Zeitennehmer, der Stimmenhörer

Inhalt

erstes Buch.......................................... 3

Zu schreiben, das ist die bedeutendste Art zu schweigen    4

Versuch einer Rekonstruktion: Begegnung mit Karl 36

Wer der Wirklichkeit in die Seifenoper entfliehen will, macht doch nur den Deckel zu und will nicht spülen............................................................................. 121

Ein Vorfall etwa Ende der achtziger Jahre – Dittls Bilder und die Folgen    133

Wir sind eigentlich alle Irre – und sehen das aber nur an den Anderen      195

Gib den Anderen keine Macht über dich, indem du (zu sehr) auf sie eingehst       333

Wenn du sagst, was du willst, kriegst du selten, was du brauchst   338

zweites Buch................................. 426

Toms Auferstehung............................................ 426

 

 

 "... damit sich auch auf unserem widerspenstigen Planeten die wesentliche Aufgabe des Weltalls erfülle, das dazu da ist, Götter hervorzubringen."                                                                                       

Henri Bergson

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erstes Buch

 

Komödie einer Spaltung

Zu schreiben,

das ist die bedeutendste Art zu schweigen

 

   Sterne blitzten im Dunkel. Das Kreisen im Kopf war dann allmählich langsamer geworden.

   Nun dämmert es dir, Tom, alter Junge. Die Sache da am Schreibtisch in deiner Redaktion wird dir lang­­­­­­sam klar: Außer dir war ja niemand mehr da. Dann aber Geräusche im Gang. Wie Marschtritt. Gleich tauchten zwei Gestalten auf. Sie bauten sich vor dir auf und kamen sofort zur Sache. Fotografi­en wollten sie, die von neulich.    

   Aber sonst braucht ihr nichts, Männer?, wolltest du noch auf cool machen. Da waren jedoch die Fäus­te von dem einen, groß wie Vorschlaghämmer. Du hast dein Grinsen sofort aus dem Gesicht genommen. Welche Fotos, bitte? Ach so, solche von diesem Brand da in der Nobelherberge – wie hieß der Bonze gleich noch, bei dem dieses Feuerwerk abging?, wolltest du Abstand markieren. Ach so ja: Mentenheim ... 

   Die Schläger hatten vermutlich kein Verständnis für Späßchen. Sie fingen gleich an zu arbeiten. An dir. Auf ihre barbarische Art.

   Die haben dich zerlegt, Tom. Da sprichst du jetzt mit dir, als ob du dir selber außen vor wärst. Es tut aber doch irgendwie gut. So als wollte es heilen, nach­dem was weggeschnitten worden war. Sich sel­­­­­ber anlabern. Du sprichst eben mit dir. Wo ja sonst eh keiner ist, mit dem du zu reden hättest. Sprichst mit dir wie mit einem anderen, den du gar nicht so richtig kennst. Du tastest an dir herum, wie um zu fühlen, ob du dir nicht auch körperlich abhan­denkamst. Da merkst du, dass du richtig eingewickelt bist. Und verpflastert. Überall. Sie haben dich in dieser Heilwerkstatt schon wie eine Mu­­­mie zurechtgemacht. Dieser Eindruck ist auch gleich da. Dass du aus deiner Konserve rausglotzt. Dass du dann irre wieder auf dich zurückgaffst. Oder so ähnlich. Auf dich starrst, noch dazu mit irgendwie weit aufgerissenem Auge. Mit innerem Auge, versteht sich.

   Was dir so alles kommt, wenn du nicht mehr aus­weichen kannst. Wenn du dir nicht mehr davonlaufen kannst. Du schwebst ja richtig über dir. Wie es sein soll, wenn man seinen Kratzfuß gemacht hat. Dass man da für eine Weile über seinem Kadaver flattert.

   So liegst du die ganze Zeit. Wie lange schon? Du klärst das nicht. Die schiere Frage befriedigt bereits, weil sie die Tür offenhält. Wie dich immer alles Ungelöste angetörnt hat mit seinem Verste­cken­spiel. So ist das Leben, gönnst du dir. Ungeklärt. Bis zuletzt.

   Dann reißen sie die Tür auf. Du siehst, wie sie ein Bett reinkarren. Eine frische Bandscheibe, hat der Weißkittel zu dir hin gesagt. Er parkt das Bett ein. Er macht es linkisch wie ein Fahrschüler. Er misst mit Blicken immer wieder den Abstand. Rangiert herum. Du versuchst dich abzulenken. Du glotzt an die Decke.

   Jetzt hat er aufgehört.

   Schön wach bleiben, Opa Sänger!, hast du gehört. Und zu dir hin: Ein bissel aufpassen, Herr Nachbar! Ja? Dieser Herr hier will nämlich wieder in Richtung Nirwana. Dann bleibt er uns womöglich für im­­mer dort.

   Der Pfleger tätschelt Sänger die Wange.

   Der Alte starrt ins Leere.

   Kaum ist der Pfleger draußen, ist die frische OP wieder weggetaucht. Tiefes Atmen.

Wenn es ihm wohltut, denkst du. Du bist kein Aufpasser, sagst du dir. Schlafen ist allemal gut. Wenn alles weg ist. Bis auf den Müll vom Tag und was sich da abfilmt. Ja, höchstens träumen.

   Sein tiefer Atem. Ein Rasseln jetzt. Dazwischen ein steiles Auflärmen. Du fährst zusammen. Es hallt von den Wänden. Da fällt dir die Nacktheit der Wände hier erst so richtig auf. Die paar winzigen Bilder richten dagegen nichts aus. Das Kruzifix über der Tür hält deine Blicke für Momen­te gefangen. Du wartest auf einen Gedanken dazu. Da kommt aber nichts. Mensch, fährt es dir durch den Kopf, nicht auch das noch: Irgendwann mal Blicke, denen keine Gedanken mehr folgen – und schöne Grüße dann von Dok­tor Alzheimer. Das laute Auffahren des Alten reißt dich davon weg. Dann sein Aussetzer. Fast ist es im Rhythmus: Aufbäumen, Absturz, Aufbäumen. Du wartest jetzt richtig darauf, dass der Alte wegbleibt, ertappst du dich. Da, ein leises Kollern. Neben einem liegen, wie er sich davonmacht. Wohin?, schaudert es dich richtig. Da­bei streift dein Blick wieder das Kruzifix. Da reißt dich ein pralles Schnarchen aus deiner Ratlosigkeit. Du erschrickst. Rapide anschwellend der Lärm. Aggressiv. Dann stürzt es ab. Du hältst den Atem an.

Totenstille. Lässt du ihn abschrammen? Plötzlich wieder ein Sägen.

Noch mal dieses jähe Ansteigen. Das sich gleich in einem Stöhnen entlädt. Warten, wie es weitergeht. Du meidest den Kruzifixblick. Da ist es wieder. Es reißt dich. Vielleicht kriegt er doch noch die Kurve zu seinem Abgang. Du wirst nicht Alarm schlagen. Was kann man dir anhängen? Da ist aber gleich sein Lärmen. Es schwillt zu diesem dröhnenden Rö­­cheln an. Ein Schrei der Gurgel nach Leben, dass es wi­der­hallt. Aus. Es ist eine ganze Weile so ein Spiel. Dieses Pokern mit dem Tod. Ein Prickeln läuft dir über den Rücken. Wenn du ihn verenden lässt. Du als Mörder. Dann gehörst du auch zu den vielen Alltagskillern. Denen man es nicht nachweisen kann. Dass sie Menschen auf dem Gewissen haben. Die sie auch zu Tode gebracht und allein mit ihrer Feigheit – und noch bequemer mit ihrer Untätigkeit, Faulheit, ihrem Wegsehen umgebracht haben. Ein perfekter Mord!, denkst du im Spektakel, den der Alte gerade wieder macht. Dass du eigentlich doch auch so ein feiger Hund bist.

   Jetzt ist Ruhe. Du hast es sowieso satt. Dein Kopf. Der verdammte Schädel. Du hörst ein Murmeln neben dir. Das wird deutlicher, da hörst du hin. Der Alte ist anscheinend noch in seinem Narkoserausch. Wie du genau hinhörst, kriegst du mit, dass er da wohl einen Hitler heilen will und dann auch noch einen Sieg: Sieg heil. Das eine ganze Weile so. Na ja, denkst du dann, wenn schon, gön­ne ihm seinen seelischen Stuhlgang.

   Der Kopf brummt dir unterm Verband. Das linke Auge tickt dazu. Ein irres Konzert in der Birne. Man könnte lachen. Wenn das nicht wieder Terror mach­te.

   Anderntags ist dein Gespensterheiler hell wach. Da war das fernöstliche Putzmädchen. Das hat bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlassen, den er dir jetzt vermitteln will. Die hätte noch Platz in seinem Bett, hat er gemeint. Ein bisschen was müsste bei ihm ja noch drin sein, ist er richtig aufgekratzt. So wie sie es jetzt im Film immer bringen. Weil das Fernsehen immer dreckiger wird, hat er geschimpft. Du wunderst dich noch darüber. Da hast du von ihm gleich was von moralischer Zersetzung gehört und dass alles dem Verfall entgegengehe: Weil die ganzen Schwu­len aus ihren Lasterhöhlen hervorkriechen würden und Kanaken aus aller Welt sich hier rumtrieben bei uns und dass alles verrasse und dass es das früher nicht gegeben habe.

   Bei eurem tollen Führer mit seiner Wahnsinnstruppe!, ist dir da rausgerutscht.

   Er hat nichts mehr gesagt. Du warst überzeugt, ihm ordentlich eins gegeben zu haben.

   Es hat jedoch nicht lange gedauert, da ist der Alte wieder da gewesen. Er hat dir mitgeteilt, dass er sich vorgenommen habe, bei dem Mädchen irgend­wann ordentlich hinzugreifen. Als er dann seine Kno­chenhand hebt, wie um es zu beschwören, da fällt dir ein: Der Tod und das Mädchen – dieses Ge­­dicht. Schuberts ergreifende Melodie dazu ...

   Er hat nachgesetzt: Wenn sie ihm bloß in die Nä­he kom­me ...

   So ein Tonfall, denkst du noch. Es hat ja sogar ir­gendwie nach Sehnsucht geklungen, wie er das brach­­te. Ob so einer zu so einem Gefühl überhaupt fähig ist?, fragst du dich. Es war vermutlich nur deine Poesie. Du entscheidest dich dann für dirty old man.

    Im Altersheim erfährst du, im Altenheim, das sie jetzt Seniorenresidenz nennen, weil ihnen das Alter Angst macht. Und alles muss so überspannt klingen. Wenn einer alt ist, da ist er nicht mehr so dicht. Sänger atmet tief durch. Wenn du da mal nach einer gegriffen hast von den jun­gen Dingern von der Pflegetruppe, hörst du, da haben sie dann immer sofort nach deiner Hand geschlagen.

    Keinen Respekt mehr!, schleimst du – und lachst in dich hinein.

    Rotzjunge Dinger!, hat er sich aufgeregt. Man solle sich das nur mal vorstellen. Die lassen sich nichts mehr gefallen! Ihr Kerle heute könnt einem allesamt leidtun.

   Ein schönes Durcheinander, Meister!, hast du geschimpft. Das mit den Weibern, den Kanaken und dem Spaß! Du setzt allerdings lachend nach, dass das so ist im Leben, nämlich dass es ein ständiges Durch­­einander ist mit allem.

   Im Leben!, hat es von nebenan geechot. Angst haben vor dem Abkratzen! Eine ganz feige Bande, heute, ihr alle! Wenn unsereiner Angst gehabt hät­te! Du lieber Gott! Wo man in Russland war mit der Wehrmacht – ein schönes, verfluchtes Land! Was ha­ben die jetzt für einen Saustall nach ihrem Kommunismus? Verbrechen und nichts zum Fressen und dazwischen stinkreiche Schieber. Das hat der Amerikaner falsch gemacht. Dass er dem Russen geholfen hat und diesen jüdischen Bolschewisten. Der Deutsche hätte aus den fetten Böden in Russ­land ein Paradies gemacht. Dem Russen hätten wir das Arbeiten ordentlich beigebracht.

   So ein Schote!, denkst du. Womit man im Jiddischen ei­nen Narren bezeichnet, fällt dir ein. Du beschweigst aber dein Staunen, spielst lieber noch mit den Worten, ob das, was er da brachte, auch eine Schote war – wie sie heute eine irre Story nennen.

   Irgendwann pflanzt sich der Polizist an deinem Bett auf. Er hat so etwas wie einen Gruß heruntergeschnarrt, gefolgt von der Aufforderung, nähere Einzelheiten darzustellen. Er hat seinen Schreibblock gezückt wie eine Waffe, kommt es dir vor.

   Dass sie von zwei Männern tätlich angegriffen sein wollen, hat dir der Polizist eröffnet, die von ih­nen einen Film verlangt hätten, ist mir bereits bekannt. Aber das mit dem Film erklären Sie näher! Was war da drauf?, hat er gefragt.

    Lediglich was von dem Brand da in dem Schloss neulich.

    Scheint Sie ja ziemlich kalt zu lassen, diese hei­ße Tragödie!, tut der Polizist enttäuscht. Aber da sieht man es ja wieder, was ihr von der Zeitung für Typen seid.

    Ruhig bleiben, hast du dir gesagt und weitergemacht: Aber immerhin bloß um dieses Feuerwerk da bei Mentenheim ging das auf meinen Filmen. Wo sich ja auch die vereinigte Uniformiertheit ver­sam­melt hatte, Feuerwehr, Polizei – und Trachtler, lachst du hinterher, dass es dich wieder sticht unter deiner Hülle.

    Lassen Sie das!, hat er dich angefahren – und weitergeforscht: Um wie viel Uhr genau sind die Schläger erschienen?

    Die mutmaßlichen Schläger, hast du ihn belehrt. Und als er die Stirn in Falten hatte und mit irgend­was loslegen wollte, hast du schnell nachgeschoben: Was glauben Sie, was die Zeitung immer Ärger kriegt von wegen Vorverurteilung, wenn wir uns im gerichtlichen Vorfeld nicht so extrem zurückhaltend der textlichen Mutmaßlichkeit befleißigen!

    Er hat nur abgewinkt.

    Fünf nach drei viertel elf Uhr, so ungefähr, in der Nacht.

   Geht's nicht noch ein bisschen ungefährer?, hat er genörgelt. Wie sahen ihre mutmaßlichen Täter aus?

   Zwei Kleiderschränke.

   Präziser!

   Präzisionskleiderschränke, hättest du am liebsten geantwortet, hast dir aber den Kalauer verkniffen und gesagt: Einsneunzig so etwa, einer etwas kleiner.

   Weiter!, fordert er, während er etwas auf sein Papier kritzelt.

   Einer mit einem roten Bart. Der andere glatt im Gesicht und kahl auf der Birne. So etwas von Speck­glanz rundum, das glauben Sie gar nicht, da hätte man das Licht ausmachen können und diese Platte hätte noch die Bude ausgeleuchtet ...

    Schluss damit!, hat er sich aufgeregt. Wie soll ich so was zu Protokoll bringen? – Reflektierende Kopfhaut? Er freute sich über seinen Einfall. Dann ist da wieder sein dienstlicher Ton: Bekleidung?

    Ja ..., hast du angesetzt – und Luft geholt.

    Er ist gleich in Fahrt: Lassen Sie gefälligst Ihre nervige Witzelei!

   Schwarze Lederjacke der Kahle, hast du eingelenkt, Anzug der andere, dunkelblau mit Nadelstreifen, vermutlich ...

    Während der Polizist wieder etwas notiert, berichtest du: Diese fettglänzende Kugel oben mit ein paar dunkleren Punkten auf der einen Seite. Das waren wohl die Öffnungen zu diesem Nichts von Inhalt dort in der schmierigen Blase. Der andere eine Kopie von Rübezahl. Immerhin ge­nug, um allein durch seine räumliche Ausdehnung Existenz zu markieren. Sie werden lachen, Herr Wachtmeister, aber dieser Eindruck ist mir eben so irgendwie apokalyptisch gekommen, wenn Sie verstehen: Diese beiden Typen da, diese Situation da ...

   Aber, aber, wir wollen doch nicht etwa fabulieren!, hat er dich unterbrochen. Dann notiert er etwas. Es ist eine Weile ruhig. Nur ein Räuspern vom Nachbarbett her.

    Ich schreibe ihnen alles auf, hast du zu ihm gesagt.

    Er stutzt etwas und schaut auf.

    ... wenn es mir wieder einfällt, setzt du noch hin­zu. Es ist sowieso nicht so ganz falsch, wenn man alles irgendwie niederschreibt, hast du noch erklärt. Denn beim Schreiben kommen einem ganz unverhofft Gedanken.

    Ist mir auch schon passiert!, ist er gleich eingestiegen und lacht voll heraus.

    Du hast dich geärgert und eine Retourkutsche ab­­­­setzen wollen: Beim Abfassen von Protokollen, nicht wahr, da kommen einem so richtig Gedanken, manchmal?

    Es ist eine Pause entstanden, während der du dir vornimmst, dass du die weißen Engel um Schreib­zeug anbetteln wirst.

    Da sieht man es wieder, hat er sich dann aufgeregt, wie ihr von der Zeitung unfähig seid, genau hinzusehen, wenn was passiert. Nicht einmal dann, wenn es euch selber mal an den Kragen geht, könnt ihr richtig aufpassen! Möchte nur wissen ...

    Wir sollten einigermaßen friedlich miteinander umgehen, hast du ihn unterbrochen, denn Ihr braucht uns ja auch hie und da.

    Er schaut dich fragend an.

    ... wenn Euch wieder mal einer in der Ausnüchterungszelle vermodert.

    Er winkt ab: Ein ganz alter Hut. Das haben Sie ja selber aus der Zeitung. Das war im Ausland. Das ist den Österreichern passiert – noch dazu vor Jahren!

    Freilich habe ich das aus der Zeitung. Doch nicht etwa aus einem Polizeibericht! So etwas fällt doch bei euch glatt unter den Tisch!

