Gandauers Ankunft  

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Die Bilder überspiegeln sich

„Da ist ja noch Gandauer!“, stellte der junge Mann fest, als er in den Fernsehraum kam. Er blickte eine Weile auf den Bildschirm und war sich sicher, dass es noch dauern würde. So setzte er seinen Kontrollgang fort.

Nach einer Weile erschien er wieder. „Es geht auf Mitternacht zu, Herr Gandauer! Die Geisterstunde naht!“, witzelte er, um seine Mahnung freundlich abzurunden.

Es war keine Reaktion auszumachen. So setzte er sich etwas abseits, zog seinen Gallischen Krieg aus der Jackentasche und begann zu lesen. Cäsars Bezwingung der südlichen Belger hatte er erreicht. Er kam damit nicht weit. Das fade Flimmern des Fernsehers, unterlegt mit monotonen Geräuschen, schläferte ihn immer wieder ein. Das Buch klappte zu. Mit einem Ruck richtete er sich dann jedes Mal auf.

„Machen sie Schluss, Herr Gandauer. Sie sind ja auch todmüde!“, nörgelte er.

„Tod“, echote es matt herüber.

„Machen sie doch diesen Western weg!“, knurrte der Junge verärgert.

Er schien Gandauer nicht erreicht zu haben.

„Ich weiß gar nicht“, wurde er lauter, „was sie an dieser Viehtreibersoap finden!“

Er ließ es sein, nahm doch wieder das Buch zur Hand und rückte sich unter der Leselampe zurecht. „Es ist doch immer so“, sagte er sich nach einem Blick auf seinen Text. „Andere niedertrampeln. Obenauf sein. ... nach der Unterwerfung ganz Galliens ...“, las er. Er ließ das Buch auf die Knie sinken und schloss die Augen. „Wenn ich einschlafe, bin ich eben weggetaucht. Gandauer kommt ohne meine Aufsicht zurecht.“ Er schielte zur Fensterseite des Raums, wo der alte Mann saß. „Welke Figur“, überkam es ihn, „scheint fast verwachsen mit dem verschlissenen Backen­sessel. Gesamtkunstwerk“, lästerte er. „Gandauer hat zwar den Kopf dem Fernseher zugewandt“, stellte er noch fest, „scheint aber die Augen geschlossen zu haben. Na so was. Und ich kriege ihn hier nicht weg. Und der Apparat wirft Farben und Geräusche in das spärlich beleuchtete Zimmer. Es ist wie eine Lichtorgel“, malte er sich die Szene aus. „Jetzt quillt alles grellrot aus dem Kasten. Im Dämmer flimmert es wohl meinem Al­terchen durchs Hirn“, fantasierte er sich weiter: “Rot wie Blut. Das nun hier. Aus. Schluss. Gandauer! Überall Sand. Deine Sanduhr ist bald abgelaufen“, sinnierte er noch. „Eine von der Art ist sie, eine, die einer nicht mehr umdrehen kann. Damit es wieder von vorne losgeht ... Dem Gandauer tut das womöglich auf so eine selbstquälerische Weise schmerzlich wohl, was der Apparat da auswirft. Wenn er es denn überhaupt wahrnimmt. Und wie es sich ihm dann vielleicht über die Erinnerung schiebt und sich vermischt: Ich hänge hier im Sattel, könnte sich ihm da hineinspielen. Nach dem äußersten Einsatz und den vielen Gefahren! Mensch, Gandauer. Du hattest dich sicher auch total eingesetzt, damals in eurer tollen Zeit. Wie so viele von euch, viel zu viele, fast alle. Wenigstens im Kopf und mit dieser erhobenen Heil-Unheil-Hand. Die ganzen Gefahren. Ja, ja. Und der Durst jetzt in deiner Alterswüste. Wofür das alles? Es ist lachhaft! Die Zeit. Der viele Sand. Ihr hattet immerhin nicht weniger gewollt, als den neuen Menschen zu formen und mit ihm die ganze Zeit in den Händen zu haben! In euren Greiferklauen ... Und als ihr dann eure Hände betrachtet ...“ Der junge Mann ließ es sein. „Er ist vielleicht gar keiner von denen“, beruhigte er sich, „die wir heute verdächtigen. Allein ihres Alters wegen und der Zeitgenossenschaft ...“ ...

Notizen des Zivildienstleistenden

„Alle niedergeschlagen! Jetzt nur noch warten auf ein Versorgungsklingeln. Rumsitzen.

