Gandauers Ankunft
einige Kapitel anlesen und
sich mit der Inhaltsangabe weiter informieren
Die Bilder überspiegeln sich
„Da ist ja noch Gandauer!“, stellte der junge Mann
fest, als er in den Fernsehraum kam. Er blickte eine Weile auf den Bildschirm
und war sich sicher, dass es noch dauern würde. So setzte er seinen
Kontrollgang fort.
Nach einer Weile erschien er wieder. „Es geht auf
Mitternacht zu, Herr Gandauer! Die Geisterstunde naht!“, witzelte er, um seine
Mahnung freundlich abzurunden.
Es war keine Reaktion auszumachen. So setzte er sich
etwas abseits, zog seinen Gallischen Krieg aus der Jackentasche und begann zu
lesen. Cäsars Bezwingung der südlichen Belger hatte er erreicht. Er kam damit
nicht weit. Das fade Flimmern des Fernsehers, unterlegt mit monotonen
Geräuschen, schläferte ihn immer wieder ein. Das Buch klappte zu. Mit einem
Ruck richtete er sich dann jedes Mal auf.
„Machen sie Schluss, Herr Gandauer. Sie sind ja auch
todmüde!“, nörgelte er.
„Tod“, echote es matt herüber.
„Machen sie doch diesen Western weg!“, knurrte der
Junge verärgert.
Er schien Gandauer nicht erreicht zu haben.
„Ich weiß gar nicht“, wurde er lauter, „was sie an
dieser Viehtreibersoap finden!“
Er ließ es sein, nahm doch wieder das Buch zur Hand
und rückte sich unter der Leselampe zurecht. „Es ist doch immer so“, sagte er
sich nach einem Blick auf seinen Text. „Andere niedertrampeln. Obenauf sein. ...
nach der Unterwerfung ganz Galliens ...“, las er. Er ließ das Buch auf die
Knie sinken und schloss die Augen. „Wenn ich einschlafe, bin ich eben
weggetaucht. Gandauer kommt ohne meine Aufsicht zurecht.“ Er schielte zur
Fensterseite des Raums, wo der alte Mann saß. „Welke Figur“, überkam es ihn,
„scheint fast verwachsen mit dem verschlissenen Backensessel.
Gesamtkunstwerk“, lästerte er. „Gandauer hat zwar den Kopf dem Fernseher
zugewandt“, stellte er noch fest, „scheint aber die Augen geschlossen zu haben.
Na so was. Und ich kriege ihn hier nicht weg. Und der Apparat wirft Farben und
Geräusche in das spärlich beleuchtete Zimmer. Es ist wie eine Lichtorgel“,
malte er sich die Szene aus. „Jetzt quillt alles grellrot aus dem Kasten. Im
Dämmer flimmert es wohl meinem Alterchen durchs Hirn“, fantasierte er sich
weiter: “Rot wie Blut. Das nun hier. Aus. Schluss. Gandauer! Überall Sand.
Deine Sanduhr ist bald abgelaufen“, sinnierte er noch. „Eine von der Art ist
sie, eine, die einer nicht mehr umdrehen kann. Damit es wieder von vorne losgeht
... Dem Gandauer tut das womöglich auf so eine selbstquälerische Weise
schmerzlich wohl, was der Apparat da auswirft. Wenn er es denn überhaupt
wahrnimmt. Und wie es sich ihm dann vielleicht über die Erinnerung schiebt und
sich vermischt: Ich hänge hier im Sattel, könnte sich ihm da hineinspielen.
Nach dem äußersten Einsatz und den vielen Gefahren! Mensch, Gandauer. Du
hattest dich sicher auch total eingesetzt, damals in eurer tollen Zeit. Wie so
viele von euch, viel zu viele, fast alle. Wenigstens im Kopf und mit dieser
erhobenen Heil-Unheil-Hand. Die ganzen Gefahren. Ja, ja. Und der Durst jetzt in
deiner Alterswüste. Wofür das alles? Es ist lachhaft! Die Zeit. Der viele Sand.