    Ihr Schreiber glaubt den Stuss anscheinend auch noch selber, den ihr schreibt!, hat er gelacht.

    Aber was Sie wissen möchten, kann ich Ihnen vielleicht sagen oder ...

    Glaube ich Ihnen aufs Wort, hat er dich unterbrochen. Aber ich habe schon genug – von Ihnen, schiebt er bissig nach und fährt fort: ... und auch noch was anderes zu tun. Dann hat er weggepackt, dir Genesungswünsche zugegrinst und ist abgezogen.

    Du daust noch eine Weile an dieser Begegnung. Dann landest du dein Betteln um Papier und Stift bei so einem von den weißen Engeln. Erstaunen beim Alten auf der an­deren Seite. Im Lauf der nächs­ten Stunden wird dir klar, dass du mit deinem Wunsch anscheinend eine Bewegung losgetreten hast. Immer wieder mal bist du darauf angesprochen worden. Ob ein Block genüge, so in Größe eines Geldscheins, so mit Reklame drauf: AOK, die Gesundheitskasse, oder so was? Nein, danke, hast du da gesagt, du hättest vor, richtig Text zu machen. Wieder dieses Erstaunen: Text, aha! – Hier?

    Es scheppert draußen. Die Tür geht auf. Du hast dem Geräusch nach diese Suleika von der Putz­trup­pe erwartet. Aber da ist so eine weiße Gestalt hereingekommen. Prompt beginnt es neben dir wieder zu japsen.

    Du siehst noch mal nach dem Mädchen, das da erschienen ist. Sieht in ihrem Weiß aus, wie man sich als Kind einen Engel vorgestellt hat. Oder wie hat man? Sie schwirrt dir im Kopf tatsächlich irgendwie umher.

    Ist was?, fragt sie zum Alten hin. Dann ist sie auch schon weg. Keine Zeit. Es gibt viel zu wenig Engel, denkst du. Klar, bei dieser üblen Mensch­­heit, grinst du in dich hinein ...

    Eine von den weißen Gestalten legt dir dann tatsächlich Schreibzeug hin. Habe ja leider lange gedauert. Sie entschuldigt sich auch noch. Sie habe dir von sich zu Hause einen Block mitgebracht.

    Einen Schatz willst du sie nennen, aber sie ist bereits abgeschwirrt.

    Jetzt, wo der Engel weg ist, hat dein Nachbar wieder genug Luft, um dich erneut aufzuklären, was bei ihm eigentlich nicht mehr drin ist. Aber bei so einer würde er ... Er bricht ab, holt tief Luft – und erzeugt damit nur einen tiefen Seufzer, was sich fast wie ein letzter Atemzug anhört.

    Du drehst dich mit einem Ruck so, dass du den Alten sehen kannst. Dieser Stich dann im Brustkorb. Du schließt die Augen. Vielleicht ist es so, wenn sie einem ein Messer reinstoßen, blitzen dir die Gangster wieder auf. Dann öffnest du die Augen. Du siehst seine knochigen Finger, so bleich, dass sie sich vom weißen Laken kaum abheben. Deine Schmerzen noch. Hautüberspanntes Skelett, urteilst du über den dort drüben – und setzt drauf: geiler Knochen­mann.

     Du musst dann irgendwann eingenickt sein.

     Schreiben, denkst du gleich beim Erwachen.

    Du musst auch rauskriegen, durchfährt es dich, ob du jetzt womöglich überhaupt weg bist vom Fens­ter in deinem Laden.

Aber wie kannst du es denn anstellen, wenn du hier so eingesperrt bist und eingewickelt?

     Das fehlte noch. Eine berufliche Leiche. Die anderen über dich hinweg.

     Was dann? Einer wie du, der sonst nichts gelernt hat ...

     Irgendwas schreiben. Du beginnst. Du hörst das leise Kratzen auf dem Papier. Das ist dir neu. Es kommt dir vor, als echote es sogar ein wenig von den kahlen Wänden. Schreiben. Du hast es im Kopf, spendest du dir Eigenlob. Profi, der man ist, holst du aus. Nachdenken dann. Worüber eigentlich? – Irgendwas von hier. Der Bettnachbar vielleicht? Wörter aufs Papier, Begriffe – so etwas wie Stoffsammlung. Wovon? Steht's dafür? Nach einer Weile musst du dir eingestehen, dass da nichts wer­den will. Da kommt nichts Brauchbares. Auch das kennst du zu Genüge. Da gibt es eben Zeiten, da verwirbeln sich die ganzen Gedanken und wollen nicht heraus ...

    Als du dann so daliegst, gehen dir die Schergen im Kopf herum. Die haben dich in der Mange gehabt. Das könntest du doch festhalten. Als Beleg. Auch fürs Gericht. Wer steckt wohl hinter dieser Schweinerei? Auf deinem Filmmaterial muss etwas ganz Besonderes sein. Bei so einem Aufwand. Indizien womöglich!

    Du lässt es allerdings noch sein und döst nur so vor dich hin. Bis dich was ganz anderes anmacht: Da hast du doch zu Hause auf dem Schreibtisch diesen Papierkram liegen. Deine Niederschrift von dem Treffen damals mit Karl Mentenheim. An der du seinerzeit tagelang gesessen bist. Niederschrift. Es war vor Jahren, vierundachtzig oder um die Zeit muss es gewesen sein ...

    Jetzt diese pflegerischen Verrichtungen hier: Thermometer ..., reißen dich von deinem Einfall weg. Bloß die Feuersache lodert sozusagen immer wieder ein bisschen auf. Da stinkt es! Nicht nur nach Rauch. An diesem Feuer da bei Mentenheim ist mehr dran als das schiere Abfackeln – he! Abfackeln! So richtig mit Mutwillen, einem ganz verdammt kriminellen Hintergrund! Mensch, da klingelt's doch im Journalistenhirn ...

    Nein, noch keinen Stuhl gehabt heute ...

    Du hin und her zwischen den Schlägern, geht dir nicht aus dem Kopf. Ein Beispiel für ausgesprochen schmerzhafte Erkenntnis – aber im Nachhin­ein, eben hier erst. Wie sie dich windelweich prügeln mussten. Bis du jetzt doch endlich merkst, dass es um mehr geht in dieser verqueren Sa­che um diesen supermaximalen Zimmerbrand.

    Wenn du aus der Gesundheitsfabrik raus bist, musst du sofort nachsehen, was da kriminell sein könnte an Karl Mentenheims Feuer! Dein Material ist ja erst einmal depo­niert. Altes Eichhörnchen, du. Im Keller in deinem Loch hinterm losen Ziegel. Im Grunde ein richtiger Tick von dir. Wie sich eine Marotte allerdings auch bewähren kann. Dokumentation ist häufig mit Sprengsätzen gespickt, weißt du. Was hast du bereits für Knallfrösche gezündet! Was hast du dir aber auch schon die Finger verbrannt! Der schiere Instinkt: Die Beute erst mal verbuddeln. Man ist ein Vieh, sein Lebtag lang. Am Tag darauf. Am Tag nach diesem immerhin eigentlich immer sonderbarer werdendem Lichterloh da bei deinem famosen Karl Mentenheim. Da wären ja ganz bestimmt deine Aufnahmen von dieser ganzen verschmorten Pracht fällig gewesen. Titelseite: Alle mal herhören, ihr guten Leute! – Richtig mit Power, weil man euch ja im Grunde für taube Säue hält! Die kleine Meldung ganz groß über meh­rere Spalten. Überregional dann noch mal und mit etwas Detail. Alle Register dann im Regio­na­len. Abgefeimter Mischtext. Den Braten ordent­lich mit Meinung gewürzt, dass er bekömmlich wird. Das Drumherum. Oder das Zwischendrin. Dem Volk aufs – lose – Maul geschaut.

    Doch an deiner Eingewickeltheit hier kannst du ausmachen, dass du ordentlich verwickelt bist. Denn irgendwer ist offenbar irre interessiert. Dass nicht zu viel von der Sache kommt. Besser gar nichts. Aha!

    Und überhaupt. Dieses tückische Lokale, auch in diesem Fall. Provinzganoventum. Dieses verdamm­te Regionale macht die begabteste Zeitung zum Kä­seblatt mit dem ganzen Kleinkarierten der Gartenzwerge, die das Hinterland bevölkern. Höchstens blüht da mal ein Pilz oben aus. Die Schmiere für die Häuptlinge, die die Zipfelmützen beherrschen. Es ist überhaupt so, wenn du dort überleben willst, dann musst du zum Gnom schrumpfen. Dass du es bei dem dauernden Buckeln und Speichellecken nicht immer so weit nach unten hast.

    Du lachst lautlos, aber es schüttelt dich doch verflixt unangenehm durch. Raus hier! Draußen ist Arbeit! Die Themen warten nicht auf dich. Es ist zwar am Ende alles in den Schnee gepinkelt. Aber es ist zunächst eben mal da – und hält dich schließlich am Fressen.

    Die in der Redaktion sollen sich ruhig den Kopf zerbrechen und sehen, wo sie Bilder zu einem Text von diesem Brand herkriegen. Richtige Aktionsbilder. Diese schönen Stichflammen. Die vielen aufgeregten Leute dort. Bewegung. Das ganze versam­melte Chaos. Es ist aber dein Brand – und nieman­des sonst!

    Das ganze Zeug womöglich für später. Dann eben nur für dich. Vielleicht sogar eine Kapitalanlage, das? Denn da ist was drin! Vielleicht liegt dir hinter dem losen Ziegel im Keller ein kleines Vermögen?

    Der Alte wird unruhig. Da ist dann womöglich wieder eine Mitteilung fällig.

    Herrgott, was hat man alles aufgeklaubt und zurechtgemacht und den Leuten aufs fade Täglichbrot geschmiert. Vielleicht lässt sich das Zeug verhökern? Nichts weiter daraus, als es zu Geld zu machen. Schweigegeld! Als Rente für ein feines freies Leben ohne diese ständige Maloche. Vielleicht in den Nachrichtenhandel überwechseln? Mit deinen gerade mal vierzig noch was Neues anfangen.

    Aus so viel Nichts hat man schon so viel Etwas gemacht, für diesen gefräßigen Laden da! Immer darauf bedacht, dass man auf der Höhe war – für diesen Laden da. Warum nun nicht mal nur für sich selber?

   Sie haben dem Alten die Schüssel untergeschoben.

   Diese Bude hier ... Die erdrückende Leiblichkeit ... Wahrlich ein miefes Geschäft. Man wird die Göt­ter in Weiß fragen müssen, ob ihnen ihre Engel nicht zu schade sind für dieses übelriechende Irdischsein ...

    Du drehst dich auf die andere Seite. So gut es eben geht mit deiner Einhüllung. Sie haben dir tatsächlich Blumen ge­schickt, fällt dir wieder ins Au­ge. Fleurop. Die Karte dazu: Dem Opfer seiner Ar­beit von Herzen die besten Genesungswünsche ... Unterschrift vom Vorturner. Je üppiger die Elogen, wehrst du die sich einschleichende Rührung bissig ab, desto toter ist einer für gewöhnlich. Solange man lebt, frisst einem der Neid das Lob vom Brot.

    Du siehst das Papier an. Du überlegst dir, dass dein fa­moser Karl Mentenheim mit der ganzen Sache hier mit dir zu tun hat. Wie das zusammengeht: Du erinnerst dich dei­ner Notizen über das Treffen mit ihm vor längerer Zeit. Mit dem die Kontakte zu ihm begonnen hatten. In denen du ihm zu Diensten sein durftest. Durftest! Bis hin zum Protokollanten bei seinem Feuerwerk in seinem Edelschuppen. Du hattest doch deine Eindrücke von diesem Meeting vor lan­ger Zeit festgehalten. Die liegen noch auf deinem Schreibtisch. Du solltest dir das Zeug ansehen. Damit dir vielleicht ein Licht aufgeht, wie das alles zusammenpasst. Hier wäre Zeit dazu.

    Ein schrilles Quietschen vom Nebenbett her. Du fährst jäh herum, dass es wieder so sticht im Brustkorb. Die Putzexotin hat Zähne in der Hand. Oberkiefer. Der Alte grinst hohl. Die Frau starrt ihn giftig an. Um sein leeres Maul zuckt unaufhörlich das breite Grinsen. Sie schmeißt ihm die Zähne aufs Bett. Du weißt es sofort: Der Alte ist dem Mädchen mit seiner Knochenhand ans dralle Fleisch gegangen. Während sie ihm das Gebiss einsetzen wollte. Jetzt ist sie an der Tür und keift. Irgendein Idiom. Du verstehst kein Wort. Ein schriller, doch ungemein eindrucksvoller Wortschwall wird der triumphierenden Grimasse des Alten entgegengeschleudert. Du verstehst kein Wort und begreifst doch alles. Die junge Frau fuchtelt noch drohend mit beiden Händen, als ihr bereits die Puste ausgegangen ist. Dann holt sie Luft, greift sich den Kübel, du denkst, jetzt kriegt der alte Bock die Brühe drüber. Doch sie läuft zeternd auf den Gang.

     Zufriedenes Schmatzen nebenan.

     Chef, wenn das eine aus dem Orient ist! Nach einer kleinen Pause gibst du zu wissen vor: Im Orient da funktioniert das nämlich noch mit der Familienehre und vor a­l­lem der Männerehre – die natürlich bleischwer auf den Frauen liegt.

    Im Bett nebenan rührt sich nichts.

    Diese Weiber dort im Orient darf man nämlich kaum ansehen, hast du noch nachgebohrt, geschwei­­ge denn anfassen.

    Wo sie jetzt schon in die Städte Moscheen setzen, wo sie dauernd vom Turm herunterplärren!, ist er plötzlich da. Man muss sich das vorstellen, bei uns hier neben die Kirche das Geschreie von den Muselmännern, den messergetauften! Da muss man es denen zeigen, wo es langgeht bei uns hier.

    Wieder dieses Schmatzen.

    Wenn du so eine anlangst, dann tauchen nämlich die Männer mit ihrer Männerehre hier auf und mit ihren langen Messern!

    Wenn das so eine wäre, dann hätte die einen langen Rock und ein Kopftuch, hat er abgewiegelt: Nämlich, wie man sie bei uns hier immer öfter sieht. Lauter solche. Mit einem Rudel Kinder hinterher. Da gibt’s bald keine Deutschen mehr. Dass unsereins von hier irgendwann noch fragen muss, ob er selber Asyl kriegt in Deutschland. Aber das könnt ihr alleine aushandeln. Da ist unsereiner längst bei den Vätern versammelt.

    Du lässt ihn in Ruhe.   

    Wir haben nie nichts ausgelassen!, ist es jetzt von nebenan gekommen. Wie alt bist du eigentlich, dreißig?, hat er wissen wollen.

    Du hast nur irgendwas gebrummt. Er hat weitergemacht: Wenn mal eine hergegangen ist, dann hat man seine Pflicht getan. Da reue ich nichts. Reuen tät's mich nur, wenn ich was ausgelassen hätte.

    Aha! Dann überkam es dich: Die ungeküssten Küsse, die sind das bitterste Weh – oder so irgendwie, schiebst du deiner Lyrik, aber doch irgendwie verlegen nach. Du wunderst dich selber über so etwas aus einem Gedicht – und wo dir das plötzlich hergekommen ist. Das war ein Vers, hast du zu ihm gesagt. Wie zur Entschuldigung: nicht etwa Eigenbau.

    Es scheint ihn gepackt zu haben, jedenfalls hat er wiederholt: Die ungeküssten Küsse! – Aber er hat gleich lachen müssen: Die gibt es gar nicht. Denn entweder tut man es oder eben nicht. Da sieht man es ja, wie abartig ihr heute seid mit eurer Rumdichterei.

    Dann ist er ruhig gewesen.

    Na ja, sagst du dir. Einfach jetzt mal nur schreiben. Alles aus dem Kopf raus und hingekritzelt. So ganz ohne Zwang. Da kommt sicher mal was, was zu der ganzen Schose um das Feuer passt – oder sonst was, was dir guttut, dass es raus ist. Überhaupt so schreiben: Die Zeit ausschreiben. Einfach, damit wieder was Platz hat in der Zeit. Denn die Zeit ist ja so voll. – Du meine Fresse, was für ein Zeug leistest du dir da in deiner Birne! – Das ist aber doch das Wesentliche an unserem Schreiben. Von wegen die Dinge aufschreiben oder gar festschreiben! Unser Schreiben als ein Ausschreiben. Was enorm Entleerendes und Befreiendes.

    Da hörst du schon wieder was von nebenan: Aber ihr dürft ja heute gar nicht mehr so wie wir.

    Du bist jetzt sogar ein wenig gespannt, was bei ihm dein poetischer Schlagrahm von vorhin noch bewirkt haben mag.

    Wenn ihr es heute macht, dann holt ihr euch womöglich den Tod, hat er gesagt. Ihr mit eurem AIDS, hat er vorwurfsvoll ergänzt.

    Wo das ganze Zeug bloß immer herkommt, das einem den Spaß so gründlich verdirbt?, hast du nur gesagt – und da ist es ganz unvermittelt wieder: Du sitzt noch am Schreib­tisch. Deine erste Meldung ... Du bist gut drauf und steckst dir eine an, lehnst dich in deinem Sessel zurück. Was Scharfes eingegossen, die Beine auf den Tisch, ein wenig mit dem Sessel gewippt. Da wird die Tür aufgerissen. Da stehen zwei Typen vor dir. Zwei, wie von einem anderen Stern. Monster. Schönen Abend, Herr Redakteur!, schleimt der im Anzug. Dann die ganze Prozedur. Du siehst noch, wie sie zwischendurch deinen Cognac saufen ...

   Nachtwache ist heute ein kleiner, etwas draller Engel, siehst du. So ein Modell, das den Alten wohl wieder ganz scharf macht. Ob die willig ist?, schießt dir durch den Kopf. Irre!, sagst du dir dann. Ob man die vielleicht rumkriegen könnte? Bei dir daheim das Papier zu holen?