Vielleicht was Nützliches anfangen. Nur nicht lesen, da fallen mir zur Nachtzeit die Jalousien runter. Gibt es was zum Arbeiten? Ach ja, zum Aufarbeiten. Endlich damit beginnen! Okay, Schreibzeug her!“

Ich notiere angesichts der Umstände ...

„Na ja, nicht gar so gestelzt mir selber gegenüber! Wenn es auch noch so ungewohnt ist und dazu so plötzlich, dass ich damit beginne, Tagebuch zu führen. Wenn ich überhaupt damit fortfahre. Hier also nur einmal so etwas wie ein Erinnerungsprotokoll. Also ...“

Neulich im Stadtcafé gewesen. Die Tasse noch für einen schlanken Zwickel. Für einen mit meinen Möglichkeiten noch erschwinglich. Sie haben das dort nett eingerichtet. Ein bisschen Kunst an den Wänden. Zum Kaffee gibt es nach alter Art Wasser – ich blödle mir wieder etwas vor: ... weder Seife noch Handtuch dazu. Und ein paar Tische weiter saß mir ein Mädchen     gegenüber. Ich war allerdings erstaunt. Denn die etwa Siebzehnjährige hätte – nach der Ausrüstung neben sich – doch wohl eigentlich in der Schule sein sollen. Sie mochte gut einssiebzig sein, schätzte ich, als sie sich kurz erhob, um wohl zur Toilette zu gehen. Sie erschien wieder, ein wenig geschminkt, fiel mir jetzt auf. Ich nahm, zur eigenen Überraschung, ungeniert weiter Maß: Kräftige, eine von der lieben Natur gut gemodelte Figur.

 

Aber worauf lasse ich mich auch bei meiner Notiz wieder ein? Nachdem ich mich deswegen bereits im Café über mich selber gewundert hatte! Doch das war es ja im Grunde: Ich blickte immer wieder einmal zu ihr hinüber. Was die Begegnung, um die es sich bereits handeln mochte, nicht gerade neutralisierte.

„Ich werde den Stift jetzt weglegen, um Abstand zu gewinnen!“, bestimmte er sich.

Nach etlichen Kontrollgängen sah er ein, dass er vor etwas davonlief. Die Erinnerung ließ ihn nämlich nicht los. „Dieses Mädchen ist mir schier eine Erscheinung“, jammerte er sich vor. Er wollte sich sofort von diesem Eindruck befreien, dass nämlich so etwas wie Erscheinung doch dem Jenseitigen vorbehalten bleiben müsse und nicht etwa dem Auftauchen einer so irdischen Figur einzuräumen sei. „Eine solche Formel genügt dagegen nicht, um diese tiefere Regung, die bei mir zweifellos im Spiel ist, zu beherrschen!“, war ihm klar. „Ich muss mich eben diesem Ereignis, dem mit diesem Gefühl quasi Leben eingehaucht worden war, weiter widmen“, war er überzeugt. „Männlich mich diesem Eindruck von Weib stellen“, witzelte er sich hinterher. „Denn nur eine Auseinandersetzung“, war er überzeugt, „mit dieser Begegnung biete eine angemessene Möglichkeit zur Aufarbeitung. Also ...“

Das mutmaßliche Schulmädchen hatte mein – nun ja! – wiederholtes Auf-sie-Blicken vermutlich fehlgedeutet. Es fing an ... Und das doch ganz unverhohlen ... Ja doch! Ich muss es mir eingestehen! Das Mädchen begann, mit mir zu flirten: Augenzwinkern; ein in die Mundwinkel huschendes Lächeln; mit dem Finger dieses Haarschüppeldrehen. Um das die Psychologen wissen wollen, dass es eine Vertrauensspiegelung darstelle.

