich bedankte mich für ihre Einsicht. Ich ergänzte, dass ich Predigten gerne vermeide, weil es dabei ja nicht üblich sei, sozusagen als Schaf den Worten des Hirten entgegenzublöken. 

Ein kurzes trockenes Lachen bereits hinter mir, holte ich hurtig aus. Denn ich war ja durch die Rast bei meiner Unterhaltung zu neuen Kräften gekommen. Ich war bald am Waldrand, hatte die fein herausgeputzte Mutter Kirche, umgeben von Häusern, Ställen, Scheuern im Auge. 

Meinem Autor war ich jetzt dankbar, dass er die Begegnung mit dieser sehr gereiften Dame offenbar nur ein kurzes Zwischenspiel hatte sein lassen wollen. Und das trotz eines deutlichen Anflugs von Zuneigung auf beiden Seiten, mit dem er das verziert hatte.

Jetzt befand ich mich im Kirchenschiff zur so genannten schmerzhaften Muttergottes. Einen jungen Priester sah ich vom Ambo gehen.

Mein Blick fuhr in der Schweigeminute nach der Predigt hinauf zur Decke und tastete schließlich über die Köpfe hinweg die gesamte Raumschale ab. Sattes Rokoko, Stuckgirlanden umhüllten fromme Bilder und Figuren. Weiß, golden, pastellfarben strömte es auf mich ein. Dralle Putti schwebten umher und schienen mit der mahnenden und gleichermaßen beängstigenden starren Erhabenheit der Wandheiligen versöhnen zu wollen. Wenn jemand all die Legenden auch bloß andenkt. All jene, die um diese entmenschlichten Ideale in missionierender Absicht geflochten worden waren – fühlte ich meinen Autor im Hintergrund. (Das waren so Momente, in denen er sich anscheinend selber outete. Ich hatte es dabei leicht und genoss es zugegebenermaßen, mich von diesen – und allerlei sonstigen Abschätzigkeiten zu distanzieren.) Ob er mich schützen wollte, dieser mein sonderbarer Schöpferschutzengel? Damit ich nicht auf die Idee komme, dieses hier alles für eine Kopie des Himmels zu betrachten? Die hier immer mit ihrer Gier nach Greifbarkeit (fühlte ich, wie es ihm am liebsten über die Zunge gegangen wäre und das mitunter in die andächtige Stille hinein!). "Alles muss Materie haben, Masse, stoffliche Substanz: Alles muss zum Begreifen sein, wenn es begriffen werden soll!", rumorte es hinter (oder in) mir. 

Irgendwann durfte eine Frau hervortreten und Fürbitten sprechen, die die Gemeinde dann jeweils mit einer Gebetsformel quittierte. Sie hatte ja recht mit ihren Wünschen, die sie da vortrug, gestand ich ihr gerne zu: Dass Friede herrschen soll auf der Welt; dass der Reiche dem Armen geben soll auf dieser Welt; dass der Einheimische den Fremden nicht als Fremden behandeln soll in seiner Welt ... 

Ich murmelte mit den Anderen den Refrain um die Erhörung höheren Ortes. Ich war aber zunächst ein wenig mit meinen Blicken an einer Votivtafel hängen geblieben, die, wiederum stuckgefasst, auf den Wandputz geschrieben war. Bald war ich aus dem liturgischen Geschehen ausgestiegen, denn ich ging ganz diesem Eindruck nach: "Glicksellige Seelen / die geschworen zusammmen / Zu helfen auß Fegfeuers / brinnendten flammen, / Ihr gaiesset warhaftig / Villfeltigen guß / Euch gibet die schmertzhaffte / Muetter den schutz."

Eine eigenartige Schrift, die, unsicher, tollpatschig, ungelenk, bestimmt aus dem tiefen Inneren kam, war ich überzeugt, menschliche Herzlichkeit richtig einzuschätzen. Mehr und mehr begeisterte mich diese herrlich freie Schreibe. Während ich das genoss, zog einerseits die Messeaktion an mir vorüber und ließ mir mein Autor andererseits seine Erinnerung an den immerwährenden Streit um die richtige Schreibweise heraufziehen: Da erschienen die Erregtheiten wieder, das Menetekel um den Untergang der Muttersprache, der Leserbriefkrieg darum, die Beschimpfungen, und wie sie den Machern den Sachverstand abgesprochen hatten und sie nur noch "sogenannt und selbst ernannt" sein ließen ...  Dann erhielt ich den Auftrag, diesen Text abzuschreiben. "Na schön", quittiere ich, "selbst wenn ich dadurch die Blicke der Frommen auf mich ziehe und diese damit um ihre seligmachende Andacht bringe."