    Du bist ein dummer Hund!, beschimpfst du dich.

    Das fällt dir gerade noch ein, wo du das Bündel abgelegt hast in deinem Saustall.

    Da kannst du niemand reinschicken!

    Aber das hat dich jetzt gepackt, wie dich ja immer alle verqueren Einfälle packen. Du musst sie rumkriegen!

    Diese Verrücktheit regt dich auf. Du kannst lange nicht einschlafen ...

     Ist ja doch so, ist der Alte am nächsten Tag gleich wieder drauf, man hat immer diese Angst gehabt, dass man anbaut. Achtzehn Jahre dafür zahlen. Da hat man sich auch mal gefragt, ob's dafürsteht. Ihr heute habt die Pille und das Wegmachen. Mit eurer moralischen Verkommenheit. Bloß vor der verfluchten Krankheit habt ihr Angst.        

    Wir sind eben eine feige Generation!, hast du ihm zugestimmt – und denkst gleich wieder nach, wie du den pum­meligen Engel bearbeiten könntest.

Es schmatzt wieder im Bett nebenan.

    Dir knurrt der Magen ...

    Was könntest du der Kleinen bieten, dass sie dir das Papier vom Schreibtisch holt?

    Draußen scheppern jetzt die Essenswägen.

    Shut up!, hast du den Nachbarn angefaucht, als er dich wieder angenuschelt hat. Du drehst dich weg.

    Deine Wohnung! Mist, dass du nicht gleich dran gedacht hast, als der Polizist hier war! Sofort telefonieren! 112. Nein, kein Notfall – oder doch einer, fast! Die Gangster nehmen vermutlich die Wohnung auseinander! Den Hauptmeister, der neulich im Krankenhaus ermittelt hatte, bitte ...

    Er wird vielleicht gelegentlich eine Streife vorbeischicken können ...

    Du hast dich damit zufriedenzugeben. Nun willst du dich mit dem Problem um deine Aufzeichnungen befassen. Du wirst dem weißen Engel sagen, dass du von der Presse bist und auch mal was für sie tun könntest, irgendwas gibt’s im­mer. Mal in der Zeitung stehen, das macht mächtig stolz, so wie die Großen in der Gesellschaft, wirst du ihr Honig ums Mündchen schmieren. Um ihre dicken Lippen ...

    Könne einem eigentlich wurscht sein, was so einen wie dich umtreibt!, kommt dann von nebenan. Eigentlich müsse man ja Mitleid haben mit so einem wie dir, denn du regtest dich gleich so auf. Wo er dich angeschaut habe, wollte er gleich gemerkt haben, dass du so einer bist. Da könne so einer gar nicht genug eingewickelt sein, dass man das nicht doch sehe.

    Jetzt weißt du wenigstens, was du für einer bist, ärgerst du dich.

Sie hätten damals nichts ausgelassen, beteuert er dir noch einmal. Nach einer Pause: Allerdings haben die Anderen an uns auch nichts ausgelassen.

    Du wartest, weil da noch was kommen müsste.

    Wir haben ja eigentlich bloß den Suff und die Weiber gehabt. Und die Arbeit, versteht sich. Malocht wie die I­r­ren für ein paar Groschen. Die ganz die schönen Anderen haben wir auch gehabt – aber über uns. Diese noblen An­deren, die nichts ausgelassen haben an uns. Wenn du das Maul aufgemacht hast, bist du geflogen. Da hat man eben das Maul gehalten. Aber irgendwo muss der Dampf eben raus ...

    Ein richtiges Mannsbild, willst du ihm entgegenkommen, muss eben zupacken.

    Ja eben!, hörst du nur. Da scheppert der Essenskarren herein. Du schnupperst der Mahlzeit entgegen.

    Beim Suppelöffeln bist du dann auf den Abend gespannt – und ob es mit der Kleinen klappt. Vielleicht hat sie Glück und kann gewissermaßen unter Polizeischutz deine Wohnung betreten. Eine Vollmacht, dass sie deine Wohnung betreten darf! Du fühlst dich schlau, nachdem dir das eingefallen ist: Hiermit wird bestätigt ...

    Du bist guter Dinge – und sie willigt tatsächlich ein. Eigentlich hast du nur die Bitte ausgesprochen. Die Überredung, die du dir zurechtgelegt hattest, hast du für dich behalten können. Es war nur noch zu erklären, wo der Papierkram liegen müsste.

    Mit einem sozusagen neuen Glauben an die ganze  Mensch­heit bist du sehr spät eingeschlafen.

Der Tag darauf prall gefüllt mit Erwartung. Du willst dieses doch auch lästige Gefühl etwas dämpfen und sagst dir, dass die Notizen immerhin nur Ausrede dir selber gegenüber sind. Nebst der vorläufigen Beurlaubung von neuen Schreibversuchen.

     Vom Nachbarbett her noch keine Mitteilungen. Sängers Herumstöbern in der Vorratskiste seiner Lebenserfahrung hätte heute sogar willkommen ab­gelenkt. Er scheint aber keinen guten Start in den Tag gehabt zu haben.

     Am Abend steht dann dein Barockengel neben dir und strahlt. Das Papierbündel in der Hand, und du bist baff. Da liegt das Konvolut auf der Bettdecke, vergilbt und zerfleddert – vertraut. Hier ist Ihr Schlüssel, hast du gehört und: Da sieht’s ja aus in Ihrer Wohnung ...

    Aber du hörst da gar nicht richtig hin, murmelst nur ei­nige Male etwas von Dank, faselst noch davon, dass du sie in dein Nachtgebet einschließen würdest. Sie ist schon weg.

    Du genießt zunächst allein den Anblick deines bekrakelten Kleinods. Ab und zu nimmst du ein Blatt in die Hand und fährst eigentlich nur mit den Blicken darüber ...

    Dass da einer wohl einen Papierkrieg mit sich selber führt!, hat der Alte plötzlich laut herübergemosert.     

    Völlig klar, wen er damit gemeint hat. Wie er wohl gesehen hat, wie du deinen Papierstapel angierst. Aber dass du den Kampf verlierst!, hat er dann noch genuschelt. So einer wie du, der da herumschreibt, anstatt was Richtiges zu tun. Dass es ja viel Blödsinn gibt. Am bescheuertsten ist es aber, hat er gemault, wenn sich da einer selber anschreibt. Noch dazu ein Kerl. Bei den Weibern könnte man es eher noch verstehen, wenn die keinen Richtigen haben. Dann steigt es ihnen eben in den Kopf und das versteht man ja noch, aber ...

   Du hast den Alten schwafeln lassen, deine Aufzeichnungen in der Hand. Ein eigenartiges Gefühl: die Vergangenheit in der Hand. Du hast zu lesen begonnen:

 

 

Versuch einer Rekonstruktion: Begegnung mit Karl

   "Gestern meine Rostlaube im Parkhaus beim Zentrum abgestellt. Bin bereits in der Nähe des Ausgangs gewesen. Da zog hinter mir ein tiefes Rauschen vorbei. Habe mich danach umgedreht und einen knallroten Porsche im Auge gehabt. Um ehrlich zu sein: Der Anblick hat mich gefesselt. Mit der Entschuldigung, dass sich auch ein quasi weltanschaulich auf Mini eingestellter Automobilist in so einem Fall des korrupten Blickes nicht zu schämen brauche, bin ich stehen geblieben ..."

 

   Du lässt das Blatt auf den Stapel sinken und schließt die Augen. Es ist ja etwa ein Jahrzehnt her, dass du das aufgezeichnet hast, geht dir durch den Kopf. Aber du weißt noch nicht so recht, ob du dich auf diese Erinnerung ganz einlassen sollst.

   Du legst das Papierbündel weg und steckst dir den Thermometer rein. Diese Verrichtungen immer. Dein Barockengel ist noch da und hat das veranlasst. Du denkst über eine Freund­lichkeit für das Mädchen nach. Es fällt dir nur ein, dass du immer noch ganz dankbar bist. Schon gut!, hat sie kurz geantwortet. Dann hast du deine Siebenunddreißig­acht angegeben. Sie ist wieder gleich weg gewesen. Du machst weiter – mit dem Altpapier, wie du vor dich hin grinst:

  "Das rote Ding war gerade abgestellt worden. Im Parkverbot. Habe noch einen neugierigen Blick darauf geworfen, um zu sehen, was für ein Wesen so einem protzigen Ding entsteigen würde. Ein intelligentes Gesicht erschien. Von mittellangem, brünettem Haar gerahmte männlich kantige Züge wurden im Halbdunkel erkennbar. Ich stand da und verfolgte, wie der Typ seine gut Einsachtzig entfaltete. Er mag um die Dreißig und meines Alters sein, dachte ich noch. Der kommt dir ja irgendwie bekannt vor, staunte ich. Ich war mir aber nicht sicher. Solche Exemplare kennt man eben aus Illustrierten oder aus der Werbung. Der Schönling musste mich bemerkt haben. Er blickte skeptisch zu mir herüber. Verständlich, denn in diesen Parkhäusern passiert allerlei – hatten wir erst letz­te Woche ganz groß in unserem Blatt aufgemacht. Ich tat so, als hätte noch etwas in meiner Tasche zu suchen. Das ist idiotisch, was du da machst. Er muss ja befürchten, dass du womöglich eine Waffe ziehst. Auch das wieder Blödsinn. Ich machte an der Aktentasche herum. Während ich noch so mit meiner Haltung beschäftigt war, hatte er sich auf den Weg zum Aufzug gemacht. Er war jetzt in meiner Nähe. Ich wollte ihn passieren lassen.

   Um ihn zu beruhigen, hatte ich ein Lächeln aufgesetzt und ihm zugenickt. Aber dieses Gesicht kennst du doch!, durchfuhr es mich. Da hörte ich ihn auch schon: Hallo, Tom!

   Karl Mentenheim stand vor mir, machte noch einen Knopf am Jackett zu und blickte freundlich auf meine Einsachtundsechzig herunter. Ich war überrascht. Mir fehlten die Worte. Er reichte mir lächelnd die Hand: Na, Tom, dieses Parkhausidyll hier ist hoffentlich nicht dein Arbeitsplatz!

   Mensch, Karl!, fiel mir nur ein. Das ist ja toll!

   Ja, wie lange haben wir uns denn nicht mehr gesehen, Tom?, fragte er in einem Ton, der nicht auf Antwort zielte. Er ging auch gleich weiter.

   Ich dachte angestrengt nach, während ich ihm zum Aufzug folgte. Mir wollte es nicht einfallen. Das ist überhaupt das erste Mal, dass wir uns treffen, sagte ich dann, als sich die Tür schloss. Er schien es überhört zu haben oder war mit den Gedanken woanders. Stell dir vor, das erste Mal, dass wir uns sehen, seit wir unseren schwarzen Kasten verlassen hatten.

   Ach ja, dieses geschichtsbeladene Gemäuer!, lachte er trocken. Überhaupt diese Leute dort. – Drücke doch mal 'Erdgeschoss'!, forderte er mich auf.

   Dann waren wir draußen. Er schritt dahin, ohne darauf zu achten, ob ich ihm folgen würde. Ich trabte seitlich etwas hinter ihm her. Man konnte ja so ein Zusammentreffen nicht nur mit diesen paar Worten erledigt haben. So mach­te ich ihm den Vorschlag, im nächstgelegenen Café ein wenig zu plaudern. Er zeig­te sich überrascht. Es kam mir einen Moment so vor, als hätte ich mir damit zu viel herausgenommen. Er dachte nach und blickte etwas leidend drein, so als fahre er im Geiste mit dem Finger über das heutige, natürlich bis zur letzten Zeile volle Blatt seines Terminkalenders. Schließlich wollte er sich aber doch die Zeit nehmen.

   Kaum Platz genommen und bestellt, versuchte ich ein Gespräch: Oh, du rauchst Astor!, sagte ich und schaute, anerkennend mit dem Kopf nickend, auf die braune Schachtel. Wo gibt es denn die noch?

   Karl schien meine Bemühung nicht weiter zur Kennt­nis genommen zu haben. Er hatte sein Augenmerk auf die Aquarelle gerichtet, die hier präsentiert waren.

   Das ist keine Marke, strengte ich mich weiter an, die man am Automaten ziehen kann!

   Interessant, sagte er. Sie haben hier Kunst hängen. Das sieht man jetzt häufiger auch in ganz einfachen Cafés. Dass sie damit einen Galerieeffekt zu erreichen versuchen.

   Er öffnete seine Zigarettenschachtel und erklärte mir eher beiläufig, dass die ihm das Personal immer besorge. Er wisse nicht, wo die her sind. Kiosk oder nicht, meinte er, es dürfe lediglich kein mieses Zeug sein. Dabei hielt er mir die geöffnete Schachtel her. Ich zog mir eine und fingerte mit der anderen Hand in meiner Jacke nach meiner Dose. Er nahm sich dann mit amüsierter Miene eine von meiner Sondermarke. Er meinte, während er mir Feuer gab, dass die meisten Leute beim Genießen den Fehler begingen, nicht auch noch den zweiten Schritt zu tun, der eigentlich der erste sei. Ich schaute ihn fragend an. Nun, die Leute sparen beim Vergnügen, erklärte er, und kaufen billiges Zeug. Das ist es, was gesundheitlich ruiniert, war er überzeugt.

   Es scheint ihm ein Anliegen zu sein, dachte ich mir.      

   Dann sollen sie lieber ganz darauf verzichten, war er der Meinung, als sich mit Dreck die Gesundheit zu ruinieren. Damit drückte er die Zigarette auch schon gleich aus und war anscheinend wieder ganz bei den Bildern. Ich schielte auf den langen Stummel im Ascher und dachte an die Abende, an denen ich zu Hause immer stundenlang für meine Zigaretten den Tabak in fertige Hülsen stopfte.

   Durchs Fenster sah man die Passanten. Im Raum war nur wenig Bewegung, mäßiges Kommen und Gehen. Wir saßen da und schwiegen eine Weile.

   Mir fiel nichts ein, als mich übers schöne Wetter aus­zulassen. Karl meinte, man müsste sich jetzt Zeit nehmen und in die Berge gehen. So richtig einen Dreitausender machen. Ich stimmte ihm mit sozusagen innerer Gänsehaut zu, war allerdings überzeugt, dass er damit nur angegeben hatte. Ich sagte mir, dass so ein Mensch wie er doch eher weniger harten Vergnügungen nachgehen würde. Vielleicht ein bisschen über die schiere Wellness hinaus. Ich vertiefte das Thema Bergsteigen nicht. Ich wollte ihn aber nicht mit meiner Anschauung darüber vergrätzen. So lenk­te ich ab und fragte, ob man seinen schicken Sportwagen denn nicht auch 'oben ohne' fahren könne, gerade bei so einem schönen Wetter.

   Er wisse gar nicht, antwortete er, ob das ein Hardtop sei. Er habe sich eben einen Wagen vom Fuhrpark kommen lassen.

   Fuhrpark, wiederholte ich, ach ja!

   Ich nahm die Speisenkarte zur Hand, blickte ein wenig hinein und bemerkte beiläufig, dass alles bald teurer werden würde. Er schaute mich fragend an. Ich ließ mich gleich über Staatsverschuldung und Steuererhöhung aus. Ich wollte es nämlich mit Politik versuchen, um das Gespräch etwas in Gang zu bringen.

   Er lächelte und meinte nur, es gestalte sich immer unrentabler, einer Arbeit nachzugehen. Wir lachten trocken. Damit hatte es sich allerdings auch schon wieder.

   Ich nahm einen Schluck Kaffee. Man hat sich eben nichts mehr zu sagen, dachte ich. Es war auch ärgerlich, dass er sich gar keine Mühe gab. Er saß lässig da, die Beine überschlagen, hatte mir nur die Seite zugewandt. Er lässt arbeiten, dachte ich mir, einer von diesen ist er. Er lässt arbeiten – in diesem Fall lässt er mich arbeiten. Solche Leute finden immer wen, der ihnen den Domestiken macht.

   Ein paar Tische weiter lag ein Boulevardblatt. 'Qumran' stand ganz fett im Aufmacher. Ach ja, erinnerte ich mich. Die Sache da mit den alten Schriftrollen von irgendwo in der Wüste. Das wird zurzeit immer wieder einmal diskutiert. Ich sagte: Qumran. Wie denkst du darüber?

   Er goss sich Kaffee ein und schien ein wenig in seiner Allgemeinbildung zu kramen. Habe ich sicher mal gehört, antwortete er. Aber ich kann es jetzt nicht mehr richtig zuordnen.

   Ich genoss meinen Informationsvorsprung und ließ ihn aber noch eine Weile in seiner Wissenslücke sitzen.

   Qumran, wiederholte er. Hm, muss man das wirklich wissen?, fragte er dann.

   Ich versicherte ihm und fühlte mich dabei sehr gut, dass es gewiss keine Bildungslücke sei. Auch dass man Qumran gar nicht so recht in Konversation ein­bringen könne. Weil kaum jemand genauere Informationen habe. Es sei ja stets eher peinlich, wenn jemand eine Unterhaltung zum Vortrag umfunktioniere, kehr­te ich gute Kinderstube heraus. Dann erklärte ich ihm so bescheiden, wie ich meinen Stolz nur immer ver­bergen konnte, dass es sich dabei um uralte Schrift­rollen handle. Und zwar aus der frühen Christenzeit oder sogar davor und eben um jenen Ort am Toten Meer. Texte, klärte ich ihn auf, die von der jüdischen Sekte der Essener verfasst worden waren. Sie wurden von einem Hirtenjungen Ende der Vierziger gefunden.

   So, so!, quittierte Karl meine Lektion.

   Das hatte natürlich nicht sehr nach Aufforderung zur Fortsetzung geklungen. Ich wollte deshalb – auch weil ich selber gar nicht viel mehr wusste – die Sache zu Ende bringen: Weißt du, man liest immer wieder mal etwas darüber. Die Texte sollen längst übersetzt und ausgewertet sein. Aber man sagt, dass die Kirche die Hand draufhält. Weil da Tatsachen zum Vorschein gekommen seien, welche die herkömmliche Lehre ins Wanken geraten lassen könnten.