Vielleicht ist mir ein, wenn auch verklemmtes Grinsen übers Gesicht gezuckt. Ich hatte jedenfalls bald das Gefühl, dass da etwas, wie es heißt, gefunkt hatte. Löst ein solches Erlebnis sicher bei vielen Wonne aus ... – bei den normalen ... oder besser gewöhnlichen Menschen ... Ich gestehe mir hier – auf dem Papier ... Quatsch beiseite: Ich war eher schockiert – entblödete mich hingegen beim Hinausgehen nicht, nicht bei mir dann selber Maß zu nehmen: Im Spiegel einzuschätzen, ob meine Einsachtzig und mein kurz geschnittenes Blond zu ihrem streng in so was wie einem Knoten mündendem Brünett passen würde. Ich bekenne mir hiermit selber, mich dieser Dummheit zu schämen. Ich schreibe es in der Hoffnung nieder, mich davon einigermaßen befreien zu können. Eine Übung, ähnlich der des biblischen Sündenbockes, dem sie auch ihre notierten Probleme um den Hals gebunden haben sollen, bevor sie ihn in die Wüste jagten. Damit hätte es eigentlich sein Bewenden haben können. Diese Begegnung wäre als ein einmaliges Geschehen allmählich in hoffentlich blasse Erinnerung geraten.

Ich würde das alles eigentlich nicht notieren (müssen). Wäre nicht etwa einen Monat nach diesem zufälligen Treffen im Café dieses Mädchen plötzlich im Altenheim an mir vorbeigehuscht. ...

Vom Knastalltag eingeholt

Beim Betreten des Speisesaals blieb Gandauer kurz stehen und blickte umher, bevor er sich auf einen Platz begab. Das Essen dauerte noch etwas. Sein Blick ging zum Fenster hinaus und fiel dann auf das ihm bereits vertraute Bild einer alten Stadt, das an einer Seite großflächig auf den Putz gemalt war: Ein alter Torturm vor einer Häuserzeile, in den zu beiden Seiten von ihm wegführenden Gassen drängen sich spitzgiebelige Häuser.

Dem Wunsch, dort spazieren zu gehen, konnte er sich nicht lange hingeben. „Woher kommst’?“, hörte er. Die Frage kam von einem massigen Kerl. Dem stand sofort ein hündisches Grinsen im Gesicht, als sich die Blicke begegneten. „Heiße Egbert, Cziflic, auch noch! Sag’ einfach Siff zu mir“, sprudelte es ihm heraus.

„Ja gerne, warum auch nicht so kurz“, antwortete Gandauer und meinte, dass das wieder einer sei, der mit seinem Namen nicht zurechtkomme.

 Cziflic hatte seine Frage an Gandauer nicht vergessen, war näher gerückt und drang auf eine Reaktion, indem er Gandauer immer wieder zunickte.

Gandauer reagierte nicht.

„Wie heißt eigentlich? Wo kommst her?“, bettelte Cziflic.

Gandauer nannte schließlich seinen Namen und fügte an, dass einer in seinem Alter von überallher, doch im Grunde aus dem Nirgendwo komme. Er holte weiter aus, um Cziflic nicht wieder zu Wort kommen zu lassen: Jeder vermute irgendwann im Leben, allerorts gewesen sein zu können. Wenn er das nur gewollt hätte. Dass der Mensch am Ende allerdings doch das Gefühl nicht mehr loswerde, dass er eigentlich nirgendwo war. Andererseits kämen einem auch so viele Dinge bekannt vor. Und daraus mag es bei diesem und jenem zum Glauben führen, schon mal ein Leben gehabt zu haben.

Cziflics Augen waren im Verhältnis zur wachsenden Länge von Gandauers Vortrag größer geworden. Gandauer hatte sich allerdings getäuscht, wenn er annahm, er habe Cziflic jetzt los. Der schien nämlich Gandauer vorhin bei der Betrachtung des Stadtfreskos beobachtet zu haben. Er deutete jetzt darauf und teilte mit, dass er dieses Nest ziemlich gut kenne. Und zwar nicht nur vom Bild her. Das sie auch noch eine Kunst nennen, was er schon ein paar Jahre anschauen müsse. „Ein ganz verdammtes Kaff“, ätzte Cziflic, „auch wenn es sich jetzt Große Kreisstadt heißt!“ Gandauer hatte nur etwas mit dem Kopf genickt. Cziflic spulte nun in einem berlinisch gesprenkelten Schwäbisch-Bairisch einen Fetzen Lebensgeschichte ab, vom Scheppern und Klappern des Speisegeräts untermalt: „Nach der Flucht, als wir rübergemacht sind. Als Junge etliche Jahre mit Mutter gelebt. Vater hatte sich verkrümelt. In dem nämlichen Ort gelandet. Mit jeder Menge Ami und Neger. Und auch die noch, die KZ-Juden, wo gerade freigekommen waren. Dann die Schule. Die Klasse mit sechzig Jungs proppenvoll. Und der Lehrer mit keim Haar aufm Koppe und der Brille und mit dem Knüppel immer übers Kreuz und auf den Arsch. Dieser Kommunist, den sie vergessen haben, nach Dachau zu treiben. Aber die Stadt mit keiner einzigen Bombe abgekriegt. Und klar, weil da KZ war und der Ami nicht auch noch von die Juden einen plattmachen wollten. Haben es dem Nazi überlassen. Da hat sich KZ sogar noch irgendwie ausgezahlt für die Eingebornen. Und immer proper alles. Wo ick doch auf der Reeperbahn vor jearbeit hab und so wat ...“