Ich dachte nach getaner Arbeit noch beim Verlassen der Kirche darüber nach, zu welchem Zweck ich das hatte erledigen sollen. Dabei gelangte mir mein Autor in den starken Verdacht, Schulmeister zu sein und Anhänger der Rechtschreibreform. Dass er gar diese orthografisch nihilistischen Zeilen den Traditionalisten vor die Nase halten wollte. Vielleicht mit den Worten, dass einer sogar dann in den Himmel kommen könne, wenn er orthografisch gesündigt habe ... 

Aus diesem Gedankenspiel schreckte mich der Anblick der Frauensperson von meinem Herweg. Sie steuerte gleich auf mich zu. Ich wollte mich mit einem kurzen Gruß an ihr vorbeimachen. Sie richtete jedoch sofort das Wort an mich: Ob sie mich denn nicht irgendwohin, ihretwegen sogar zu mir nach Hause fahren könne, da ich ja bereits einen weiten Weg hinter mir habe und ich dem Augenschein nach auch nicht mehr gerade der Jüngste sei. Ein versöhnendes "Pardon" ließ sie dieser auf tückische Weise sich meiner Lebenszeit annähernden Feststellung sofort folgen. Ich solle mich aus diesen Gründen auf die Schonung meiner Kräfte besinnen. Wobei sie mir anbot, dabei durchaus auch behilflich zu sein. 

Ungemein mütterlich, freundlich, charmant und was sonst noch, dachte ich und bedankte mich. Mein ganzes artiges (und daher wohl etwas unbestimmtes) Abweisen verhalf mir allerdings nicht dazu, ihr zu entkommen. 

Mein Autor setzte mich in ihr Auto. Nicht genug damit, er hieß mich auch achtlos plappern, dass ich ja weder einen tierischen noch menschlichen Anhang noch ein richtiges Zuhause hätte. Ich sei so ein typisches Produkt der fortschreitenden Tendenz der modernen Gesellschaft zur Versingelung und so ziemlich ungebunden. Was mir (ich fühlte es sofort ganz deutlich!) den Zugriff der mich gerade chauffierenden Frauensperson auf meine ihr eben vorgetragene Unabhängigkeit eintrug. Kurz, ich war dann in ihrem Heim gelandet. Mein lieber Autor ließ mein jenseits des Flusses abgestelltes Fortbewegungsmittel in einer Scheune verschwinden, meine Wohnung inklusive Möblierung veräußern. Meine menschlichen Spuren wurden sozusagen für die Umgebung gelöscht, die allerdings von meinem Autor ohnedies nicht als existent mitgeteilt war (eben so leicht und ungeniert, wie es all diesen Schreiberlingen zu eigen ist). 

Was aber sollte die alte Füchsin in meiner fantastischen Vita betreiben? 

Mir ließ sie jedenfalls (vorerst?) Wohnen, Essen, Wäschepflege unentgeltlich angedeihen. Bekanntlich hat alles auf der Welt seinen Preis (und davon wird mein Autor aus Gründen seiner Realitätsnähe, der er stets verpflichtet zu sein hat, gewiss nicht abweichen können). Wie bereits vermutet, irgendwas hatte diese beflissene Dienstleisterin vor. Sie sah in mir womöglich mehr als nur einen Partner bei Halma, Mühle, Canasta ...

Es steht auf alle Fälle etwas an, gestattete mir der Autor, über die Vermutung hinaus zu unterstellen. Er deckte hingegen seine Karten nicht auf, ließ mich nur erkennen, dass meine jetzige Hausherrin ein Faible für Geldinstitute zeigte. Tatsächlich, sie suchte diese in einer ganz besonderen Art auf, die sofort von einem augenscheinlich weit über das bloße Bankgeschäft hinausreichendem Interesse zeugte. Überweisen, Abheben? Nein – oder eher äußerst selten. Sie schien die Geldhäuser richtiggehend erkunden zu wollen. Mit großen, vor Begeisterung (oder bereits Gier?) leuchtenden Augen stakte sie in den heute doch überall als Automatenabstelle ausgestatteten Hallen umher; sie visitierte alles, starrte dann durch die Scheiben der Büros und beobachtete die Banker bei ihren Geschäften; sie schien Dinge zu sehen und darauf richtig abzufahren, für die andere kaum etwas übrig haben, geschweige denn, dass sie sich davon entflammen lassen könnten; sie suchte das Gespräch mit dem Personal (von dem ja ohnedies das meiste wegrationalisiert worden war), sobald nur jemand Verbliebener auftauchte; sie ... 