Ihr hattet immerhin nicht weniger gewollt, als den neuen Menschen zu formen und
mit ihm die ganze Zeit in den Händen zu haben! In euren Greiferklauen ... Und
als ihr dann eure Hände betrachtet ...“ Der junge Mann ließ es sein. „Er ist
vielleicht gar keiner von denen“, beruhigte er sich, „die wir heute
verdächtigen. Allein ihres Alters wegen und der Zeitgenossenschaft ...“ ...
Notizen des
Zivildienstleistenden
„Alle niedergeschlagen! Jetzt nur noch warten auf ein
Versorgungsklingeln. Rumsitzen.
Vielleicht was Nützliches anfangen. Nur nicht lesen,
da fallen mir zur Nachtzeit die Jalousien runter. Gibt es was zum Arbeiten? Ach
ja, zum Aufarbeiten. Endlich damit beginnen! Okay, Schreibzeug her!“
Ich notiere angesichts der Umstände ...
„Na ja, nicht gar so gestelzt mir selber gegenüber!
Wenn es auch noch so ungewohnt ist und dazu so plötzlich, dass ich damit
beginne, Tagebuch zu führen. Wenn ich überhaupt damit fortfahre. Hier also nur
einmal so etwas wie ein Erinnerungsprotokoll. Also ...“
Neulich im Stadtcafé gewesen. Die Tasse noch für einen
schlanken Zwickel. Für einen mit meinen Möglichkeiten noch erschwinglich. Sie
haben das dort nett eingerichtet. Ein bisschen Kunst an den Wänden. Zum Kaffee
gibt es nach alter Art Wasser – ich blödle mir wieder etwas vor: ... weder
Seife noch Handtuch dazu. Und ein paar Tische weiter saß mir ein
Mädchen gegenüber. Ich war allerdings erstaunt. Denn
die etwa Siebzehnjährige hätte – nach der Ausrüstung neben sich – doch wohl
eigentlich in der Schule sein sollen. Sie mochte gut einssiebzig sein, schätzte
ich, als sie sich kurz erhob, um wohl zur Toilette zu gehen. Sie erschien
wieder, ein wenig geschminkt, fiel mir jetzt auf. Ich nahm, zur eigenen
Überraschung, ungeniert weiter Maß: Kräftige, eine von der lieben Natur gut
gemodelte Figur.
Aber worauf lasse ich mich auch bei meiner Notiz
wieder ein? Nachdem ich mich deswegen bereits im Café über mich selber
gewundert hatte! Doch das war es ja im Grunde: Ich blickte immer wieder einmal
zu ihr hinüber. Was die Begegnung, um die es sich bereits handeln mochte, nicht
gerade neutralisierte.
„Ich werde den Stift jetzt weglegen, um Abstand zu
gewinnen!“, bestimmte er sich.
Nach etlichen Kontrollgängen sah er ein, dass er vor
etwas davonlief. Die Erinnerung ließ ihn nämlich nicht los. „Dieses Mädchen ist
mir schier eine Erscheinung“, jammerte er sich vor. Er wollte sich sofort von
diesem Eindruck befreien, dass nämlich so etwas wie Erscheinung doch dem Jenseitigen
vorbehalten bleiben müsse und nicht etwa dem Auftauchen einer so irdischen
Figur einzuräumen sei. „Eine solche Formel genügt dagegen nicht, um diese
tiefere Regung, die bei mir zweifellos im Spiel ist, zu beherrschen!“, war ihm
klar. „Ich muss mich eben diesem Ereignis, dem mit diesem Gefühl quasi Leben
eingehaucht worden war, weiter widmen“, war er überzeugt. „Männlich mich diesem
Eindruck von Weib stellen“, witzelte er sich hinterher. „Denn nur eine
Auseinandersetzung“, war er überzeugt, „mit dieser Begegnung biete eine
angemessene Möglichkeit zur Aufarbeitung. Also ...“
Das mutmaßliche Schulmädchen hatte mein – nun ja! –
wiederholtes Auf-sie-Blicken vermutlich fehlgedeutet. Es fing an ... Und das
doch ganz unverhohlen ... Ja doch! Ich muss es mir eingestehen! Das Mädchen
begann, mit mir zu flirten: Augenzwinkern; ein in die Mundwinkel huschendes
Lächeln; mit dem Finger dieses Haarschüppeldrehen. Um
das die Psychologen wissen wollen, dass es eine Vertrauensspiegelung darstelle.