„Rübergemacht, eigentlich riberjemacht ausgesprochen“, wollte sich Gandauer einbringen, „das ist eher aus dem deutschen Osten, Schlesien zum Beispiel“.

„Hat ma hier so jesagt, wenn wer die Flüchtlinge verafft hat. Weil die auch so gredt ham“, erinnerte sich Cziflic und ging von diesem Gedanken dazu über, dass er sich gerade zu älteren Männern hingezogen fühle. Gandauer war unwillkürlich eine Gesäßesbreite weggerückt und musterte nun Cziflic von der Seite. Der fuhr unbekümmert fort, dass er „dajegen jar nix machen kann.“ Er berichtete, dass er auch mal beim Klapsdoktor gewesen sei. Warum, das wisse er heute noch nicht. Aber es sei auch egal, meinte er, die bräuchten auch die Kohle von der Krankenkasse zum Leben. Die idiotischen Fragen, die die stellten, seien ja auch irgendwie zum Lachen – „hinterher, nicht wenn sie einen gerade in der Mange haben. Weil das in die Akte kommt, wo eh so viel drinnesteht“. Mit bewegten Worten äußerte er dann die Vermutung, dass es sich bei dieser Anziehung zu „die älteren Männern“ doch wohl, wie der Weißkittel von der Klapse gesagt habe, um eine ausgewachsene Vatersuche handle bei ihm, Cziflic, einem Kerl aus der Mülltonne – wie er sich selber einordnete.

Cziflic schien noch in Bekennerlaune. Da kam endlich „Kartoffel mit Schweinebraten“, laut Speisenplan. Cziflic stürzte sich darauf, belud seinen Teller und gabelte seinen Körpermassen geräuschvoll die erforderliche Energie zu.

Gandauer dachte, während er auch ein paar Bissen zu sich nahm, über die Beschwernisse nach, die sich daraus ergeben könnten, sich in diesen beengten Verhältnissen einen Vatersucher zugezogen zu haben. ...

Einer im Krankenstand

Buchhalter Fischer befand sich im Krankenstand und gerade bei der Lektüre der Tageszeitung. Er saß seit etwa einer halben Stunde im stillsten Raum seiner Wohnung. Dort hielt er sich mit der Zeitung gerne auf. Deswegen hatte er sich dieses meist vernachlässigte Separee sorgfältig eingerichtet. Die Wand schmückten mehrere Aquarelle, der keramische Sitzplatz war mit einer hölzernen Brille versehen. Den Boden veredelte ein kleiner Perserteppich.

„Es ist eine Zumutung“, stöhnte Fischer und rückte sich zurecht. „Es gibt anscheinend nichts Wichtigeres mehr in unserem Paradies der Zipfelmützen als die Umbildung der Regierung. Als ob das Rumgeorgle harmonischer zu machen wäre, wenn eine Pfeife ausgetauscht wird. Das sind doch alles nur presseernannte Entscheidungseunuchen. Lahmes Diätengeschmeiß.

Die Beine schlafen mir ein. Ob es nicht irgendwo Sitze mit breiteren Rändern gibt, vielleicht sogar gepolstert?

Die Zeitung beim Umblättern so reißen, dass es dieses krasse Geräusch gibt. Wo sie in der Bahn immer alle aufgeschaut hatten. Da, wie sie wieder alle alles einsacken! Da wurstelt ein Manager das Unternehmen in den Ruin. Er kriegt am Ende den Goldenen Handschlag. Eine schöne Wortschöpfung. Die Daseinsschlachten werden weiter vom Geldherrenhügel herab geführt. Mit diesen Etappenfeiglingen von der Politik. Durch das Verheizen der paar Piepen der kleinen Leute machen sie es sich warm im Gemüt.

Du musst mal zum Baumarkt gehen. Oder beim Tischler maßfertigen lassen. Dein Sitzfleisch sollte dir diese Investition wert sein.