   '... die herkömmliche Lehre ...!', wiederholte Karl grinsend. Da böte sich dann auch noch die Gretchenfrage an: 'Wie hältst du's mit der Religion ...?', oder so ähnlich aus dem guten alten Faust.

   Wir haben ja früher jeden Tag zur Kirche gehen müssen, erinnerte ich. Dass wir deshalb eigentlich ja doch fürs ganze Leben über einen satten Vorrat davon verfügten. Also, vielleicht kann man Kirche nicht schon mit Religion gleichsetzen, aber immerhin ... So ein Konto – vielleicht nicht gleich Frömmigkeit. Wie's eben nicht gleich Frömmigkeit ist, wenn man so eine Übung regelmäßig, nämlich nur durch die Umstände gezwungen vollführe ...

   Du bist ja reichlich bemüht, Tom!, ging Karl lachend dazwischen.

   Aber immerhin, einfach ein Guthaben von früher ..., wollte ich weitermachen.

   Du lieber Gott 'früher'!, unterbrach er mich. Weißt du, Tom, ich muss dir gestehen, dass ich gerne so ein­fache Grundsatzfragen absetze. Wie die mit der Gret­chen-Frage. Ich wollte dich jedoch mit dem Faustzitat nicht in einen Erklärungszwang bringen.

   Natürlich nicht, beruhigte ich ihn. Du handelst da sozusagen journalistisch, kann ich dir bescheinigen: Gerade die einfachen Fragen bringen die Leute zum Reden! Sie quasseln dann drumherum und bringen damit reiche Beute an Information ...

   Ja, eben, unterbrach er mich. Solche unerwarteten Fragen treten was los.

   Wir nickten uns zu und griffen beinahe gleichzeitig zu unseren Zigaretten.

   Früher!, sagte er in seine Tabakwolke hinein. Früher ..., und hielt seinen Satz nachdenklich an.

Wie lange ist das eigentlich her, das mit der Schule?, begann er wieder. Ein Jahrzehnt oder gar schon länger? Man ist ja ... – freilich, wir sind ja gleich alt.

   Karl war mit den Gedanken bereits woanders: Wir konnten uns damals dort – in unserer komischen Schule, weißt du – freilich nicht gegenseitig aussuchen ... Mehr kam allerdings zunächst nicht von ihm. Ich wusste daher nicht, worauf er hinauswollte. So nickte ich nur.

   Das hatte alles der Zufall erledigt, fuhr er fort, der Zufall in Gestalt der Eltern.

   Ich betonte: Die Macht des Zufalls!

   Karl saß da, die Stirn in Falten. Die Macht des Schicksals, muss es richtig heißen!, korrigierte er nur und nahm seinen Faden wieder auf: Sie stellten uns dort ab. Einfach ... Dann mussten wir eben sehen, wie wir zurechtkamen .... Ja, vielleicht sollten wir dort richtig ausgiebig herumfrömmeln, meinte er. Weil unsere Alten das in ihrem Leben versäumt hatten. Weil ja die Kinder ganz allgemein immer das ausgleichen sollen, was die Eltern bei sich selber versäumt hatten.

   An allen Orten unseres Beisammenseins, sagte ich, hockten wir sozusagen mit unserer ganzen Existenz aufeinander. Dann die Entdeckung Gemüt! Ganz eindeutig, in Entfernung von der lieben Mutter. Da brach das mit dem Gemüt so richtig aus einem hervor. Zu Hause war die Gute das Gemüt. (Karl musterte ganz unverhohlen die junge Bedienung.) Zu Hause bei Mutter, sinnierte ich. Und unter diesem Gemütsservice von ihr ...

   Karl stützte sich jetzt mit einem Ellbogen auf den Tisch, der andere Arm baumelte lässig über die Leh­ne.

   Zu ihm gewandt, setzt ich etwas spitz hinzu: Diese kleinen, nur auf sich bezogenen Seelchen, die wir waren – oder heute noch sind ...

   Karl lächelte nur und zündete sich wieder eine von seinen Astors an. Sein goldenes Feuerzeug, fiel mir jetzt auf – und das wohl ebenfalls goldene Uhrarmband.

   Das war doch eine Zeit, da nach dem Krieg, meinte Karl und machte Kringel mit dem Rauch. Eine Zeit, die angeblich etwas darauf hielt, das Religiöse wieder ent­­deckt zu haben. Nachdem sie ihres braunen Erlösers verlustig gegangen waren. Irgendwas muss man schließlich anbeten, das ist offenbar so drin im Men­schen. Es wird ja behauptet, dass da die Kirchen zu jedem Event proppenvoll waren. Da bedeutete Seele bei uns Jungen sogar ein wenig in dieser Richtung. Seele allerdings nicht etwa als eine psychologische Größe. Woher hätte man das wissen sollen? Und was haben unsere Pauker schon davon gewusst?

   Wir Seelchen, ha?, beeilte ich mich. Das weste so vor sich hin. In diesen regelmäßig von einem Trupp Hausdiener gereinigten, von Dielenöl und Kernseife geschwängerten und von Zeit zu Zeit ausgeweihten Räumlichkeiten dort in diesem unsäglichen Domizil ...

   Bravo!, rief Karl so laut, dass der Kopf der Bedienung hinter der Illustrierten hervorkam. Eine wertvolle Formulierung!

   Ich nahm ihm die Begeisterung ab und fuhr angetan fort: Wir konnten uns nirgendwo ausweichen. Wenn ich es bedenke, war man einander geradezu ausgeliefert. Jedenfalls musste man sich die Gegebenheiten auf irgendeine Weise erträglich gestalten, sonst ...

   Weißt du noch, unterbrach mich Karl, wie viel Einfallsreichtum wir da investierten? Dabei hatte er sich mit einem Ruck mir ganz zugewandt: Hast du auch die Rückwand von deinem Schrank wegmontiert gehabt? Deiner war doch auch in die Dachschräge eingebaut?

   Ich war von seiner Begeisterung überrascht. Ich nickte. Karl fuhr gleich fort: Wir gelangten doch auf diese Weise in den toten Raum der Dachschräge und richteten dort Verstecke ein, um wenigstens kurze Zeit alleine sein zu können oder uns dort mit Freunden aufzuhalten.

   Er schien seiner Erinnerung still nachzuhängen und hatte mich damit angesteckt.

   Was hat man da nicht alles gemacht, murmelte Karl nach einer Weile. So wie in dieser Erzählung 'Die Verwirrungen des Zöglings Törleß'. Aber so etwas hat man natürlich an unserer Schule nicht gelesen! – Kennst du die Story, Tom?

   Ich wich aus: Wenn man einen Dachziegel abgespreizt hatte, dann konnte man den Rauch seiner Zigarette hinausblasen. Wenn sie einen allerdings erwischt hätten, na dann! Schließlich musste man aber als werdendes Mannsbild rauchen. Auch wenn man darauf kotzen musste. Weil alle Männer rauchten, da­mals jedenfalls. Das haben sie aus dem Krieg mitgebracht, haben sie immer behauptet. Wo's stets noch was zum Qualmen gab, auch wenn das Futter alle war.

   Ich nahm einen Schluck Kaffee. Mensch, ein mieses Gesöff, mäkelte ich. Das erinnert doch fatal an damals, an den graubraunen Sud im Internat, den der Koch beharrlich als Kaffee bezeichnet hatte!

   Karl ging nicht darauf ein.

   Ich schämte mich. Es kam mir nämlich, dass man behauptete: Je dürftiger die Küche zu Hause, desto üppiger die Kritik woanders.

    Das geht einem doch alles nach …"

 

Die Visite drängt herein. Du legst deine Papiere weg. Räume die Blätter in die Schublade von deinem grauen Blechkasten. Die Weißmänner greifen gerne nach allem, erinnerst du, was geschrieben ist. Vielleicht weil es ihnen als ungewöhnlich, sogar ungehörig erscheint, hier privat Geschriebenes zu haben oder es hier gar zu verfassen. Sie werfen einen neugierigen Blick darauf. Außerdem ist da ja auf dem Papier dein Ich eingefangen. Von dem du weißt, dass du irgendwann damit zu tun hattest. Was aber niemanden etwas angeht ...

   Die paar Fragen an dich, dein Befinden betreffend. Dann sind sie weg.

  "Karl nahm einen Schluck Kaffee und sagte nachdenklich: Andererseits brauchte man einander. Man war immer zu mehreren. Ich glaube, sinnierte er, man scheute sich sogar Freundschaft offen zu zeigen. Was über Kameradschaft hinausging, das wollte oder konnte man sich nicht leisten. Das hing doch auch mit den pubertären Vorgängen unter der Gürtellinie zusammen. Oder auch anders: Masse lässt Bindung nicht zu. Freundschaft – oder Bindung überhaupt ... Ich weiß nicht ... Ich denke, es ist sowieso alles eine Frage des Nutzens. – Entschuldige mich einen Augenblick, Tom. Damit verschwand er.

   Ich wunderte mich, dass er dieses Thema angetippt hatte, aber ging dem nicht weiter nach, sondern scheuchte das Mädchen mit der Bestellung von zwei Cognacs auf. Als er wieder da war, stießen wir an. Hennessy, sagte ich stolz, ich habe ausdrücklich etwas Besseres verlangt! Sonderbarerweise schien er noch an seinem Thema zu hängen: Ich glaube, man brauchte sich gegenseitig doch auch dazu, um die Ecken und Kanten der Seele abzurunden. Dabei schau­te er mich an, als wollte er prüfen, wie ich auf so eine aufwändige Formulierung reagierte.

   Ich protestierte: Mensch, Karl, Seele, am helllichten Tag. Ohne Vorwarnung!

   Davon unbeeindruckt, rundete er seine Konstruktion ab: Ich glaube, dass wir uns aneinander abschleifen, abfeilen mussten.

   Hat reichlich nach Metallbearbeitung geklungen, kommentierte ich, betont cool. Was machst du eigentlich? Maschinenbau oder so etwas?

   Karl lächelte nur und nahm einen Schluck Cognac.

   Ich wollte ihm entgegenkommen: Ich stimme dir allerdings zu. Man kratzte und biss sich in Wort und Tat, verletzte sich, mitunter erheblich, und schmier­te sich auch wieder Honig ums Maul. Man ehrte und versehrte sich.

   Hat sich ja reichlich nach Wortwerkstatt angehört, revanchierte sich Karl.  

   Um das mit dem Abschleifen aufzugreifen, Karl: Nach den Worten unseres Direktors ... – Kannst du dich noch an den erinnern? An diesen starken Charakter in der langen, schwarzen Kutte. So ein üppiger Mensch, den man sich manchmal sogar als Vater gewünscht hat. – Das war doch komisch: Diese herben Männer in langen Röcken, um die Taille einen Strick. Der eine oder andere sah aus wie im neunten Monat. – Nach den Worten dieser sonderbaren Vaterfigur waren wir ja alle Edelsteine. Er pflegte doch zu ergänzen: Edelsteine, aber ihr seid ziemlich ungeschliffen.

   Lebt diese Vater-Mutter-Figur eigentlich noch?, fragte Karl.

   Er hat sicher das Zeitliche gesegnet, sagte ich, um es angemessen verstaubt auszudrücken.

   Dein wirklicher Vater, Tom, ist doch im Krieg geblieben, wenn ich mich recht entsinne?, fragte Karl.

   Ich nickte, hätte es eigentlich richtigstellen sollen. Es hatte sich zu der Zeit aber immer noch gut gemacht, den Vater im Krieg abgestellt zu haben, wenn da nie einer wenigstens gelegentlich zu Besuch erschienen war. Aber wir waren beide Jahrgang fünfzig, Karl hätte also ruhig selber draufkommen können, dass das mit seiner Erinnerung nicht ganz stimm­te.

    So ein Ausdruck, den sie damals gerne verwendeten, sagte er: 'Jemand ist im Krieg geblieben'. Schon sonderbar, diese Denkungsart – oder dieses elende Verrecken nur ‘fallen’ zu nennen. Er blickte mich forschend an. Ich wusste nicht, worauf es hinaussollte, und nickte nur. Eigentlich war ich mit der Frage beschäftigt, warum er in Bezug auf meinen Vater auch nachgerechnet haben sollte. Freilich war der nicht im Krieg geblieben, er hatte mich gezeugt und ein Jahr drauf seinen Kratzfuß gemacht. Einundfünfzig. Französisches Arbeitslager, als Kriegsgefangener in der Arsenfabrikation und und. Wie die Mutter erzählte: Äußerlich wie innerlich total ausgemergelt, war er vier Jahre nach der großen Pleite wieder aufgetaucht, verseucht, überflüssig. Ich dann mehr aus Versehen oder vielleicht sogar als Versuch, wieder Lebenssinn zu gewinnen. Wie soll ein Junge so einen Vater in seine Biografie einbauen?

   'Und wer den Tod im heil 'gen Kampfe fand / ruht in fremder Erde wie im Heimatland.' Das habe ich in Lands­berg am Kriegerdenkmal gelesen, sagte ich dann.      

   Wir lachten bitter. Karl versuchte zu wiederholen, blieb kopfschüttelnd am 'heil'gen Kampfe' hängen.

   Weiß Gott, eine Teufelei!, knurrte ich.

   War vermutlich nicht einfach für die Leute zu Hau­se, fuhr Karl fort. Die vaterlosen Familien waren damals zahlreich, holte er aus und führte seine Tasse zum Mund, trank aber nicht gleich, schien nachzudenken. Ach!, kam dann. – Ich horchte auf. – Er nahm erst einen Schluck, stellte die Tasse wieder ab: Stell dir vor, da hatte ich mich an der Uni einmal zu den Psychologen verirrt. War in einer Vorlesung über Freud gelandet. Da hatte doch der gute Professor gerade über die Mutterbindung der Söhne gelesen ... Karl stockte – ... Diese Mutterbindung selbstverständlich ... Karl wurde leiser, Ursachen und Folgen ..., sagte er nur noch und machte dann eine abweisende Handbewegung. Im Grunde, weißt du, ist es ja ziemlich unverschämt, nahm er sich zurück, sich als Hobbypsychologe aufzuplustern.

   Ich weiß ja, Karl, sagte ich, wie es hätte weitergehen müssen mit Freuds Erkenntnissen über die enge Bindung des Sohnes an die Mutter: Da wäre jetzt in deiner Rede die Disposition dieser Söhne zur Homosexualität an der Reihe gewesen.

   Da gab es viele wie euch, wich er mir aus, viele ohne Vater. Aber das war auch wieder nichts Besonderes. Da gab es viele wie euch, sogar solche, die obendrein auch noch alles verloren hatten: Die Heimat – na ja, das kann man sicher vernachlässigen. Aber weggehen. Das ganze Vermögen zurücklassen müssen! Es ist si­cher schlimm, ganz ohne etwas dazustehen.

   Die kalte Brühe in den Tassen sah jetzt auch so scheußlich aus, wie sie vorhin bereits geschmeckt hatte. Ich griff nach dem Kaffeekännchen und sah hinein, um die Flüssigkeit durch Aufschütten wenigstens optisch zu verbessern. Ich hatte kein Glück. So nahm ich die Tasse mit dem graubraunen, erkalteten Sud. Karl tat das Gleiche, als ich mit einer Grimasse abgestellt hatte. Er führte die Tasse, wie mir auffiel, mit einer beinahe übertrieben eleganten Handbewegung an den Mund. So eine richtige Bewegungsfloskel, dachte ich. Er nippte am Inhalt, indem er immer wieder ansetzte. Eine schier unmännliche Weise, dach­te ich mir, fand es aber irgendwie sympathisch. Ich griff noch einmal nach meiner Tasse, in der noch ein paar Tropfen zusammengelaufen waren, machte Karls Geste nach.

   Wir wollten dann aufbrechen. Bitte zahlen!, rief ich und zückte das Portemonnaie. Die Bedienung war bereits an unserem Tisch und rechnete zusammen. Karl hatte keine Anstalten erkennen lassen zu zahlen. So sagte ich dem Mädchen, dass ich alles übernehme. Als sie weg war, entschuldigte ich mich bei Karl, ihn damit überfahren zu haben. Aber zwei Rechnungen, beteuerte ich, hätten sich bei dem kleinen Betrag ja gar nicht gelohnt. In Italien zum Beispiel sei es üblich, fügte ich noch an, dass eine Person den ganzen Tisch übernehme.

   Er hatte mir geduldig zugehört. Aber keine Ursache!, Tom, beruhigte er mich.

   Dann brachen wir auf.

   Es war ein schöner Sommertag. Wir spazierten ein wenig in der Stadt umher. Dann ließen wir uns auf öffentlichen Stühlen nieder, die sie jetzt überall auf den Plätzen hatten. Viel Volks flanierte an uns vorüber. Ab und zu ein besonderes Exemplar. Angeregt durch diese und jene Erscheinung, die da einherstolzierte oder auch vorüberhastete, kamen wir doch immer wieder auf die Schulzeit zu sprechen: Was mag der und der jetzt machen ...

   Unsere Erinnerungsarbeit währte eine knappe halbe Stunde. Dann schien es Karl überdrüssig zu sein, hier herumzusitzen. Er stellte fest, dass wir für Aus­flüge in die Vergangenheit noch nicht ausreichend vergreist seien.

   Ich stimmte Karl lachend zu, zunächst die gute, mehr noch zeitraubende und vor allem teure Bildung in ein wenig Karriere umzusetzen. Vor allem Geld zu machen. Er hatte sich erhoben. Gut gelaunt legte er mir jedoch noch seinen Lebensplan von den drei Vierteljahrhunderten dar: Fünfundzwanzig Jahre wollte er lernen (was er schließlich bereits hinter sich habe), ei­nen ebensolchen Abschnitt (wenn es sich nicht vermeiden lasse) hart arbeiten, um schließlich eine solche Zeitspanne (plus x) alles nur noch auszukosten. Ich musste das zwar schon irgendwo gehört haben, heg­te allerdings keine Zweifel daran, dass er es umsetzen werde.