Vielleicht ist mir ein, wenn auch verklemmtes Grinsen
übers Gesicht gezuckt. Ich hatte jedenfalls bald das Gefühl, dass da etwas, wie
es heißt, gefunkt hatte. Löst ein solches Erlebnis sicher bei vielen Wonne aus
... – bei den normalen ... oder besser gewöhnlichen Menschen ... Ich gestehe
mir hier – auf dem Papier ... Quatsch beiseite: Ich war eher schockiert –
entblödete mich hingegen beim Hinausgehen nicht, nicht bei mir dann selber Maß
zu nehmen: Im Spiegel einzuschätzen, ob meine Einsachtzig und mein kurz
geschnittenes Blond zu ihrem streng in so was wie einem Knoten mündendem
Brünett passen würde. Ich bekenne mir hiermit selber, mich dieser Dummheit zu
schämen. Ich schreibe es in der Hoffnung nieder, mich davon einigermaßen
befreien zu können. Eine Übung, ähnlich der des biblischen Sündenbockes, dem
sie auch ihre notierten Probleme um den Hals gebunden haben sollen, bevor sie
ihn in die Wüste jagten. Damit hätte es eigentlich sein Bewenden haben können.
Diese Begegnung wäre als ein einmaliges Geschehen allmählich in hoffentlich
blasse Erinnerung geraten.
Ich würde das alles eigentlich nicht notieren
(müssen). Wäre nicht etwa einen Monat nach diesem zufälligen Treffen im Café
dieses Mädchen plötzlich im Altenheim an mir vorbeigehuscht. ...
Vom Knastalltag eingeholt
Beim Betreten des Speisesaals blieb Gandauer kurz
stehen und blickte umher, bevor er sich auf einen Platz begab. Das Essen
dauerte noch etwas. Sein Blick ging zum Fenster hinaus und fiel dann auf das
ihm bereits vertraute Bild einer alten Stadt, das an einer Seite großflächig
auf den Putz gemalt war: Ein alter Torturm vor einer Häuserzeile, in den zu
beiden Seiten von ihm wegführenden Gassen drängen sich spitzgiebelige Häuser.
Dem Wunsch, dort spazieren zu gehen, konnte er sich
nicht lange hingeben. „Woher kommst’?“, hörte er. Die Frage kam von einem
massigen Kerl. Dem stand sofort ein hündisches Grinsen im Gesicht, als sich die
Blicke begegneten. „Heiße Egbert, Cziflic, auch noch! Sag’ einfach Siff zu
mir“, sprudelte es ihm heraus.
„Ja gerne, warum auch nicht so kurz“, antwortete
Gandauer und meinte, dass das wieder einer sei, der mit seinem Namen nicht
zurechtkomme.
Cziflic hatte seine Frage an Gandauer nicht
vergessen, war näher gerückt und drang auf eine Reaktion, indem er Gandauer
immer wieder zunickte.
Gandauer reagierte nicht.
„Wie heißt eigentlich? Wo kommst her?“, bettelte
Cziflic.