Die Straße da. Da ist ja ein Bild mit einer Lobeshymne auf die gigantische technische Leistung. Da haben sie auf München zu schier zehn Meter Berg abgetragen. Ein paar Kilometer weit. Um eine gerade Piste zu kriegen. Sie wollen wie der liebe Gott in die Landschaft eingreifen mit ihren Bulldozergehirnen! Steuergelder. Weg damit. In die Grube. Das erinnert mich doch an mein Kaff. Wo sie es auch so gemacht hatten. Und dann den Leuten in die Tasche griffen.

Dieses dein Land. Dieser Albtraum von Lächerlichkeit und Verschwendung. Worin sich diese Pekunokratie inszeniert. Mit ihren Hofnarren aus der Medienklamotte.

Das linke Bein ist taub. Mit ein bisschen Bewegung kommt es wieder. Klobrillengymnastik.

Umblättern.

Witziger Kommentar. Manchmal versuchen sie es mit Glosse und so. Ein Wagnis. Bei dem Humorverständnis der Gartenzwerge. Das Elend deutscher Heiterkeit.

Das andere Bein ... Du hier in dieser deiner Luft. Mit dieser Zeitung ... 

Dann rumort es wieder ein paar Seiten weiter im Kanal. Die braunen Ratten kriegen ihr Futter: klar, die Ausländer, die Fremden. Alles in einem Topf. In einem Kopf. Asylanten. Gastarbeiter. Aussiedler. Alle wollen unser Geld. Das brauchen sie gar nicht zu schreiben. Es reicht, wenn sie ganz sachlich über den Aufwand berichten, den die Hereinströmenden fordern. Dann wird in den Birnen ganz von selber der klauende Kanake draus. Weg damit. Egal auf welche Weise!“

Fischer schien es gelungen zu sein, sich ein wenig zu erleichtern. Er verließ jedenfalls sein stilles Örtchen mit einem guten Gefühl. ...

JVA für Ersttäter

„Hindenburgring“, stellte Gandauer fest. „Meine neue Adresse. Wenn ich bedenke, dass der – ja, genau der! – in den Zwanzigern auch hier einsaß! Der Führer, Menschenskind. Festungshaft, wie es hieß. Klingt besser als Zuchthaus – und war für ihn tatsächlich auch eher Hotel. Geschichte fliegt einen da an. Und was für eine! Die Gitter überall. Endstation? Und das alles – wofür eigentlich? Gitter, wie grobmaschige Siebe. Gesiebte Luft, gesiebtes Licht, ha? Ein unbürgerlicher Ort.“

Gandauer hatte die Sachen, die ihm bei der Aufnahme ausgehändigt worden waren, noch in der Hand. „Neun Quadratmeter. Ich darf die eigenen Kleidungsstücke anhaben, weil es Untersuchungshaft ist. Sogar eigenes Essen könnte ich mir kommen lassen.

Dieses Schlüsselklappern dauernd. Die Uniformierten hier.

Sonst ist alles eigentlich nur eher ein bisschen ungewohnt.

Das Begrüßungsheft. Begrüßung!“, wunderte er sich. „Die heute alle mit ihrem Bemühen. Humaner Strafvollzug!“ Aufnahme: Beim Aufnahmebeamten in der Vollzugsgeschäftsstelle werden Ihre Personalien, die Strafdauer u. a. festgehalten. Dort erhalten Sie Ihre Gefangenenbuchnummer, Gb.-Nr., die Sie unbedingt bei allen Eingaben, Antragsscheinen und sonstigem Schriftverkehr angeben müssen, weil sie zu Ihrer Identifizierung dient ... „Diese Frage nach dem Namen beim Eintritt. Und ich drauf, dass ich mich des Namens Gandauer bedient habe.“

Den Beamten hatte diese Formulierung irritiert. „... sich des Namens bedient haben?“, wiederholte er nachdenklich. Er hatte Gandauer fragend angeschaut. Er überlegte dabei vermutlich, ob er seine Neuaufnahme nicht gleich ans Irrenhaus loswerden könne. Dann meinte er, dass es zu den ganz wenigen angenehmen Seiten der Arbeit in diesem Zirkus hier gehöre, auch mal den Auftritt eines Clowns zu erleben.