   Aber nicht, dass du meinst, ich nähme das allzu ernst, setzte er dann hinzu. Natürlich kommt es darauf an, nicht nur gut zu sein. Es ist wichtig, besser zu sein, wenn du verstehst. Es ist ebenfalls wichtig, Einfluss nehmen zu können, damit einen das, was man tut, innerlich erfüllt – wenn du mir diesen verbalen Höhenflug gefälligst nachsehen wolltest ... Erst im be­sagten dritten Lebensabschnitt sollten wir uns wieder der Erinnerung hingeben, dann allerdings irgendwo auf einer Ferieninsel.

   Klingt gut!, stimmte ich zu.

   Darauf trennten wir uns: Mach's gut, sagte er im Gehen und hob lässig die Hand, winkte mir über die Schulter.

   Servus, mach's besser!, rief ich ihm nach.

   Servus, echote ich mir beim Weggehen. Komisch, sagte ich mir, diesen bayrischen Gruß benütze ich doch sonst nicht. Bei einem Klopapier haben sie das mal als Marke verwendet, fiel mir ein. Ich war jetzt schon fast am Parkhaus. Es bedeutet Diener, fiel mir ein. Ich fühlte mich jetzt öde. Eine reichlich blöde Floskel, maulte ich vor mich hin, dieses Servus. Noch dazu beim Abschied. Meine Besorgungen habe ich auch vergessen. Nun gut, dann gibt es heute eben wieder nur Ravioli aus der Büchse.

   Ich tuckerte dann mit meinem Mini durch die Innenstadt. Sechzehn Uhr. Stop-and-go-Verkehr. Da merke ich erst, was das für ein Schrottkübel ist. Das stinkt durch al­le Ritzen. Gleich hatte ich wieder das tolle rote Ding von Karl vor Augen – und Karl selber und die alte Penne, über die wir geredet hatten. Der zu dieser Uhrzeit übliche Stau – dazu Gedankenstau: Schulzeit, Herrgott. Kindheit wäre noch erträglich, aber Schulzeit alleine? Da kam mir ein Einfall. Ich passte mich in die nächste Parklücke ein. Ich hatte ein Thema ge­funden. Man muss kreativ sein und initiativ, versicherte ich mir, man muss immer – nicht nur gut, sondern besser sein, wie Karl sagte. Mit etwas Besonderem aufwarten können muss man.

   Den Mann auf der Straße befragen.

   Ich ging und hielt sofort Ausschau.

   Mist, der Fotoapparat liegt im Auto! Ich rannte zurück, denn ich wusste ja, dass die Leute williger werden, wenn man sie knipst: Die Leute schlagen in der Früh die Zeitung auf und entdecken ihr Konterfei, das sie gerade noch im Spiegel vor sich hatten. Da freuen sie sich und sind stolz ..."

 

   Du lachst böse. Stellst fest, dass es fürs Erste aus ist. Einzelne Blätter jetzt nur noch von dieser Notiz. Du hast es damals sein lassen wollen. Nur mal so diese Begegnung niederschreiben. Vielleicht auch, weil dich die Gedanken an Karl nicht losgelassen hatten.

   So ein bescheuerter Einfall.

   Lasse dich mal hier jetzt frisch einbinden. Den Verband wechseln, heißt es wohl, es beginnt zu jucken. Du passt die Schwester ab. Aber einstweilen kannst du ja die einzelnen Zettel lesen ...

   "Befragung über die Schulzeit:

   Erste Äußerung (Typ von Mitte sechzig, hagerer Baskenmützenträger): Ich glaubte stets, dass ich davon überzeugt sein könne, dass der konzentrierte Erwerb von Allgemeinbildung eben nur einen Abschnitt im Leben verkörpere ... Der Mann lächelte: Einmal muss es natürlich sein Ende haben, junger Mann, belehrt er mich. Sehen Sie, ich bin jetzt Mitte sechzig und werde in Pension gehen. Staunen Sie: Ich habe mich schon immatrikuliert und werde auf meine späten Tage meinen Doktor machen!

   Ich lobte ihn. Das muss anregend gewirkt haben: Jetzt ist alles anders. Ich besaß, nicht immer diese positive Einstellung zur Schule. Ja, es war Jahrzehnte sogar so, dass mich nichts hätte bewegen können, an diesen Klassentreffen teilzunehmen, wie sie allenthalben von irgendwelchen ausgerufen worden waren. Ach, gehen wir uns doch irgendwo setzen, dann erzähle ich Ihnen weiter!

   Ich folgte ihm eher unwillig. Er stakte voran und redete drauflos: Auf so etwas angesprochen, hatte meine Ausrede immer gelautet: Ich trüge ja durch mein Erscheinen bei so etwas nur dazu bei, dass eine Mode daraus entsteht; am Ende komme es dahin, dass sich sogar Strafentlassene jahrgangsweise träfen!

   Er war jetzt stehen geblieben, schien auf irgendeine Reaktion von mir zu warten. Ich rang mir ein kurzes Lachen ab, das mir allerdings nur eher als ein Husten gelang, bedankte mich und wollte mich davonmachen. Er hielt mich jedoch am Ärmel fest: Auf diesen natürlich ganz bewusst erzeugten Schwachsinn hin trollten sich die Lader meist kommentarlos von hinnen. So galt ich wohl als hoffnungsloser Fall und hatte meine Ruhe. Hingegen jetzt sehe ich das alles ganz anders. Er reichte mir die Hand: Selbstverständlich lasse ich jetzt kein Treffen mehr ungenutzt verstreichen!

   Ach ja, gab ich von mir, es wird ja auch immer ruhiger, wenn Sie sich da treffen. Denn Ihre Gruppe schmilzt dahin, aus ganz natürlichen Gründen!, konnte ich mir nicht verkneifen."

 

   Es kribbelt wieder unterm Verband. Du legst das Blatt auf den Papierstoß und schrappst mit den Fingerspitzen an den juckenden Stellen. Ein Geräusch von nebenan, das ein Lachen gewesen sein konnte. Du klingelst nach der Schwester. Als sie endlich eintritt, klagst du ihr deine Beschwerden. Sie wolle es weitergeben – und zieht ab. Da hörst du gleich den Kommentar, dass das die Heilung sei, aber eben nicht nur die. Das gibt er vor, ganz genau zu wissen, dass da mehr dahintersteckt. Aber du hörst da nicht weiter zu ...

    "Fortsetzung der Befragung. Aber zunächst nur ein Vermerk resümierender Natur: Ich hatte jetzt eher Sehnsucht nach einem einfachen Gemüt, das mir auf meine Frage nach der Schule etwas Deftiges und bekanntermaßen gleichwohl Unerfüllbares anbieten und dann davonpoltern würde. Aber ich strich mein Vorhaben und setzte mich wieder ans Steuer – war in Gedanken wieder bei Karl. Ob ich den in nächster Zeit wieder einmal treffe?, ging mir durch den Kopf.

    Man hat sich mit der alten Klasse noch nie getroffen. Überhaupt Schule, was soll' s?, fragte ich mich. Der eine macht mehr, der andere weniger daraus. Unbestritten, ein Zeugnis ist nur so viel wert, wie man daraus macht. Vielleicht kann ich aus der ganzen Schose, die mich offenbar doch nicht loslässt, doch noch etwas machen? Ein Thema? Mitunter gibt es irgendwann einen Aufmacher ab? Einleitende Gedanken zu gegebenenfalls einem Kollektiv im Blatt: Ausbildung und Schule ... Und es dem Chef schmackhaft machen mit Anzeigengeschäft, denn es gibt immer mehr, die irgendwie Bildung verkaufen wollen: Alle möglichen Kurse, Nachhilfe und schulähnliche Gebilde sprießen wie Pilze aus dem Boden. Eine verschulte Gesellschaft, die unsere ...

   Es wird mich wohl noch eine Weile umtreiben. Ich bin mir bewusst, dass der Auslöser für das alles in mir im Grunde Karl war ..."

 

   Jetzt trampelt die Oberschwester herein. Es war doch erst Visite, denkst du. Typ Erzengel Michael. Ein stechender Blick aufs Nachbarbett: Stuhl gehabt, Herr Sänger?

    Bei diesem Ton fährt es einem eiskalt über den Rücken.

   Nein!, tönt es ahnungsvoll zurück – und Sänger hat einen Zusatz gewagt, dass sie ihn doch erst vor der Operation völlig leergemacht hatten.

   Nein, keinen Stuhl!, wiederholt sie genussvoll. Sie scheint Sängers Anmerkung überhört zu haben.

   Ein Racheengel!, geht es dir durch den Kopf.

   Häme blitzt aus ihren Augen. Während sie das Nein energisch auf der Betttafel notiert, beleben sich ihre welken Züge. Irgendwas Lüsternes scheint auf. Man ist ja sonst nicht so verhalten, nicht wahr, Herr Sänger!, hat sie scharf angemerkt. Man ist sehr flink für sein Alter, erzählt man sich seit neuestem bei uns hier. Sie setzt nach: Kaum aufgewacht, da muss man gleich wieder überall hingreifen, wo man überhaupt nichts zu suchen hat. Wo man doch in diesen seinen Jahren eher ein Gebetbuch in diesen seinen Händen halten sollte! Dem schickt sie noch ein paar Stöße von so etwas wie Lachen hinterher.

   Sänger schweigt ahnungsvoll.

   Dann ist sie an deinem Lager und schleudert dir die gleiche Frage entgegen, wenn auch geringfügig gemäßigter im Ton. Auch du musst verneinen. Es muss sehr kleinlaut geklungen haben.

   Die Tafel an der Bettlade eingehakt und ohne Gruß hinaus.

   Verfluchte Haubitze!, hörst du vom Nachbarbett her.

   Diese Frau, ein Racheengel, denkst du. Rache, wofür?, fragst du dich. Rache für ihr versäumtes Leben vielleicht. Das wäre ja Sängers Thema. Sie sieht so aus, als ob sie in ihrer Festung alles verwahrt und eben verwartet hatte. Bis sie selber von Dornen durchwachsen war. Ach du meine Güte: Ein Dornröschen, das kein Prinz wachgeküsst hat.

   Das Essen klappert herein. Was gibt es?      

   Es hat auch wieder seine Vorteile mit der Regelmäßigkeit hier, was, Sänger Franz? Für Single wie dich und mich, hast du betont.

   Was?, hat er mit vollem Mund gefragt.

   Einschichtige sind wir, oder? Aber du holst dir, was du brauchst, Sänger, ha?

   Drauf kannst du einen lassen!, seine Antwort.

   Kaum ist das Geschirr weggeräumt, da wird die Tür aufgerissen. Es taucht eine massige Gestalt auf. Ein Hüne in Weiß steht plötzlich im Zimmer. Keiner vom Typ Doktor, wie man sich Doktor einbildet. Er hat etwas Zupackendes an sich, schon wie er sein Werkzeug auspackt. Du weißt, was jetzt kommt. Du wartest ergeben auf seine Verrichtungen. – Auch an dir?

   Na, hat er seine Aktion eröffnet: Jetzt wollen wir einmal durchs Hintertürchen! Er hat dir auch gleich eine Rakete gereicht: Hier der Fingerling. Dann gut reinschieben, gut rein! Klar?

   Klar, hast du das Echo gemacht – und befolgst seine Anweisung, heilfroh, dass es nur so etwas ist.

   Beim Herrn Sänger Franz müssen wir etwas in die Steinzeit zurück mit unserer Entleerung!, hat er bestimmt und ist mit einem Behälter, an dem ein roter Gummischlauch befestigt ist, an Sängers Bett getreten. So, jetzt dürfen Sie ihn gleich einführen!, tönte es hämisch. Richtig schön rein! Die Öffnung kennen sie ja!

   Sänger Franz scheint zu wissen, was auf ihn zukommt. Er stöhnt. Er stöhnt weiter, während er offenbar die Weisung befolgt. Während dann der Pfleger das Gefäß hochhält, um das laue Seifenwasser in Sängers Kanal sickern zu lassen, jammert der über höllische Qualen und dass er alle hier in die Hölle wünsche. Zwischendurch schimpft er auf das ganze andere Geschlecht, das nichts anderes könne, als Ärger in allen teuflischen Spielarten zu bereiten. Dass jeder Mann ja auf Erden schon durch das Fegefeuer gehe.

   Barbarisch, denkst du und wendest dich ab. So ein Ding von früher. Das hat man als Junge auch gekriegt. In unserem klösterlichen Kasten damals, wenn man sich ins Krankenzimmer gelegt hat mit irgendwas. Das war die Hürde, die man nehmen musste. Da hieß es: Erst einmal ausräumen. Der Mönch vom Krankentrakt kam immer gleich mit so einem Ding da an. Wer sich dem aussetzte und es durchstand, der galt als wirklich krank und durfte bleiben.

   In deinem Gedärm rumort es. Du willst dich ablenken, langst nach dem Papierberg mit deinen Notizen. Der Griff nach Papier, für danach – wagst nicht über den beinahe Freud’schen Griff zu lachen, aus Angst, dir könnte sich etwas deiner Kontrolle entziehen und einen Schandfleck im Bett abgeben …

   "Notiz 07/84:

   Die Befragung älterer Zeitgenossen nach Erinnerungen aus der Schulzeit ein paar Tage nach dem ersten Anlauf doch noch durchgeführt. Man war in der Redaktion von der Idee zwar nicht gerade hellauf begeistert gewesen, hatte sich jedoch auch wieder nicht ganz verschließen wollen. Sie sparten sich allerdings den Fotografen ein, ich musste alleine losziehen.

Was sich dann zusammentragen ließ, gab am Ende immerhin eine Spalte."

 

   Doch wieder weg damit.

   Es gurgelt in den Eingeweiden. Du kneifst die Backen zusammen. Gönnerhaft lächelnd reicht dir der Pfleger die Pfanne. Passen Sie in Zukunft auf den Herrn Sänger auf! Das hat fast wie eine Drohung geklungen. Was das mit deinem Problem jetzt zu tun habe?, willst du eigentlich fragen. Du hältst dich zurück, denn man muss annehmen, machst du dir vor, dass sie noch ein paar Methoden zur Disziplinierung draufhaben. Du hättest ihm aber gerne etwas angeboten, was auch wieder als Abschluss deiner Verrichtung eben geeignet wäre.

   Nach der Entleerung nimmst du die Papiere wieder zur Hand. Es ist alles Entäußerung – im Leben, das Leben selber!, bemitleidest du dich. Selbst das Schreiben ist Entäußerung. Dein Schreiben. Aber was soll’s? Du suchst die Begegnung mit dir als Figur, die immerhin einmal über ein benennbares Ich verfügte. Eine Figur, die sich sozusagen icht.

   Du setzt die Begegnung mit besagter Person fort. Du suchst auf deinem Papier, deiner Landkarte ge­wissermaßen ...

  "Ich notiere im August ’84:

   Die Gedanken machen sich mir seit der Begegnung mit Karl immer wieder in die Vergangenheit davon – ausgerechnet in Richtung Schule. Ich habe zeitweise das Gefühl wegzutauchen. Da lasse ich dann die Arbeit liegen – wie ich für gewöhnlich die Schularbeit hatte liegen lassen. Ich sitze in solchen Momenten am Schreibtisch (auf fantastische Weise unversehens auf der Schulbank) und das vielstimmige Reden um mich herum vereinigt sich auf wunderliche Art zum monologischen Dozieren eines Paukers – geht wie eben dieses als bloßes Geräusch durchs Gehör und ansonsten ziemlich spurlos vorüber.

   He, wo bist du mit deinen Gedanken?, geht mich da doch auch mal wer an. Hast du eigentlich zugehört? – Meine Abwesenheit wird jedenfalls erst deutlich, wenn ich reagieren und vielleicht auf etwas antworten hätte sollen. (Man hat immerhin von der Schule her noch jenes Mitmachergesicht im Repertoire: Als geübter Träumer schaute man damit auf ein Objekt, nickte ab und zu, um Aufmerksamkeit vorzutäuschen. In Wirklichkeit blickte man allerdings durch den Gegenstand hindurch, freilich, an Durchblick nicht interessiert. In dieser Lage bereitete nur die sinnvolle Reaktion, beispielsweise auf eine Frage, ein wenig Schwierigkeiten. Man konnte sich ja nicht immer wieder mit 'würden Sie bitte wiederholen' retten.)

   Da mir (wie gewöhnlich) die Zuhörer fehlen, will ich es wenigstens einmal niederschreiben (vielleicht befreit es mich – ich weiß zwar allerdings nicht genau, wovon).

   Also: Wenn ich am Morgen ins Bad gehe, ist es mir manchmal für einen Augenblick zumute, als hätte ich diesen vereinigten Mief von Zahnpasta, Urin und Dielenöl in der Nase, der sich in der Früh immer in den Gängen zwischen Waschraum und Schlafsaal breit machte und zarte Ansätze des manchmal von der Küche heraufziehenden kaffeeähnlichen Suds verdrängte. Da taucht auch gleich diese stumme, verschlafen tölpelige Bewegung von damals wieder auf, in der man alles mehr oder minder mechanisch vollführt hatte: Sich aus den Federn rappeln; in den Waschsaal schlurfen; das Gesicht voll Abneigung mit ein paar Händen kalten Wassers befeuchten (alle paar Tage sogar mit dem Waschlappen unter die Achseln fahren); die Zähne schrubben; zurücklatschen; die Klamotten überstreifen; das Bett richten; in die Kirche – und dort das Auf-und-Nieder und Mit- und Nachsprechen; zum Frühstück – und mit der Wärme und Fülle im Bauch die ersten einigermaßen angenehmen Eindrücke haben.