Gandauer nannte schließlich seinen Namen und fügte an,
dass einer in seinem Alter von überallher, doch im Grunde aus dem Nirgendwo
komme. Er holte weiter aus, um Cziflic nicht wieder zu Wort kommen zu lassen:
Jeder vermute irgendwann im Leben, allerorts gewesen sein zu können. Wenn er
das nur gewollt hätte. Dass der Mensch am Ende allerdings doch das Gefühl nicht
mehr loswerde, dass er eigentlich nirgendwo war. Andererseits kämen einem auch
so viele Dinge bekannt vor. Und daraus mag es bei diesem und jenem zum Glauben
führen, schon mal ein Leben gehabt zu haben.
Cziflics Augen waren im Verhältnis zur wachsenden
Länge von Gandauers Vortrag größer geworden. Gandauer hatte sich allerdings
getäuscht, wenn er annahm, er habe Cziflic jetzt los. Der schien nämlich
Gandauer vorhin bei der Betrachtung des Stadtfreskos beobachtet zu haben. Er
deutete jetzt darauf und teilte mit, dass er dieses Nest ziemlich gut kenne.
Und zwar nicht nur vom Bild her. Das sie auch noch eine Kunst nennen, was er schon
ein paar Jahre anschauen müsse. „Ein ganz verdammtes Kaff“, ätzte Cziflic,
„auch wenn es sich jetzt Große Kreisstadt heißt!“ Gandauer hatte nur etwas mit
dem Kopf genickt. Cziflic spulte nun in einem berlinisch gesprenkelten
Schwäbisch-Bairisch einen Fetzen Lebensgeschichte ab, vom Scheppern und
Klappern des Speisegeräts untermalt: „Nach der Flucht, als wir rübergemacht
sind. Als Junge etliche Jahre mit Mutter gelebt. Vater hatte sich verkrümelt. In
dem nämlichen Ort gelandet. Mit jeder Menge Ami und Neger. Und auch die noch,
die KZ-Juden, wo gerade freigekommen waren. Dann die Schule. Die Klasse mit
sechzig Jungs proppenvoll. Und der Lehrer mit keim Haar aufm Koppe und der
Brille und mit dem Knüppel immer übers Kreuz und auf den Arsch. Dieser Kommunist,
den sie vergessen haben, nach Dachau zu treiben. Aber die Stadt mit keiner
einzigen Bombe abgekriegt. Und klar, weil da KZ war und der Ami nicht auch noch
von die Juden einen plattmachen wollten. Haben es dem Nazi überlassen. Da hat
sich KZ sogar noch irgendwie ausgezahlt für die Eingebornen. Und immer proper
alles. Wo ick doch auf der Reeperbahn vor jearbeit hab und so wat ...“
„Rübergemacht, eigentlich riberjemacht ausgesprochen“,
wollte sich Gandauer einbringen, „das ist eher aus dem deutschen Osten, Schlesien
zum Beispiel“.
„Hat ma hier so jesagt, wenn wer die Flüchtlinge
verafft hat. Weil die auch so gredt ham“, erinnerte sich Cziflic und ging von
diesem Gedanken dazu über, dass er sich gerade zu älteren Männern hingezogen
fühle. Gandauer war unwillkürlich eine Gesäßesbreite weggerückt und musterte
nun Cziflic von der Seite. Der fuhr unbekümmert fort, dass er „dajegen jar nix
machen kann.“ Er berichtete, dass er auch mal beim Klapsdoktor gewesen sei.
Warum, das wisse er heute noch nicht. Aber es sei auch egal, meinte er, die
bräuchten auch die Kohle von der Krankenkasse zum Leben. Die idiotischen
Fragen, die die stellten, seien ja auch irgendwie zum Lachen – „hinterher,
nicht wenn sie einen gerade in der Mange haben. Weil das in die Akte kommt, wo
eh so viel drinnesteht“. Mit bewegten Worten äußerte er dann die Vermutung,
dass es sich bei dieser Anziehung zu „die älteren Männern“ doch wohl, wie der
Weißkittel von der Klapse gesagt habe, um eine ausgewachsene Vatersuche handle
bei ihm, Cziflic, einem Kerl aus der Mülltonne – wie er sich selber einordnete.