 

Mich kam ein Staunen an, als ich meine Eindrücke sammelte! Sie klagte bei ihren Gesprächen mit den Bankern zu Beginn jedes Mal über die Notwendigkeit immer schärferer Sicherheitsmaßnahmen. Die wegen der zunehmenden Gerissenheit der Verbrecher ja bedauerlicherweise erforderlich seien. Die den Banken nicht nur Geld kosteten, was diese allerdings wieder vom Kunden einholten, sondern dem Personal zusätzliche Lasten komplizierter werdender Abläufe aufbürdeten. So öffnete sie in der Regel die Angesprochenen, welche die Bekundungen der auf einen seriösen Eindruck bedachten Dame als Bemitleidung auffassten. 

Für mich war es immer ein Schauspiel.  Ich bemerkte eine Steigerung ihrer Wohlbefindlichkeit. Was ich ihr natürlich gönnte – und auch mir, da sie mit dieser Offenbarung ihres Showtalents quasi eine weitere Schicht Schminke über ihr Alter auftrug.

Das lief so, bis die Blätter vergilbten und von den Bäumen zu fallen begannen. Da fing sie eines Tages damit an, dieses nur gelegentlich gemütliche Stückchen Erde hier wegen des scheußlichen Nordstaus der Alpen und den daraus folgenden nasskalten Tagen zu beschimpfen. Dass man doch den Winter über diese ungemütliche Gegend verlassen und sich in wärmere Gebiete verziehen müsse, rückte sie heraus. Ich hatte nichts dagegen – bis sie die Finanzierungsfrage stellte, die ich durchaus nicht beantworten konnte. In Gedanken zog ich mich zunächst darauf zurück, dass es mein Autor bestimmt richten würde. 

Einmal schien ihr der Kragen geplatzt zu sein, jedenfalls schimpfte sie auf mich ein. Wie ich mir das vorstellte mit den Lebenshaltungskosten und deren fortgesetzten Steigerung ... 

Es war scheußlich, und ich schaltete ab – bis sie damit herauskam, dass sie das Geld eben besorgen müsste. Gut, dachte ich, warum nicht, sie hat gewiss welches auf ihrem Konto. Das allerdings verneinte sie zu meiner Überraschung. In meiner Naivität rätselte ich eine Weile herum, was dieses Besorgen dann bedeutet haben könnte. Da ging mir tatsächlich ein Licht auf und ich sagte laut vor mich hin: "Na klar, warum nicht?" 

Sie quittierte erleichtert: "Na endlich!" Sie hielt die Sache für abgesprochen.

Welche Sache?, fragte ich mich – und hatte nach einiger Zeit wieder so einen geistigen Sonnenaufgang. Na klar, das könnte es sein: Sie plante da eine oder mehrere ganz außergewöhnliche Abhebungen bei der Bank. Ich sollte es ausführen. Ich! Ich, eine fiktive Existenz, sogar ohne Namen, ohne Fingerabdruck oder sonstige kriminologisch verwertbare Eigenheiten. Ja, du mein Schock, gerade deswegen! Na, das hatte sich mein Autor absolut gaunerisch ausgedacht. Ich hielt ihn gleich für einen ausgemachten Halunken!

Was für eine Menge zu erwartenden Schwierigkeiten bei so einem Unternehmen! Das ist heute nicht mehr so einfach mit Maske, Pistole und Geld-her! Die haben keines mehr in offenen Kassen liegen. Da muss einer gleich an Tresore oder an die Automaten ran ... 

Meine tolle Wirtin hatte, berichtete sie mir, jedenfalls etwas Ähnliches von ein paar Rentnern in der Zeitung gelesen. Die waren ihr ganzes Arbeitsleben über sauber geblieben, biedere Alltagsmenschen. Aber in der vielen Zeit des altersbedingten Nichtstuns seien sie schlicht und einfach zu Schurken geworden. Einfach des Zeitvertreibs wegen. Sie haben nämlich in großem Stil krumme Dinge gedreht. 

Was die konnten, habe sie ebenfalls drauf, trotzte sie. 

Das hat sie doch nur im Kopf und nicht etwa tatsächlich vor? Oder sie spielt mir da etwas vor, entschuldigte ich sie zunächst bei mir. Ihr schauspielerisches Talent hatte sie mir ja längst bewiesen. Es trieb mich allerdings doch ein wenig um. Ich musste immer häufiger darüber nachdenken. Es machte langsam Spaß, sich auf spielerische Weise doch mit allen möglichen Schurkereien zu befassen. Ein gewisser Reiz ging davon aus, damit auch etwas neben der bürgerlichen Bravheit zu stehen zu kommen. Wenn auch zunächst nur in Gedanken.