   Ab und zu versuche ich es sogar, muss ich eingestehen, ein wenig nachzuspielen und tölple so dahin. Schließlich richte ich in meinem Kopftheater auch noch diese dunkle Gestalt am Rande der träge bewegten Szene ein, deren aufmerksame Blicke uns unentwegt begleitet hatten: Bruder Ägidius, der Präfekt, ist dann da. Er sieht von weitem wieder aus, wenn er so in seinem knöchellangen schwarzen Rock regungslos dasteht, wie die versteinerte Mutter ...

   Du lieber Himmel, die gute Mutter! – Ach, Junge, was machst du denn?, würde sie jetzt vorwurfsvoll gefragt haben ...

   Aber es war ja Ägidius, der da in meiner Erinnerung herumstand. Einer von diesen Weltkriegsveteranen damals. (Wohl kaum einer von denen konnte die Schrecken des Krieges so richtig verarbeiten – vielleicht wurde auch so mancher nur mit dem Staunen nicht fertig, bei dem ganzen Wahnsinn glimpflich weggekommen zu sein. Sie hatten die harschen Gewohnheiten des Kommisses noch in den Knochen. Vermutlich karrte jeder sein Bündel vor sich her, vielleicht stürzten sie sich zur Ablenkung in irgendeine Sache: Schaufelten Geld mit der gleichen Existenzangst, in der sie zuvor den Schützengraben gebuddelt hatten. Sie erzeugten so aber das Wirtschaftswunder. Wenn sich einer nach dem Weltkriegstheater eine Kutte überstülpen hatte lassen, wie unser Ägidius, raffte er eben unaufhörlich Himmelsgüter.)

   Dieser Ägidius, ein schwarzer Strich mit Gebetbuch und Rosenkranz, war immer gegenwärtig gewesen, bis auf die Unterrichtszeit – während der Ägidius vielleicht, unsere Abwesenheit nutzend, die Schränke kontrollierte. In der Schule hatte es dann wieder andere Aufsichten gegeben.

   Man war immer unter Aufsicht gestanden – als Vorbereitung auf das richtige Leben.

   Ein weiteres Eingeständnis:

   Es ist mir auch schon wiederholt passiert, dass ich mit diesen Gedanken im Kopf vom Bad ins Schlafzimmer und zum Kleiderschrank gegangen bin. Ich habe dabei vergessen, was ich mir eigentlich vorgenommen hatte. Ich habe dann angefangen, erst die Unterwäsche, dann die Hemden auf Kante zu stapeln. Das läuft stets ganz mechanisch ab. Eine Dressurleistung eben. Die ausgeflippte Situation wird mir erst richtig bewusst, wenn ich vielleicht schon dabei bin, auch die Socken ordentlich aufzuschichten. Ich wundere mich über mich selber, bringe jedoch die Aktion – unter der dazugehörenden Drohung, dass widrigenfalls eine Aus­gangssperre fällig wäre – pflichtbewusst zu Ende. Auch heute ist mir das widerfahren. Ich setzte mich danach noch einmal an den bereits aufgegebenen Früh­stückstisch und machte mir noch eine Tasse Nescafé – wobei mir der eigenartige Geruch meines Gebräus die Erinnerung an den Muckefuck von damals ins Gedächtnis rief.

Verrückterweise war ich dann beim ersten Schluck neugierig, ob es mit dem Geschmack auch so stünde, wie mir das der Geruch andeutete ..."

 

   Wenn du den Löffel abgibst und man deine gesammelten Geständnisse findet!, überfällt dich jetzt.

   Im hohlen Gekröse gurgelt es. Wenn sie hier sonst nichts beherrschen, bist du ärgerlich, über den Darminhalt sind sie Meister.

   Ob deine Schreibe dann der einzige Nachweis deines Dagewesenseins ist? Wenn ja, für wen?

   Die Suppe dann macht dich friedlicher. Du hast deine Blätter wieder im Kopf, die du schon mal Landkarten deines Selbst genannt hast. So für eine Wanderung ... Seelenlandschaft ist dir an dieser Stelle in den Sinn gekommen. Doch du hast es sein lassen und dich um den Einfall nicht weiter bemüht.

   Du willst denen in diesem Laden hier mit deinem Jucken auf die Nerven gehen. Die Rache des eingewickelten Patienten – willst du dir selber als Joke andrehen. Du kratzt dich und klingelst und kratzt dich.

   Die Schwester schüttelt dir lediglich das Kissen auf. Sie sagt, dass man dir die Verbände zur rechten Zeit wechseln würde. Wann das sei, hat sie nicht beantworten können. Es geschehe auf Weisung des Arztes und fiele nicht in ihre Zuständigkeit. Du hast gemault, dass das ja schöne Zustände seien, genau noch wie im vorigen Jahrhundert. Darauf ist sie eingestiegen. Sie hat dir tatsächlich zugestimmt. Du wunderst dich. Sie hat sich ereifert, dass sie ja heute immer besser und umfangreicher ausgebildet werden. Dass sie trotzdem keinerlei Entscheidungsbefugnis besäßen. Dass sie sogar am wissenschaftlichen Fortschritt Anteil nähmen, zwar nicht als Forschende, aber immerhin als Anwenderinnen. Und zwar als super aufmerksame Auf- und Übernehmende. Wo man heute topp drauf sein müsse in diesem Job, wo’s immer mehr Ärzte gebe, die nicht mal eine Spritze richtig setzen könnten ...

   Wissenschaftlicher Fortschritt!, wiederholst du beeindruckt.

   Sie ist noch wütend und wegen ihres Redeflusses ein wenig außer Atem.

   Du befürchtest, dass sie vielleicht auch mal so ein Racheengel wird.

   Sie schüttelt noch bei Sänger am Kissen herum. Dann ist sie weg.

   Dem Alten scheint die Erregung der jungen Frau gutgetan zu haben. Sein zufriedenes Brummeln. Dann hat er dir erzählt, dass da mal ein Tierfilm war. Flusspferde oder wie die Fleischkolosse heißen. Eine ganze Herde. Hitzig waren sie. Da war ein fast abgelebter Bulle: alt, einsam, ausgestoßen, aber noch einmal ...

   Wie er sich in das Vieh hineinversetzt!, warst du überzeugt.

   Abseits – wie eben die Alten überall sind, hat Sänger lamentiert. Nichts mehr zu melden. Da hat sich aber eine junge Kuh an den Alten rangemacht, erzählt er, scheint richtig aufgeblüht und hat seinen Salbader nicht mehr so durchhängen lassen. Es ging tatsächlich doch noch was. Sänger schmatzt wieder so wie was Gutes zum Essen ...

   Du kannst dir vorstellen, was bei Sänger jetzt im Kopf vorgeht. Du denkst, dass da wieder was kommen wird von früher. Du willst abschalten, blödelst dich damit weg, dass es die früher nicht so mit dem Wasser gehabt haben, dann sicher auch nicht im Wasser ...

   Dann kramst du wieder nach deinen Papieren und bist dir wieder ganz im Klaren, dass du da eigentlich nach dir selber suchst. Nach deinem Ich. Das du allerdings ruhig abhandengekommen sein lässt – vorerst jedenfalls.

  "Immer dichter werden die Eindrücke von der Zeit damals (ich gebe dem nach, und zwar in der Erwartung, dass sich die Vergangenheit dann nicht mehr so unerwartet und unkontrolliert in meinen Alltag einschleicht und mich womöglich vor mir selber bloßstellt):

   Sonntags war im Internat immer eine Stunde länger Schlafenszeit gewesen, lasse ich mir durch den Kopf gehen, während ich so vor der Tasse sitze. Da war erst um sieben geweckt worden. Man nahm sich dann auch zu seiner Toilette mehr Zeit. Es war nicht etwa so, dass man diese mit gründlicheren Waschungen vergeudet hätte. Man hatte immerhin einmal in der Woche Baden. Man betrieb etwas Schönheitspflege, traktierte ungeniert, wenn auch besorgt, einen roten Fleck auf Stirn oder Wange; drückte die Haarpracht, die mit reichlich Pomade diszipliniert worden war, kunstvoll zurecht. Man wurde, vorzugsweise bei derlei wichtigen, aber in den Augen von Ägidius nichtigen Handlungen, an das Füßewaschen oder ähnlich niedere Pflegemaßnahmen erinnert. Wir standen allerdings über derlei Anpöbelungen, denn wir wussten ja, von wem sie stammten. Diesem herben Veteranen, der ja lediglich die Uniform mit der Kutte getauscht hatte, spitzten nämlich aus den groben Schnürstiefeln statt der Socken graubraune Fußlappen hervor. Dieser Beweis seiner in unseren Augen ästhetischen Idiotie kam meistens dann zum Vorschein, wenn Ägidius in der Studierzeit auf dem Podest seines Pultes thronte und die Hosenbeine im Sitzen etwas hochgerutscht waren. Obwohl längst bekannt, hatten wir doch stets unseren Spaß damit. Mal freute uns mehr, dass die Hosenbeine aus unerfindlichen Gründen wieder ungleich lang waren, mal konnten wir uns an den freigelegten dünnen weißen Beinen erheitern. Am meisten bewegte uns allerdings die Frage: Hat er heute wieder diese unglaublichen Lappen oder ist er endlich auf Socken umgestiegen? Jedenfalls wurden wir nicht müde, uns gegenseitig darauf hinzuweisen. Mit irgendwelchen Geräuschen wurden auch die in ihre Arbeit noch vertieften oder die vor sich hin dösenden Kameraden informiert, dass es wieder was gab. Man durfte sich bei der Feixerei allerdings nicht erwischen lassen. War es doch grundsätzlich nicht ratsam, eine offene Regung zu äußern, wenn Zeitpunkt oder Gelegenheit von unseren Dompteuren dafür nicht freigegeben oder vorgesehen war. Ertappt, hätte man sich rechtfertigen und bei misslichem Ausgang irgendeiner Bußübung unterziehen müssen, wie etwa eine halbe Stunde oder auch länger vor dem Pult zu stehen."

 

   Dein Bettnachbar Sänger tut eigentlich auch nichts anderes, überkommt dich, als du das erste Blatt weglegst. Er sucht ja auch nur nach sich selber. Was von ihm noch übrig ist, sucht er. Weil da nicht mehr viel ist, da kramt er in der Vergangenheit ...

   Wie viel ist von dir – noch?, schockt dich ein wenig.

   Es ist ja ganz natürlich, denn wenn man sich nicht mehr wahrnimmt, dann ist man doch wohl nicht mehr ...

  "Ich aktiviere jetzt, wie der Neue aufgetaucht war:

   Karl Mentenheim war als Seiteneinsteiger zu uns gekommen. Die meisten hatten zu dieser Zeit etwa vier Jahre im Internat hinter sich. Einer schien dem anderen durch und durch bekannt. Wo man voneinander etwas nicht wusste, wurde mit Fantasie überbrückt.

   Karl war also eines Tages plötzlich da, war zur Studierzeit hereingeführt und vorgestellt worden: Der Neue!, trompetete Ägidius in den Saal. Sag' selber, wie du heißt!, forderte er.

   Karl.

   Man hatte es gerade noch verstanden, wollte aber doch etwas Aufsässiges herausgehört haben.

   Man schaute kurz auf. Armes Schwein, dachte man sich ...

   Na, mach' schon!, forderte Ägidius und gab diesem Karl einen Schubs, du heißt doch nicht nur Karl! Wir leben schließlich nicht mehr bei den alten Germanen! Verstanden? Diese Heiden kamen doch tatsächlich noch mit dem Vornamen alleine aus!

   Karl bekam erneut einen Rippenstoß versetzt: Na los, mach' schon, sage endlich deinen ganzen Namen wie ein anständiger Christenmensch!

   Man wird Karl umgehend aufklären müssen über diese Sorte von Schwarzkittel, dachte man sich zornig. (Wir benutzten diese waidmännische Bezeichnung des Wildschweins für die Kuttenträger bevorzugt in solchen Situationen.)

   Mentenheim, Karl!, klang es – und zu unserer Freude deutlich trotzig (einige glaubten später, bei Karl sogar geballte Fäuste gesehen zu haben).

   Das ist ja ausgesprochen zweckmäßig, spottete Ägidius, dass du auch einen Namen hast, sonst müsste man ja sagen: Der mit den komischen Haaren!, setzte er noch drauf und wies dann dem Neuen einen Platz zu. (Natürlich mussten sie den Familiennamen wissen, sonst hätten sie einen nicht anzureden gewusst mit ihren Manieren vom Kasernenhof.)

   Man schaute auf die Frisur von diesem Karl Mentenheim. Was Neues, erkannte man sofort. Nicht so etwas mit bravem Scheitel, sondern ganz stark nach hinten gekämmt – ach was, gestylt! Vorne, das war einigermaßen unerhört, vorne waren seine Haare zu Stiften gestutzt. Das sah toll aus! Aber es war sicher, dass die Alten hier gehörig daran herummäkeln würden.

   Man dachte dann noch ein wenig über den Vorgang nach, auch darüber, was das für einer sein konnte, den seine Eltern hierher abgeschoben hatten. Dieser Karl kam jedenfalls von draußen. Draußen, das war ein Gü­tezeichen. Dem Draußen gehörte unsere ganze Aufmerksamkeit. Dieses Draußen, das wir nur noch von den Ferien her kannten – und aus Briefen. Dieser Karl Mentenheim, hatte bis jetzt anders, eben richtig le­ben dürfen, eben zu Hause. Wehmut überkam einen bei dem Gedanken ans eigene Zuhause. In der molligen Wärme der Familie lebte und gedieh ja die Übereinkunft, die Absprache und andere, wenn auch mitunter aufwändige, so doch immerhin die Freundlichkeit der Regelung des Auskommens miteinander. Während hier die harschen Bestimmungen von Haus-, Schul- oder sonstigen Ordnungen das Raster abgaben, in das man sich gepresst sah.

   An dieser Stelle landete man häufig mit seinen Gedanken. Lag man im Bett, leistete man sich auch ein­mal eine Träne, auch wenn man bereits auf die Fünfzehn zuging, es tat einfach gut. In der Öffentlichkeit des Studiersaales, wo man sich jetzt befand, wa­ren die Weichen selbstverständlich auf Tapferkeit zu stellen.

   Jetzt war dieser Neue da. Der ist okay, hieß es in der Teepause dann gleich: Der provokative Sound, den er da vorgelegt hatte nach diesem blöden Boxer von Ägidius. Und überhaupt seine Haare!

   Für gewöhnlich und nicht selten zum boshaften Ge­nuss der Anderen, erfuhr ein Neuankömmling die Sonderheiten der Gesellschaft, in die er geraten war, nur durch Versuch und Irrtum – und mitunter handgreiflich schmerzhaft. Karl gegenüber waren wir jedoch ausnahmsweise fürsorglich bereit, sofort Einweisung in die Gepflogenheiten vor Ort zukommen zu lassen. Selbstredend ließen wir ihm auch Aufklärung angedeihen in Sachen Spitznamen und Charaktereigenschaften unserer Bändiger. Man vergaß nicht, Karl vor un­beliebten Mitschülern zu warnen, insbesondere vor solchen, die sich als Spitzel und Zuträger verdächtig gemacht hatten.

Der Neue, dieser Karl, konnte also bei uns ohne Verzug über einen Vertrauensvorschuss verfügen und war auch gleich umgetauft worden. Er hieß fortan Charly ..."

 

   Da ist jetzt dieser junge Arzt an Sängers Bett. Du musst ihn immer wieder ansehen. Gestern war er schon da. Dir ist, als müsstest du ihn kennen. Heute ist sein Schnupfen so richtig ausgebrochen. Aber wo­her kennst du ihn – wenn du ihn überhaupt kennst. Die Sache da mit Karl Mentenheim hast du eben gelesen, wie der aufgekreuzt war ... Freilich, da war doch damals noch was. Dieses verrückte Huhn da, Babyface, war dabei wieder in Aktion getreten. Der Doktor hier hat dich draufgebracht, wie der aussieht. Der könnte der jüngere Bruder von unserem Babyface sein. Was aus dem wohl geworden ist? Er war schwächlich. Aber ein Schlitzohr. Mottl, jetzt ist es wieder da! Ägidius hatte Karl gerade aufgefordert gehabt, seinen vollen Namen zu nennen. – Klar, das gehört noch zu dieser Szene! – Ja, was ist, Mottl?, war Ägidius ärgerlich, weil er sich in seiner Handlung gestört sah. Er winkte jedoch lachend, noch bevor Babyface antworten konnte, seine Frage wieder zurück. Ach, ich weiß schon, unser Kleiner! Also gut, gehe ruhig austreten, bevor es dir in die Hose geht. Ägidius war gut drauf: Mottl, du siehst ja, dass wir hier jetzt mit etwas anderem beschäftigt sind!

   Babyface war brav aufgestanden: Nein, danke schön, Herr Frater, sagte der Komiker, ich muss ja gar nicht aufs Klo! Sondern ich möchte etwas sagen dürfen!

   Ägidius maulte: Mach' schon, damit wir endlich den Namen von diesem Karl da erfahren!

   Also, das ist es eben!, druckste Babyface rum: Ich will nur Folgendes feststellen: Selbst Kaiser Karl hieß nicht bloß Karl!

Sondern?, schnaubte Ägidius.

Wir alle im Chor: Sondern Karl der Große! Es war sonderbar: Man schimpfte sich in ein Lachen hinein ...

    Du schaust wieder zu der medizinischen Rotznase hinüber.

   Du musst lachen. Der Doktor mustert dich kritisch. Du nickst ihm freundlich zu – und nimmst dein Papier wieder auf. 

   "Mehr von diesem Mentenheim und der klösterlichen Gesellschaft, in die er geraten war:

   Dieser Charly hatte was Besonderes an sich, das war gleich klar. Überhaupt war der Name Charly, den wir ihm verliehen hatten, ein Gütezeichen, das für al­les Moderne und Angenehme stand. Darin klang etwas von dieser lässigen Musik mit, die wir begierig, meist heimlich aus eingeschmuggelten Transistorradios hör­ten. Man dachte dabei an enge Hosen und weite Pullover. Vor allem deutete der Name Charly cooles Verhalten und freie Umgangsformen an.