Cziflic schien noch in Bekennerlaune. Da kam endlich
„Kartoffel mit Schweinebraten“, laut Speisenplan. Cziflic stürzte sich darauf,
belud seinen Teller und gabelte seinen Körpermassen geräuschvoll die erforderliche
Energie zu.
Gandauer
dachte, während er auch ein paar Bissen zu sich nahm, über die Beschwernisse
nach, die sich daraus ergeben könnten, sich in diesen beengten Verhältnissen
einen Vatersucher zugezogen zu haben. ...
Buchhalter Fischer befand sich im Krankenstand und
gerade bei der Lektüre der Tageszeitung. Er saß seit etwa einer halben Stunde
im stillsten Raum seiner Wohnung. Dort hielt er sich mit der Zeitung gerne auf.
Deswegen hatte er sich dieses meist vernachlässigte Separee sorgfältig
eingerichtet. Die Wand schmückten mehrere Aquarelle, der keramische Sitzplatz
war mit einer hölzernen Brille versehen. Den Boden veredelte ein kleiner
Perserteppich.
„Es ist eine Zumutung“, stöhnte Fischer und rückte
sich zurecht. „Es gibt anscheinend nichts Wichtigeres mehr in unserem Paradies
der Zipfelmützen als die Umbildung der Regierung. Als ob das Rumgeorgle
harmonischer zu machen wäre, wenn eine Pfeife ausgetauscht wird. Das sind doch
alles nur presseernannte Entscheidungseunuchen. Lahmes Diätengeschmeiß.
Die Beine schlafen mir ein. Ob es nicht irgendwo Sitze
mit breiteren Rändern gibt, vielleicht sogar gepolstert?
Die Zeitung beim Umblättern so reißen, dass es dieses
krasse Geräusch gibt. Wo sie in der Bahn immer alle aufgeschaut hatten. Da, wie
sie wieder alle alles einsacken! Da wurstelt ein Manager das Unternehmen in den
Ruin. Er kriegt am Ende den Goldenen Handschlag. Eine schöne Wortschöpfung. Die
Daseinsschlachten werden weiter vom Geldherrenhügel herab geführt. Mit diesen
Etappenfeiglingen von der Politik. Durch das Verheizen der paar Piepen der
kleinen Leute machen sie es sich warm im Gemüt.
Du musst mal zum Baumarkt gehen. Oder beim Tischler
maßfertigen lassen. Dein Sitzfleisch sollte dir diese Investition wert sein.
Die Straße da. Da ist ja ein Bild mit einer Lobeshymne
auf die gigantische technische Leistung. Da haben sie auf München zu schier
zehn Meter Berg abgetragen. Ein paar Kilometer weit. Um eine gerade Piste zu
kriegen. Sie wollen wie der liebe Gott in die Landschaft eingreifen mit ihren
Bulldozergehirnen! Steuergelder. Weg damit. In die Grube. Das erinnert mich
doch an mein Kaff. Wo sie es auch so gemacht hatten. Und dann den Leuten in die
Tasche griffen.
Dieses dein Land. Dieser Albtraum von Lächerlichkeit
und Verschwendung. Worin sich diese Pekunokratie inszeniert. Mit ihren
Hofnarren aus der Medienklamotte.
Das linke Bein ist taub. Mit ein bisschen Bewegung
kommt es wieder. Klobrillengymnastik.
Umblättern.
Witziger Kommentar. Manchmal versuchen sie es mit
Glosse und so. Ein Wagnis. Bei dem Humorverständnis der Gartenzwerge. Das Elend
deutscher Heiterkeit.
Das andere Bein ... Du hier in dieser deiner Luft. Mit
dieser Zeitung ...