Ich gelangte allmählich sogar zu so etwas wie einem Plan. Das Ansinnen meiner Gastgeberin bezog ich dabei auf mich und stand unversehens sogar dafür: Warum denn nicht? Spiel, Vergnügen, Zeitvertreib. Das ist doch ganz und gar zeitgemäß, war ich überzeugt. Woher rühre denn diese Sucht nach Verbrechen, die sich die Leute mit ihrem Krimikonsum befriedigen? Von Geschriebenem und Vorgeflimmertem bedient? 

Besonders das Bemühen um Zeitvertreib schien mir allmählich erforderlich! Denn es gab Tage, die so lang waren und gar nicht mehr aufhören wollten, Tag zu sein. Andererseits wollen selbst Hirngespinste nicht nur verwoben, sondern auch benützt sein. Sie geben am Ende ein durchaus schützendes, wärmendes Gewand fürs so häufig frierende Gemüt ab ...

 

In diesem ganzen Dunst stand da eines Tages eine recht konkret erscheinende Figur. Bei näherem Hinsehen war ein weibliches Wesen jüngeren Jahrgangs zu erkennen. Während ich noch Maß nahm (in männlicher Manier zunächst die Figur, dann das Alter; schließlich wollte der ganze Ausdruck erfasst sein), erhielt ich die Information, dass es sich dabei um eine Enkelin meiner Hausherrin handelte. Zunächst war ich erschrocken – eher zurückgeschrocken – wegen des durch die Mitteilung angezeigten Altersabstands zu mir, der ich mich gerade schier ungebührlich meines männlichen Augenmaßes befleißigt hatte.

Mein Autor hatte mir, wie bereits erwähnt, kein konkretes Alter gegeben. Wohl in der Annahme, es könne von Vorteil sein, sich auf die bekannte Behauptung zu berufen, dass jemand so alt sei, wie er sich gerade fühle. Ich könnte vielleicht der Großvater sein, begriff ich – doch nur nach Jahren, schränkte ich mir (geringfügig eitel) ein. Zugegebenermaßen war ich von ein wenig Scham begleitet, während ich immer noch mit dem Auge an ihrer Figur herumtatschte. Dieses Begleitgefühl wollte mich tatsächlich etwas entsühnen, erkannte ich. Da erinnerte mich etwas (es könnte der Autor gewesen sein, der mir damit vielleicht Mut machen wollte fortzufahren) an Goethe und seine enorme Johannisblüte. Wie er mit seinen achtzig verschrumpelten Lenzen oder so noch um die blutjunge ... Das sanktionierte meine Musterung. Und mit diesem Begriff Musterung tauchte noch die totale Körperlichkeit auf. Einschließlich des Blicks hinter die Unterwäsche, der dabei ganz üblich rechtens und damit unentbehrlich ist ...

Ich bezichtigte mich der Lüsternheit, allerdings doch irgendwie begleitet von so etwas wie einem ungemein wärmenden Gefühl der Wonne ... 

 

An dieser Stelle nun, mit der Bitte um Nach-, besser Einsicht, ein geringfügiger Wechsel der Erzählperspektive in Richtung einer Autorschaft. Allerdings einer gedachten Figur, die noch über jene gestellt werden soll, welche dieses namenlose Ich auf den Hirschauweg geschickt hatte. Also sozusagen eine Über-Autorschaft.

Dieser soll gerne die Tradition der Betrachtung von außen und ein guter Schuss Allwissenheit zugebilligt sein, wie es sich gehört. Ferner wird sie sich um Sachlichkeit zu bemühen haben und nicht etwa seine Figuren am Gängelband führen wollen – wenigstens so gut es eben möglich ist bei einer Berichterstattung.

Folglich ist Abstand zu nehmen von diesem Ich als Erzähler. Diesem ein wenig bedauernswertem Ich, das so sehr um sich gerungen und darüber auch noch Rechenschaft abzulegen hatte. Dieses Ich, das jetzt mit seinen neuen Gegebenheiten voll ausgelastet und hoffentlich zufrieden ist. 