   Man wollte Ami sein. Kein Besatzungs-Ami, sondern Ami auf einigermaßen intelligente Weise, so wie im Film vielleicht. Vielleicht wie dieser schreibende Supermann Hemingway. Von dem man schon – allerdings auch wieder nicht in dieser Schule – gehört hatte. Oder der Schauspieler Humphrey Bogart, mit Schlap­phut, Trenchcoat und Charakter. Filmschauspieler wä­re etwas gewesen, nach allem, was man sich darunter vorstellte. Man hatte schließlich Einblick, nämlich dank der bei uns heimlich gehandelten Illustrierten und des bereits starke Eindrücke hinterlassenden Fernsehens (nach unserer Einschätzung eine vorzügliche Bildungseinrichtung, die man allerdings nur draußen genießen konnte, da sie unsere Schule noch nicht erreicht hatte).

   Charly schien, wie man sagt, den Regenbogen in der Tasche zu haben. (Mich hingegen nannten sie Tom. Ich hätte mir ja etwas darauf einbilden können, weil das ebenfalls aus Übersee stammte. Denn als Indianerhäuptling oder Westernheld hatte man sich dort in seinen Tagträumen immer wieder herumgetrieben. Aber Tom war bereits vom Klang her anders als Charly. Es hörte sich irgendwie dumpf an. Daraus hätten die Schufte doch wenigstens einen Tommy machen können. Aber meinen diesbezüglich wiederholt – Schwächeren gegenüber sogar unter Androhung von Prügeln – unternommenen Vorstößen war kein Erfolg beschieden.)

   Charly war so, wie wohl viele zu sein wünschten.

   Oder Charly überflog uns, die Masse. Hühnerhof mit Hackordnung. Da ist ja ein Exemplar etwas ganz Besonderes, das ungestraft den Hals herausstrecken darf.

   Bereits Charly's Äußeres! Man hat ihn dann auch mal mit James Dean verglichen. Aber das konnte sich natürlich nicht halten. Charly besaß nämlich so gar nichts von James' zorniger Traurigkeit. Dann wuchs Charly dem etwas kurz geratenen James Dean sozusagen von fern über den Kopf. Dass sich J. D. mit seinem Auto zu Tode gerast hatte, konnten ihm sowieso nur depressive Typen verzeihen.

   Bald trugen etliche von uns eine Charly’s Frisur nachempfundene Haartracht: mittellanges, streng nach hinten gekämmtem Haar, das vom Stirnansatz her auf einer fast Handteller großen Fläche zu Stiften gestutzt war, die steil in die Höhe stehen mussten.

   Bei Charly sah das eigentlich nicht übertrieben aus, im Übrigen kannten wir ihn gar nicht anders. Aber unsereiner musste um den richtigen Sitz des Kopfschmucks ringen: Die langen, nach hinten gekämmten Haare wollten nicht gleich in dieser Stellung bleiben, und den Stiften war nicht gleich beizubringen, was eine Senkrechte ist. Die Natur höhnte (wie so oft) der Mode. So wurde das Styling eben mit Pomade und Öl erzwungen. Man musste sich immer wieder kämmen oder die seitlichen Haare wenigstens mit der Hand nach hinten streichen und anpressen. Vorzugsweise bürstete man sich mit einem Kunststoffigel. Obgleich unpraktisch und hinderlich, sah es ganz schick aus, dauernd so ein rundes Ding im Handteller zu haben. Auf keinen Fall durfte man eine spiegelnde Glasscheibe übersehen (richtige Spiegel waren Mangelware in dieser rauen, auf Innerlichkeit konzen­trier­ten Männerwelt dort), in der man die Vollendung seines Haarwerkes kontrollieren und überhaupt die eigene Erscheinung begutachten konnte.

   Dass unsere Bemühungen um das Outfit mit Verwunderung, vielleicht sogar Misstrauen beobachtet würden, war von uns durchaus beabsichtigt. Bei Bruder Ägidius haben allerdings unsere Unternehmungen nicht erst Argwohn, sondern umgehend Abscheu hervorgerufen. Er brachte das durch spitze Bemerkungen zum Ausdruck: Viel Frisur auf, aber nichts im Kopf. Auch schreckte er nicht davor zurück, die von unsereinem erlittenen Niederlagen bei schulischen Leistungserhebungen öffentlich zu machen.

   Unter der Decke dieser eitlen Handlungen wucherte ja so etwas Beunruhigendes wie die Pubertät. Das leuchtete uns sogar selber ein. Die Beweise lagen offen: Die Stimme war bei den meisten männlich geworden, man gackste nur noch selten. Einige mussten sich bereits jeden zweiten Tag rasieren. Man hätte eigentlich gar nicht mitgeteilt bekommen müssen, was bei den anderen unter der Gürtellinie los war, weil man es an sich selber gewahr wurde. Man erlangte trotzdem gelegentlich Information darüber. Es wurde sogar über gemeinschaftliche Vorgänge in dieser Zone gemunkelt. Es sollte sich da bei der Scola, der Gesangeselite zum Zweck der Gottesdienstgestaltung, so ein lüsternes Grüppchen gebildet haben. (Was immerhin erstaunlich war; denn wir wussten, dass Messdiener und andere Aktivisten beim Gottesdienst im Beichtstuhl selektiert wurden. Wer in irgendeiner Weise geschlechtlich tätig geworden war, schied aus.)

   Die geplagten Erzieher riefen nach Bedarf, aber doch bald jedes Jahr einen im Lande umherziehenden jesuitischen Spezialisten in Sachen sexueller Aufklärung herbei, um des Gärungsprozesses Herr zu werden. Es war der Pater Clemente, ein Fossil, das das Zeitliche bereits so gut wie überwunden hatte. Sein Einsatz galt in den Internaten als pädagogische Waffe gegen die vielfach teuflischen Auswüchse der Entwicklung. Dieses aufklärerische Schlachtross Clemente wurde vor allem zur Rettung der Seelen der Erzähler von Schweinigeleien und der Grabscher und der Selbermacher, welche von der Moraltheologie auch der Selbstbefleckung bezichtigt wurden, eingesetzt.

   Einmal hatten sie von dem Lustzirkel unter den Sängerknaben Wind bekommen und ihn selbstverständlich sofort ausgehoben. Die Sache sollte natürlich nicht publik werden. So tarnten sie das Ausscheiden von zwei Jungen mit gesundheitlichen Gründen. Aber wir wussten ja längst Bescheid. Der Pater Clemente kochte in diesem Jahr immer wieder die 'gemeinschaftlich betriebene Unzucht' auf – was uns hinwiederum Bestätigung der Gerüchte war. Sämtliche Genüsse des Unterleibes, die partnerschaftlich erarbeitet würden, aber nicht zur Vermehrung führten, landeten dieses Jahr als Laster in Pater Clementes Hölle. Dann immer wieder das Gleichgeschlechtliche. Diesem widerfuhr Brandmarkung als besondere Abscheulichkeit und Darstellung als wider die Natur in ausgemachter Weise. Ganze Kulturen seien daran zugrunde gegangen. Wir sollten nur einmal an die alten Griechen denken, wurden wir aufgefordert (wir taten es, und da fiel uns gleich Odysseus ein mit seinen Abenteuern, dass die ganz gescheit waren und schöne nackte Figuren aus Stein gehauen hatten und solche Sachen. Und wir waren doch etwas überrascht, dass das alles keine Fortsetzung gefunden haben soll­te, weil sie mit Sex locker umgegangen wären).

   Als dieser Wanderprediger nach getaner Arbeit abzog, hatte er tatsächlich etwas Betroffenheit gestiftet, mit der man durchaus eine Zeit lang schwanger ging. Überall lauerte dann ein Teufel mit etwas Bösem. Fortwährend stand der Himmel auf dem Spiel.

Nach einer gewissen und lebensnotwendig kurzen Zeit verzog sich die Bedrücktheit allerdings wieder. Sie rutschte einfach in tiefere Schichten der noch geräu­migen Knabenseele (wo sie sich mithin häuslich einrich­tete, um ein ganzes Leben lang von dort her für heilige Ordnung und für ein schlechtes Gewissen zu sorgen.)

   Anmerkung nun, wie es sich mit all den rückwärts gewandten Gedanken in der äußeren Realität leben ließ: Ich kreuzte mitunter – irgendwo so zwischen solchen Gedanken – in der Redaktion auf. Ich suchte mir eine Arbeit. Etwas Einfaches, das Nebengedanken zuließ, etwas aus der Schublade. Zum Beispiel nahm ich mir die Sache da mit der Umgehungsstraße vor: Dutzende von Leserbriefen lagen seit Wochen da, ein Konzert von Für und Wider: Klagegesänge über Verkehrsleiden des modernen Menschen oder volksmissionarische Aufklärung über einerseits Segnungen für den Menschen, andererseits Gefährdungen der Natur ... – und ich war mit dem Kopf immer wieder woanders: sexuelle Aufklärung, du lieber Himmel, die einem durch Leute zuteilgeworden war, die Keuschheit geschworen hatten ...

   Zurück: Man braucht ja in den Leserbriefen nur ein wenig mit dem Rotstift herumzufuhrwerken, kann dadurch verändern, ohne das letztlich verantworten zu müssen. 'Eigene Meinung des Verfassers. Ohne Verantwortung der Redaktion'. Ein Leserbriefschreiber entblößt sich sowieso, was schadet es ihm, wenn man ihn ganz entkleidet?

   Während ich so an den Texten herummachte, gingen die Gedanken weiter fremd: Ach ja, danach die Sache da mit dem Tanzkurs. Man schien ihnen nun durch den theologisch getragenen Sex-Kurs sittlich gefestigt zu sein.

   Weil sich bei so etwas das andere Geschlecht nicht ganz vermeiden lässt, hatten sie Material im weiblichen Internat am Ort gesucht. Wir hatten für diese Einrichtung die Bezeichnung Gänsestall übernommen, originelle Wortschöpfungen lohnten sich nicht. Man kannte die Mädchen von weitem, weil man hie und da einem Pulk von ihnen bei den verhassten sonntäglichen Gruppenspaziergängen begegnet war. Es handelte sich um lauter flachbusige oder babyspeckige Mädchen. Die konnten unserer Vorstellung von Frau, die nun einmal durch die Illustrierten an satten Bildern von italienischen und amerikanischen Filmstars gut geschult war, ganz und gar nicht befriedigen. Wenn man da nur an den riesigen Vorbau dachte: Marylin und Anna und Sophia ... Die obendrein wegen ihrer Ausbuchtungen auch etwas Mütterliches vor sich her­trugen.

   Es war jedenfalls kein Jubel ausgebrochen, als Ägidius uns die Botschaft überbrachte. Um uns doch noch ein Frohlocken abzuringen, verriet er, dass die Sache von einer intensiven Unterrichtung in Umgangs­formen flankiert sein würde. Von hinten war ein Stöhnen zu vernehmen und alle stimmten sofort ein. Ägidius war enttäuscht. Er engagierte sich noch mehr und versicherte, dass bei so einer traditions­reichen Maßnahme wie einem Tanzkurs die Unterweisung in Dingen des Anstands ganz üblich und – setzte er grinsend hinzu – bei uns ja sowieso auch notwendig sei. Damit verstärkte er allerdings unsere unguten Gefühle und erntete Protest. Er meinte, dass wir mit dieser pädagogischen Maßnahme in sozusagen erlauch­te Gesellschaft gerieten, da sich ein jeder Tanzlehrer als ein geistiger Nachkomme des Barons Knigge verstehen dürfe. Dieser habe immerhin vor Jahrhunderten sogar den feinen Leuten noch Manieren beigebracht. Schließlich krönte Ägidius seine Bemühungen mit dem praktischen Beispiel, dass die Gemeinschaft der Tanzlehrer sogar für die Klärung solcher Probleme zuständig zeichnete, ob man heutzutage Kartoffeln und Klöße mit dem Messer zerschneiden dürfe oder weiterhin mit der Gabel zerlegen müsse. Wir wunderten uns noch. Da hatte sich Charly erhoben und Ägidius gefragt, warum er sich so anstrenge.

   Ägidius schaute Charly groß an, und der fuhr fort, dass man so etwas wie einen Tanzkurs natürlich mitnehme.

   Also mitnehmen wollt ihr den Kurs!, regte sich Ägidius auf. Das habt ihr von Anfang an gewusst. Ihr lasst mich trotzdem reden wie einen Vertreter, der einem Rudel von nackten Negern Hosenträger verkaufen will!

   Wir brachen in Gelächter aus. Man stellte sich Ägidius als Hosenträgerverkäufer in einem afrikanischen Kral vor. Charly, der noch dastand, ohne eine Miene zu verziehen, wartete, bis wieder Ruhe war, dann meinte er, zu Ägidius gewandt: Ihr Beispiel ist reichlich abgeschmackt, Herr Frater, nachgerade rassistisch!

    Ägidius zog die Stirn in Falten. Wir waren gespannt, was jetzt kommen würde.

Charly stand ruhig da und wartete. Dann sagte er: Ihr für Menschen benützter Begriff Rudel ist ja in der deutschen Sprache immerhin tierisch besetzt. So werden die nackten Neger in ihrem Beispiel zu so etwas wie Untermenschen – und dergleichen wurde doch erst ganz ausgiebig und mit fatalen Folgen inszeniert hier in unserem Vaterland, nicht wahr?

   Wir staunten nicht schlecht, und Ägidius wandte sich mit einer heftigen Handbewegung ab.

   Charly hatte ganz ruhig gesprochen und sich dann wieder gesetzt. Man sah ihm jetzt doch an, dass er in der Sache engagierter war, als es zunächst den Anschein hatte. Man rätselte. Vielleicht waren sie in seiner Familie davon betroffen gewesen unter den Nazis. Freilich nicht als Neger. Aber dass es die Juden bei Hitler nicht gut hatten, wusste man ja, auch wenn das zu der Zeit in der Schule nicht gerade breitgetreten wurde. Charly und irgendwie jüdisch? Nein, doch nicht Charly, sagte man sich. Doch es gab ja auch Halbjuden, hatte man als Junge mitbekommen. Man glaubte zu wissen, wie jemand auszusehen und zu sein hatte, wenn er irgendwie jüdisch war. Diese Spuren hatte die von Charly angesprochene Zeit auf jeden Fall in den Köpfen hinterlassen.

   Bei Charly war allerdings keines der Kennzeichen zu entdecken, eine dicke, gekrümmte Nase zum Beispiel. So wurde er freigesprochen vom Verdacht, jüdisch zu sein.

   Man meldete sich dann zwar zum Tanzkurs, aber vorwiegend nur deshalb, um einmal in der Woche zu einer späteren Stunde hinaus zu kommen. Da war jene Aussicht einigermaßen verlockend, sich auch ein wenig im Städtchen herumzutreiben ...

   Und die Sache um unsere Schullektüre: Wir waren damals um die Siebzehn, hatten uns (wie es sich eben für Siebzehnjährige gehört) geistig gewappnet gefühlt. Das Licht, von dem wir überzeugt waren, dass es uns aufgegangen war, benötige natürlich Brennstoff. Man bekam einen richtigen Appetit auf Mitteilung und begann, über Karl Mays Schwarten und so etwas wie 'Licht der Berge' hinweg, in die höheren Etagen des Bücherregals zu greifen. Es dauerte jedoch nicht lange, da waren schon wieder alle auf dem Plan, die sich an unsereinem erziehlich betätigen zu müssen glaubten, wollten sich an der Auswahl unserer Lektüre beteiligt sehen. Dazu kam, dass die Lesestoffe nicht mehr nur nach dem aus den Zwanzigerjahren stammenden 'Gesetz zum Kampfe gegen Schmutz und Schund' kontrolliert wurden, sondern zu dem auf eventuell hetzerische und ketzerische Passagen gegen die anständige Gesellschaft und die Religion. Zeitungen, die sie als moderne Pädagogen ausgelegt hatten, waren sodann teilweise geschwärzt. Allerdings konnten sie ihre Augen nicht überall haben. Immerhin galt ja als abgesegnet, was aus der Bibliothek der Schule kam. Dort hatte jedoch einer von uns den 'Engelbert Hiltensperger' entdeckt. Wir gaben diesen dicken Schmöker mit Wonne weiter, handelte es sich dabei doch um einen Text, der wegen seiner zwar den Bauernkrieg abbildenden, aber immerhin antipfäffischen Tendenz bestimmt nicht die Zustimmung unserer Zensoren gefunden hätte.

   Irgendwann aber war dieses Buch nicht mehr greifbar. Da jedoch die Propaganda 'von Mund zu Mund' so wirksam gewesen war, dass einer sogar eine Warteliste geführt hatte, machten sich die Unbefriedigten auf die Suche nach Lesern des mittlerweile hochgerühmten 'Engelbert Hiltensperger', die willens waren, als Erzähler aufzutreten. Man konnte da sein Geschäft machen und ein paar Zigaretten als Lohn oder etwas anderes Rares einstreichen. Das Erzählen machte aber auch ohne dieses Salär Spaß. Man konnte da seiner Erinnerung jede Menge Fantasie aufsatteln, besonders wenn man bei Passagen anlangte, in denen das Kloster nicht gut wegkam, mehr noch bei Stellen wie der, wo der geile Abt von Kempten die junge Hexe verhört und sich in seiner prallen Lüsternheit an ihren Brüsten zu schaffen macht.

   Immer wieder die Frage nach dem Buch – schließlich auch an den Bibliothekar selber. Es sei schon zerlesen gewesen und daher ausgemustert worden. Aber hinter seinem fetten Grinsen steckte nach unserer Überzeugung mehr. Da hatte bestimmt jemand gepetzt. Überhaupt verdichtete sich der Eindruck, dass es eine wachsende Zahl Verräter gab, die sich bei den Dompteuren einzuschleimen versuchten. Unsere eher vertraulichen, da mitunter nicht ganz astreinen Aussprüche waren nämlich ab und zu als Zitatfetzen bei Ägidius, mit angewiderter Miene unterlegt, aufgetaucht ..."