Dann rumort es wieder ein paar Seiten weiter im Kanal.
Die braunen Ratten kriegen ihr Futter: klar, die Ausländer, die Fremden. Alles
in einem Topf. In einem Kopf. Asylanten. Gastarbeiter. Aussiedler. Alle wollen
unser Geld. Das brauchen sie gar nicht zu schreiben. Es reicht, wenn sie ganz
sachlich über den Aufwand berichten, den die Hereinströmenden fordern. Dann
wird in den Birnen ganz von selber der klauende Kanake draus. Weg damit. Egal
auf welche Weise!“
Fischer schien es gelungen zu sein, sich ein wenig zu
erleichtern. Er verließ jedenfalls sein stilles Örtchen mit einem guten Gefühl.
...
JVA für Ersttäter
„Hindenburgring“, stellte Gandauer fest. „Meine neue
Adresse. Wenn ich bedenke, dass der – ja, genau der! – in den Zwanzigern auch
hier einsaß! Der Führer, Menschenskind. Festungshaft, wie es hieß. Klingt
besser als Zuchthaus – und war für ihn tatsächlich auch eher Hotel. Geschichte
fliegt einen da an. Und was für eine! Die Gitter überall. Endstation?
Und das alles – wofür eigentlich? Gitter, wie grobmaschige Siebe. Gesiebte Luft,
gesiebtes Licht, ha? Ein unbürgerlicher Ort.“
Gandauer hatte die Sachen, die ihm bei der Aufnahme
ausgehändigt worden waren, noch in der Hand. „Neun Quadratmeter. Ich darf die
eigenen Kleidungsstücke anhaben, weil es Untersuchungshaft ist. Sogar eigenes
Essen könnte ich mir kommen lassen.
Dieses Schlüsselklappern dauernd. Die Uniformierten
hier.
Sonst ist alles eigentlich nur eher ein bisschen
ungewohnt.
Das Begrüßungsheft. Begrüßung!“, wunderte er sich.
„Die heute alle mit ihrem Bemühen. Humaner Strafvollzug!“ Aufnahme: Beim
Aufnahmebeamten in der Vollzugsgeschäftsstelle werden Ihre Personalien, die
Strafdauer u. a. festgehalten. Dort erhalten Sie Ihre Gefangenenbuchnummer,
Gb.-Nr., die Sie unbedingt bei allen Eingaben, Antragsscheinen und sonstigem
Schriftverkehr angeben müssen, weil sie zu Ihrer Identifizierung dient ... „Diese
Frage nach dem Namen beim Eintritt. Und ich drauf, dass ich mich des Namens
Gandauer bedient habe.“
Den Beamten hatte diese Formulierung irritiert. „...
sich des Namens bedient haben?“, wiederholte er nachdenklich. Er hatte Gandauer
fragend angeschaut. Er überlegte dabei vermutlich, ob er seine Neuaufnahme
nicht gleich ans Irrenhaus loswerden könne. Dann meinte er, dass es zu den ganz
wenigen angenehmen Seiten der Arbeit in diesem Zirkus hier gehöre, auch mal den
Auftritt eines Clowns zu erleben.
„Schreibzeug habe ich gekriegt. Was tun?“, fragte sich
Gandauer. „Habe Zeit. Nicht lange gefackelt und den Peters kontaktiert“, sein
Vorsatz. „Peters könnte von Nutzen sein, der alte Trittbrettfahrer. Vielleicht
sollte ich mich doch wieder zurückmelden bei ihm. Auch wenn es vielleicht
nichts nützt. Es ist zumindest Zeitvertreib, ihm Mitteilung zu machen.
Lieber Peters!
Unterfertigter schreibt Ihnen heute, um Ihnen zu
eröffnen, dass er noch unter den Lebenden weilt.