„Schreibzeug habe ich gekriegt. Was tun?“, fragte sich Gandauer. „Habe Zeit. Nicht lange gefackelt und den Peters kontaktiert“, sein Vorsatz. „Peters könnte von Nutzen sein, der alte Trittbrettfahrer. Vielleicht sollte ich mich doch wieder zurückmelden bei ihm. Auch wenn es vielleicht nichts nützt. Es ist zumindest Zeitvertreib, ihm Mitteilung zu machen.

Lieber Peters!

Unterfertigter schreibt Ihnen heute, um Ihnen zu eröffnen, dass er noch unter den Lebenden weilt.

„So eine Formulierung!“, staunte Gandauer über sich selber. „Der liebe Peters war eine von meinen Nullen. Es ist doch immer so: Sobald einer etwas geworden ist, wenn er also etwas zählt, also eine Nummer ist, da hängen sich gewissermaßen hinten von selber Nullen an“, spottete Gandauer.

„Aber ruhig weiter in dem Ton, es ist nur für mich. Wenigstens vorerst.“

Natürlich, davon bin ich weitestgehend überzeugt, verehrter Peters, haben Sie sich Ihr unbestritten hohes humanistisches Niveau zu denken und zu urteilen, eben Ihre geistige Kultur, über all die Unbilden der Zeiten hinweg bewahrt. Sie werden zu meinem Bedauern natürlich versucht sein, diese Kontaktaufnahme als ein Ansinnen und durchaus eine Zumutung zu empfinden. Gewissermaßen nach solch langer Zeit und diesen ganzen Umständen der Unerbittlichkeit der Zeitläufte. Ich bitte Sie jedoch um Geduld. Ich erlaube mir, dessen nachgerade sicher zu sein, dass Sie mir Nachsicht angedeihen lassen werden. Dies insbesondere mit Sicht auf die Ihnen hiermit zu eröffnende Tatsache, dass meine äußeren Daseinsbedingungen derzeit gewissen Einschränkungen unterliegen. ...

 

Der Inhalt

Die Bilder überspiegeln sich    7

Notizen des Zivildienstleistenden    14

JVA für Ersttäter 19

Einer im Krankenstand   27 

Sterzinger, der Anwalt   31

Vom Knastalltag eingeholt  37

Gandauer erhält einen überraschenden Besuch  44

Fischer schmeißt hin  48

Gedanken des etwas verstörten jungen Mannes 59

Der vitale Stummelstaat ist 40      61

Der Zivi hält fest   67

Hussl und das Päckchen  68

Kontaktvermerk des Zivis  79

Auf Tauchstation im Hochhaus  80

Angebote – und was einem durch den Kopf geht  84

Ein unerwarteter Dialog   95

Um die Schuld – auch gegenüber Hedwig  97

Bericht Frank Sollers über seine erste Aktivität  106

Recycling und das Innenleben  108

Seelenhirte in Aktion   111

Ringen um Gandauers Biografie  116

Hilda nimmt sich Franks erziehlich an 126

Diese traurige Grenze 128

Menschlichkeit und Menschheit  133

Frank Sollers völlig privates Geständnis 138

Die Spatzen – und die Gedanken fliegen weit 140

Bei der Fahrt nach oben  149

Hedwig aus der bürgerlichen Existenz  156

Davon loskommen wollen  169

Bergner, der Glaube und Mathilde Ludendorff  171

Vier Gäste, darunter ein Hund 180

Aktion Ringeltaube und gar nicht so viele Tote  183

Frank hält fest  193

„Sie historischer Schrebergärtner“  195

Festhalten, um es loszuwerden  202

Lauter solche Sachen um dieses Gefühl  208

Und dem Unrecht an den Deutschen  212

So eine Zumutung  224

Parteifreunde und andere Feinde  226

Chaos der Erlebnisläufe  233

Rebekka und die Männer  237

Der Untergang einer Stadt   245

Die Stadt, das Dorf, die Flucht  254

Eine sonderbare Aussprache  260

Am Knastfenster  262

Vielgesichtigkeit   270

Ihr und die Politik  277

Strategiewechsel   285

Motive  237

Vor der Verhandlung – Hedwig in den USA  291

weg damit  302

Eine Leichenrede und die wahre Identität  307

Touristen, Flüchtlinge und Asylanten 316

Eine Selbstbezichtigung  322

Über Dilettantismus der Lebensführung  323

Eine etwas ausgefallene Aktion  325

Vom Grauen erfasst  327

Es bewusst leben  335

Anmerkung   338