Denn es sei gleich verraten, dass dieses vom Helden der Geschichte vorhin offenbarte Wonnegefühl auf ein positives Echo auf der jungen weiblichen Seite stieß. Dort wollen wir es, jedermanns Einverständnis ganz einfach unterstellend, nicht etwa ruhen, sondern gehörig wirken lassen. Schließlich sei noch bemerkt, dass immer noch gilt (jedenfalls in fein- wie mitfühlenden Kreisen), dass man Verliebte nicht stören dürfe. Also passt es gut ins Konzept, hier einen gewissen Abstand zu wahren.

 

Stattdessen wäre noch zu bedenken, dass in der Erinnerung unweigerlich auch die ältere Frauensperson aufzutauchen hat. Allemal samt ihren durch das Flirten der beiden gewiss hervorgerufenen negativen Gefühlsumständen. Diese gepaart mit ihrem ausgesprochen problematischen Vorhaben der Geldbeschaffung. 

Die Gesamtsituation in Betracht, zum einen das Turteln des alten-jungen Liebespaares und zum anderen das zu vermutende Grollen der Großmutter, täten sich nicht nur menschliche Abgründe, sondern ganze Erzählwelten auf. 

Um alles ein wenig auf einen Nenner zu bringen: Der Wandersmann vom Beginn der Geschichte mutierte zum Galan und ginge mit ihr, der Neuen, der Jungen, eigene Wege. Er entziehe sich nicht nur seiner alten Verehrerin, sondern versuchte das auch seinem Autor gegenüber. (Wie es sowieso beinahe die Gewohnheit von Figuren ist, gewissermaßen dem Autor nebst der an ihnen hängenden Handlung davonzulaufen, so dass sich dieser immer wieder aufs Einfangen besinnen muss.) 

Verliebte wollen (wie bereits angedeutet) bekanntermaßen wenigstens zeitweise alleine sein, denn sie haben so manches zu regeln, was für die Augen und Ohren anderer nicht bestimmt ist. Folglich sollte hier kein Voyeurismus geübt, sondern lediglich eine Vermutung angestellt werden: Aus der ernstzunehmenden und mit allem gewöhnlichem Beiwerk ausgestatteten Partnerschaft heraus würde nach und nach die Richtung zu einer Bruder-Schwester-Verbindung eingeschlagen und erreicht werden. Das sollte vielleicht zunächst unter Fortfall all der Trockenübungen der Reproduktion geschehen. (Einerseits wäre er ja in der Lage, sich des Gedankenganges um die Versinnbildlichung des Weiblichen – um doch nicht gleich von deren Entleiblichung zu sprechen – zu entsinnen. Das sollte ihm aufgrund seines zwar nicht genannten, doch offenbar fortgeschrittenen Alters einigermaßen gelingen.) 

Die junge Frau könnte sich hingegen als guter Geist offenbaren. War sie damals so oder so ähnlich aus einem Dunst, einem Nebel, nein, einer literarischen Wolke heraus nicht nur einfach aufgetaucht, sondern nahezu erschienen. Jedenfalls unvermittelt als eine richtige Überraschung eingetroffen mit letztendlich dem Geschenk der Liebe. Also hatte sie sich ihm in Form eines Wunders ereignet. In der intensiven Befassung mit Übersinnlichem, mit dem sie beide es unternommen hätten, die Grenzen des Irdischen zu überschreiten, wäre es möglich, daraus allmählich so etwas wie eine fromme Kommunität entstehen zu lassen. Eben eine Betbruderschwesterschaft.

Die forsche Großmutter ziehe ihren Coup in Banken alleine durch. Sie erhielte die erstaunliche Gemeinschaft der beiden aus ihrem Erlös finanziell am Leben. Ohne dass freilich die Beglückten sich um die Herkunft des Almosens weiter Gedanken machten. Bei jeder Ausreichung einer dieser Gaben würde die alte Ganovin die Sentenz aus dem Macbeth zitieren. Jene, dass das Leben ein Märchen sei, und zwar erzählt von einem Dummkopf voller Wut und Schaum. Was die Gute in Erinnerung ihrer Erstberufung, der zu einer Anglistin, selbstverständlich in einem echten Shakespeare'schen Englisch und nicht minder originellen Einsatz eines dramatisierenden Ausdrucks vortrage.  Die beiden begünstigten Tugendhaften hätten nicht das Bedürfnis, das Zitat zu übersetzen. Sie begnügten sich mit der obendrein überraschend gestenreichen Darstellung und vor allem dem schönen Sprachklang. 

 

Nachdem nun wohl eine für alle Beteiligten einigermaßen erträgliche Situation geschaffen zu sein scheint, könnte notiert werden: dass die Dinge ein Recht darauf haben, sich zu dem zu entwickeln, was sie (auch immer) sind.