„So eine Formulierung!“, staunte Gandauer über sich
selber. „Der liebe Peters war eine von meinen Nullen. Es ist doch immer so:
Sobald einer etwas geworden ist, wenn er also etwas zählt, also eine Nummer
ist, da hängen sich gewissermaßen hinten von selber Nullen an“, spottete
Gandauer.
„Aber ruhig weiter in dem Ton, es ist nur für mich.
Wenigstens vorerst.“
Natürlich, davon bin ich weitestgehend überzeugt,
verehrter Peters, haben Sie sich Ihr unbestritten hohes humanistisches Niveau
zu denken und zu urteilen, eben Ihre geistige Kultur, über all die Unbilden der
Zeiten hinweg bewahrt. Sie werden zu meinem Bedauern natürlich versucht sein,
diese Kontaktaufnahme als ein Ansinnen und durchaus eine Zumutung zu empfinden.
Gewissermaßen nach solch langer Zeit und diesen ganzen Umständen der
Unerbittlichkeit der Zeitläufte. Ich bitte Sie jedoch um Geduld. Ich erlaube
mir, dessen nachgerade sicher zu sein, dass Sie mir Nachsicht angedeihen lassen
werden. Dies insbesondere mit Sicht auf die Ihnen hiermit zu eröffnende
Tatsache, dass meine
äußeren Daseinsbedingungen derzeit gewissen Einschränkungen unterliegen. ...
Der Inhalt
Die Bilder überspiegeln sich 7
Notizen des Zivildienstleistenden 14
JVA für Ersttäter 19
Einer im Krankenstand 27
Sterzinger, der Anwalt 31
Vom Knastalltag eingeholt 37
Gandauer erhält einen überraschenden
Besuch 44
Fischer schmeißt hin 48
Gedanken des etwas verstörten jungen Mannes 59
Der vitale Stummelstaat ist
40 61
Der Zivi hält fest 67
Hussl und das Päckchen 68
Kontaktvermerk des Zivis 79
Auf Tauchstation im Hochhaus 80
Angebote – und was einem durch den Kopf
geht 84
Ein unerwarteter Dialog 95
Um die Schuld – auch gegenüber Hedwig 97
Bericht Frank Sollers über seine erste
Aktivität 106
Recycling und das Innenleben 108
Seelenhirte in Aktion 111
Ringen um Gandauers Biografie 116
Hilda nimmt sich Franks erziehlich an 126
Diese traurige Grenze 128
Menschlichkeit und Menschheit 133
Frank Sollers völlig privates Geständnis 138
Die Spatzen – und die Gedanken fliegen weit 140
Bei der Fahrt nach oben 149
Hedwig aus der bürgerlichen Existenz 156
Davon loskommen wollen 169
Bergner, der Glaube und Mathilde Ludendorff 171
Vier Gäste, darunter ein Hund 180
Aktion Ringeltaube und gar nicht so viele Tote
183
Frank hält fest 193
„Sie historischer Schrebergärtner“ 195
Festhalten, um es loszuwerden 202
Lauter solche Sachen um dieses Gefühl 208
Und dem Unrecht an den Deutschen 212
So eine Zumutung 224
Parteifreunde und andere Feinde 226
Chaos der Erlebnisläufe 233
Rebekka und die Männer 237
Der Untergang einer Stadt 245
Die Stadt, das Dorf, die Flucht 254
Eine sonderbare Aussprache 260
Am Knastfenster 262
Vielgesichtigkeit 270
Ihr und die Politik 277
Strategiewechsel 285
Motive 237
Vor der Verhandlung – Hedwig in den USA 291
weg damit 302
Eine Leichenrede und die wahre
Identität 307
Touristen, Flüchtlinge und Asylanten 316
Eine Selbstbezichtigung 322
Über Dilettantismus der Lebensführung 323
Eine etwas ausgefallene Aktion 325
Vom Grauen erfasst 327
Es bewusst leben 335
Anmerkung 338