 

   Jetzt läuft hier ums Bett so eine Welle der Verrichtungen an. Weg mit dem Papierkram! Dieses weiße Huschen wieder. Draußen hörst du es klappern. Es sind diesmal nicht die Essenswägen. Der Klang ist allmählich im Ohr. Man kann fast die Schritte den Personen zuordnen.

   Wo ist aber der Sänger Franz? Es ist dir gar nicht aufgefallen, dass er weg ist. Samt dem Bett. Der leere Platz. Sie haben ihn geholt. Was sonst? Irgendeine Verrichtung an ihm. Sie müssen an den Patienten ihre teuren Apparate einsetzen, um Bedarf zu belegen. Die Kosten oben zu halten!, bist du böse.

   Du hast seinen Abtransport gar nicht bemerkt – mit deinem Papier dauernd. Man nimmt sich gegenseitig allmählich gar nicht mehr wahr. Das ist vielleicht so eine Art Selbstschutz, dass man da abschaltet. Der Alte war sowieso ziemlich reserviert, seit du zu lesen angefangen hast.

   Immer noch diese Geräusche draußen, das Rollen und Trampeln. Vielleicht karren sie die Operationen zusammen oder schon wieder zurück.

   Du hast den Sänger freilich nicht teilhaben lassen können an deinen hingekritzelten Selbstgesprächen.

   Bist du ein Schreiberling?, hatte Sänger wissen wollen, dass du da was liest und drin rumschreibst.

   Schreiberling – sein Schreiberling hatte sich wie Engerling und Schädling angehört.

   Wie man's nimmt, warst du ausgewichen. Natürlich haben die Leute so ihre Bangigkeit vor diesen Skribenten, hast du dich gefreut. Die holen's nämlich unterm Teppich vor, was man gerne verdeckt halten würde. Die schreiben ja fest, was besser vergessen werden und vergehen sollte. Die bringen es ans Licht und unter die Neugierigen, zu denen immer alle gehören. Auch wenn die das Meiste gleich wieder vergessen, aber ihren Spaß machen sie sich doch irgendwie daraus. Besonders mit den Gemein­heiten.

   Lesen und schlafen. Du kannst dich gar nicht erinnern, je so viel gepennt zu haben. Essen. Ein bisschen rumfummeln lassen an sich. Eigentlich angenehm.

   Doch du musst deine Lektüre zu Ende bringen. Überhaupt, du bist fast ausgebunden. Beinahe nur noch Pflaster. Die blauen Flecken sind fast weg. Duschen haben sie dich auch schon lassen. Die schmeißen dich bald raus hier.

   Als es ruhiger wird, holst du deine Blätter wieder hervor.

   Du hast das Zeug in der Hand und lachst über dich selber. Es ist kindisch, wie du das immer versteckst. Wie damals. Wenn sie dich mit etwas nicht erwischen sollten ...

Du erinnerst dich, als du einen Blick auf die Notizen wirfst. Da hattest du versucht, verschiedene Rollen zu spielen in der Angelegenheit um Karl ...

  "Ein Versuch als Schwarzkittel, ich also als Klosterbruder:

   Dieser Mentenheim hat uns da etwas eingeschleppt. Man muss sich das vorstellen: Ein einziger Lauser. Dass es so etwas denn früher schon einmal gegeben hätte, kann man sich gar nicht erinnern. Wenn man die Nazizeit – tunlichst – außen vor lässt. Da war zwar auch extremes Verhalten eingeschleppt worden. Diese Gesinnung der braunen Horden, du lieber Gott, und die breite Empfänglichkeit für so etwas. Heute beinahe unbegreiflich. Allerdings kann man dem Mentenheim einen Vergleich damit auch wieder nicht antun! Doch die Nazis waren ja zunächst in un­seren Augen immerhin für eine bürgerliche Ordnung, wollen wir uns erinnern. Ja, sie waren für Zucht und Sitte ein- und gegen die losen, ja haltlosen Verhältnisse der Goldenen Zwanziger angetreten. Daher eventuell die Akzeptanz in breiten Schichten des ordentlichen Bürgertums. Vielleicht war man ihnen kirchlicherseits tatsächlich ein wenig auf den Leim gegangen. Die evangelische Kirche hat das ja tatsächlich offen zugegeben – aber so weit muss man auch nicht gleich gehen. Katholischerseits hat man noch immer auf Zeit gesetzt – und das mit einigem Erfolg. Wie hätte man auch hinter diesen zunächst durchaus verdienstvoll erscheinenden Taten der Nazi auf Anhieb etwas so Teuflisches ausmachen können? – Nun gut, die Judenbuben. Deren Eltern hat man darlegen müssen, dass es wohl besser sei, wenn sie ihre Kinder aus der Anstalt nähmen! Aber das waren ja nur vier oder fünf. Als man das Teufelswerk als solches ausmachen konnte, war es leider zu spät.

   Man muss eben stets höllisch aufpassen!

   Dieser Mentenheim ist obendrein eigentlich zu spät gekommen! Hätte man ihn doch lieber nicht mehr aufgenommen! Eine Spielart der Barmherzigkeit war es gewesen. Vielleicht auch so ein bisschen Druck der Referenzen dieser Familie, denen man sich natürlich und tunlichst auch nicht ganz verschließen konnte. Der Konvent hat all die Jahrhunderte mit der Freund­lichkeit solchen Kreisen gegenüber und eigentlich eher auch davon gelebt. Man muss in Zukunft vorsichtiger sein, auch mit Barmherzigkeit muss man vorsichtig sein, selbstredend, wie man eben mit Gefühlen grundsätzlich äußerst vorsichtig umgehen muss. Überhaupt: Um das Seelenmaterial mit einiger Aussicht auf Erfolg formen zu können, hat man es ganz zu Beginn des zweiten Lebensjahrzehnts in die Hände zu bekommen. Man darf in Zukunft niemand später hereinlassen, auf keinen Fall so ein Früchtchen, das bereits mit allen möglichen Bazillen eitler Weltlichkeit infiziert ist.

   (Anmerkung des Protokollanten in seiner natürlichen Person: Da hatte also unter den frommen Augen etwas um sich gegriffen, dessen sie nicht lenkend habhaft werden konnten. Wenn sie es genau bedachten, mussten sie befürchtet haben, dadurch selber in Versuchung geführt zu werden. Zwar durften sich diese Männer im Einheitsschwarz als ausreichend gefestigt einschätzen und konnten ziemlich sicher sein, keinem knabenhaften Verhalten zu verfallen. Das Problem lag woanders und vermutlich tiefer: Sie hatten nämlich immer verkündet, dass die Versuchung, besser der leibhaftige Versucher, über die teuflische Fähigkeit verfüge, viele Gestalten anzunehmen und mit mannigfaltigen Methoden aufzuwarten. Nach dieser Lehre hätte es geschehen können, dass ihnen durch finstere Mächte alles aus den Händen gerissen würde – oder auch nur ein bisschen, aber immerhin. Das war Anlass genug gewesen, sich angefochten zu fühlen, nämlich in so etwas Bedeutenden wie ihrem Lebenskampf. Den hatten sie immer darin gesehen, zunächst einen festen Stand in dieser Welt zu gewinnen, um von dort aus so etwas wie eine Weltrevolution – man entschuldige dieses eigentlich verwerfliche ideologische Leihwort – via Missionierung anzuzetteln, um die ganze Welt in die Hand zu gekommen. Natürlich nur, um diese für eine himmlische Zukunft überwinden zu können.)

   Ist dieser Mentenheim also ein Satansbraten? Man muss noch aufmerksamer sein, als man es sowieso bereits ist. Die Beobachtung geht der Erziehung voraus! Was bekommt man immer zu sehen: Da zeigt sich zumeist um diesen Mentenheim ein ganzer Pulk von Satelliten. Ein Haufen, der herumlungert und in der Freizeit mit den Händen in den Hosentaschen an der Hausmauer lehnt, der herumalbert und immer wieder einmal den einen oder anderen veranlasst, ein absurdes Theater aufzuführen – eine Show abzuziehen, wie die Jungen heute sagen. Das ist ja auch wie­der eigenartig: Das geschieht alles, ohne dass sich dieser Mentenheim selber auf diese Weise auffällig zeigt. – Oh, würde er nur! Dann bestünde Anlass, ihm mit erziehlichen Maßnahmen entgegenzutreten. Er unternimmt jedoch nichts – oder eigentlich ... Man weiß gar nicht. Unter Umständen geht von diesem jugendlichen Individuum etwas Ansteckendes aus, eine Seuche. Es kann leicht sein, dass Mentenheim so etwas wie ein seelischer Ausscheider ist, und zwar ohne selber Symptome zu zeigen.

   Wie soll man dem begegnen? Erziehung ist ohnedies nie leicht. Nur mit nicht zu begründenden Verboten zu arbeiten, das will man heute nicht mehr. Damit muss man heutzutage vorsichtig sein, gerade nach dieser unseligen Zeit des Dritten Reiches, weil man sofort als autoritär bezeichnet werden und mit dem Nazige­sindel in einen Topf geworfen werden würde. Auch heu­te noch, Ende der Sechziger. Zumal sie an den Uni­versitäten diese Umtriebe haben, anlässlich derer die Jungen gegen alles aufbegehren, was sich seither be­währt hat. Welchen Grund könnte man auch für ein Verbot des Herumstehens nennen? Oder womit könnte man verbieten, die Hände in die Hosentaschen zu stecken oder eine komische Frisur zu haben? Sie sind heute Individualisten und tun nicht mehr, was irgend­wer von ihnen verlangt, wie sie behaupten. Was sie heute tun, das ist im freien Spiel – man muss schon sagen der Modekräfte – entstanden. Dem unterwerfen sie sich dann, meist bedingungslos, auch wenn es wieder zur Gleichmacherei und Uniformierung führte.

Die Leute reden so viel von Demokratie, dass man sich da doch nicht ganz verschließen kann. Aber die ganze Angelegenheit zu diskutieren und dann womöglich darüber abzustimmen? Also wirklich nicht!

   Andererseits verbietet es einem die Selbstachtung, zu häufig mit unbegründbaren Ge- und Verboten zu arbeiten. Weil man sich ja doch irgendwo dem Intellekt verpflichtet fühlen muss, der dann und wann nach Argumenten fragt.

   Allein diese neue Unsitte des Herumstehens! Selbst dagegen ist noch niemand ein Erziehungsmittel eingefallen. Der simple, aber ehemals durchaus bewährte Spruch: 'Wenn zwei beieinanderstehen, dann ist der Dritte der Teufel!', ist schon aus arithmetischen Grün­den außer Kraft. Denn es sind selten nur mehr be­sagte Zwei. Das waren noch Zeiten, als man noch mit dieser handlichen Abwandlung des Wortes unseres Herren: 'Wenn zwei in meinem Namen beieinander sind, so bin ich mitten unter ihnen!', auskam. Womit soll man jetzt zu einem allgemein vollführten Freizeitsport anhalten? Dabei wäre es von großem Vorteil, auch für die Betroffenen, sie wieder alle hinter einem Ball herjagen und auf ein Tor bolzen lassen zu können. Man weiß doch, dass so etwas von allen möglichen Lasten befreit und laut bischöflich geheimer Verlautbarung selbst in Priesterseminaren ein probates Mittel ist, des Triebgeschehens Herr zu werden. Nämliches pflegt bekanntermaßen die jungen Leute insbeson­dere am frühen Nachmittag heimzusuchen."

 

   Das schaffst du nicht!, bist du überzeugt. Du machst dich über deine Suppe her, die sie dir vorhin hingestellt haben. Das gelingt dir nicht, dich in die Gedankenwelt von solchen Leuten einzuschleichen. Du darfst jetzt an dem Tischchen essen und musst sogar das Bett verlassen. Armut, Keuschheit und Gehorsam. Du lieber Gott! Leberknödel heute. Obwohl man ja auch nicht so weit von diesen so genannten evangelischen Räten entfernt ist. Armut, Keuschheit, Gehorsam. Denn was besitzt du schon? Das andere da? Aufzumucken hast du auch nicht als gewöhnlicher Sterblicher. Trotzdem schaffst du es nicht. Vielleicht ist es das Beten, das du ja längst aufgegeben hast. Klar, das gehörte wohl dazu, ließe einen alles überschweben. Die ganzen Niederungen. Oder einfach nur meditieren. Schneidersitz machen, die Arme ausstrecken, gen Himmel blicken und dieses langgezogene: Oomm. Ach, du lieber Himmel, was kommt dir denn da in den Sinn?

   Du holst dir deinen Text und bleibst jetzt am Tisch damit.

  "Ein Wandel:

   Charly, hallo Charly!, hat Ägidius eines Tages gerufen. Sonst immer ganz kalt: 'Mentenheim' – und von wegen 'hallo', 'he' hat das sonst geheißen. Ägidius benützte diese Anrede wiederholt. Sollte mit dieser neuen Form im Umgang mit Charly so etwas wie ein Burgfrieden geschlossen werden? Nämlich, dass sie endlich nachgeben und uns ein paar Zugeständnisse machen würden: Mehr Ausgang etwa, Kinobesuch, Raucherlaubnis und lauter solche Normalitäten – in unseren Augen.

   Gelegentlich hat man dann Charly gefragt, wie er das mit seinem Namen bei so einem wie Ägidius sehe. Charly sagte nur, er habe das bis dato gar nicht für so bedeutend erachtet, dass es ihn gereizt hätte, sich darüber einen Kopf zu zerbrechen. Wenn es uns allerdings so stark interessiere, werde er sich eine Meinung bilden. Wir sollten ein wenig Geduld haben – oder uns darin üben, wie er sich wohl ausgedrückt hatte.

   Man war ziemlich erstaunt über diese doch reichlich überspannte Formulierung. Jeder andere Schulkamerad hätte sich mit so einer Blase zum Idioten gemacht. Aber bei Karl Mentenheim ließ man solche Sprüche wie selbstverständlich gelten.

 

    Wie dachten wohl die Erzieher darüber? In deren Augen so etwas möglicherweise bereits als eine Erscheinungsform jugendlicher Selbstüberhebung eingeschätzt wurde:

   Dieser Mentenheim! Wie soll man jemanden handhaben, der keine Angriffsflächen bietet? Selbst seine Noten sind nicht extrem und bieten keinen Ansatzpunkt. Sicher, er greift auch einmal daneben. Beispielsweise ist er in Mathematik bei etlichen Leistungserhebungen nicht gerade gut weggekommen.

   Sein Verhalten während und nach diesen Niederlagen?

   Fand er bei den gestellten Aufgaben nicht umgehend einen Einstieg, so gab er das leere Blatt ab. Aber hat man nun geglaubt, es habe ihn endlich einmal richtig erwischt und er würde jetzt in sich gehen, da ist er bei nächster Gelegenheit gleich wieder auf der Matte gestanden – wie die Jungen es ausdrücken. Die darauf von ihm erzielten guten Noten haben dazu geführt, dass ihn jetzt in den Augen seiner Mitschüler auch noch so etwas wie das Fluidum von Edelfaulheit umgibt. Das hat sein Ansehen bei den dummen Jungen weiter gesteigert. Unerträglich ist das natürlich für jemand, der machtlos zusehen muss und dessen Erfahrung ihm verrät, dass so eine Einstellung für die weniger begabten Nachahmer vernichtende Folgen haben muss. Dieser ohnedies vorhandene und verderbliche Saisoneifer wird sich jetzt noch weiter auswachsen! Zum anderen ist da noch die verhängnisvolle Einstellung, dass keiner zwar als Loser, wie sie die Versager nennen, dastehen will, aber noch viel weniger will einer als Streber gelten. In manchen Fällen von schulischem Versagen kann man sogar beobachten, dass der eine oder andere auf der Verliererschiene seine mangelnde Begabung eher als Edelfaulheit zu vertuschen, als sie durch vermehrten Fleiß auszugleichen sucht."

 

   Sie schieben den Sänger Franz wieder herein. Samt Bett war er weg. Aus der Seitenansicht siehst du, wie er blass daliegt – mit dem schlohweißen Haar. Das fällt dir jetzt erst so richtig auf. Tief gefurchte Gesichtlandschaft auf Kissen, willst du formulieren. Du wunderst dich ein wenig über dieses Bedürfnis – liest aber weiter.

   "Wir Jungen sahen es so: Unsereiner ist mal oben, mal unten im Ansehen bei den anderen. Je nachdem wie man drauf ist und was einem glückt. Es ist eben so, wenn auch nicht immer angenehm. Jeder wird mal be-, mal miss-, gelegentlich auch verachtet, klar.

   Charly's Ansehen unterliegt allerdings keinen Kursschwankungen.

Dass sich jeder gerne in seiner Nähe aufhält, sich vielleicht sogar zu seinem Kreis rechnen lassen will, versteht sich. Niemand kann jedoch bei ihm richtig landen. Kumpeligkeit, gar Freundschaft und so. Er prüft wie auf dem Markt und wählt unter den Angeboten aus. Charly hat eine Masche drauf, die gar keiner sonst bringen kann. So Sprüche von dem Kaliber: 'Komme morgen wieder auf mich zu'. Niemand von uns hätte sich getraut, so einen Ballon aufzublasen. Man hätte so ein Ding schon aus der Angst nicht abgesetzt, damit bis zum Schulende veräppelt zu werden.

   (Vermerk des Verfassers: Wie hätten Ägidius und seine Mitbrüder unter den gegebenen Umständen der gewiss großen Verantwortung gegenüber den elterlichen Lieferanten ihrer Schützlinge noch gerecht werden können? Mussten doch die Zöglinge so gehalten werden, dass sie ausschließlich das lernten, was die Eltern für sie ausgesucht hatten. Die Knaben sollten auch äußerlich, gerade der sich rapide wandelnden Zeit zum Trotz, etwa wieder so in die Hände, insbesondere der immer überaus besorgten Mütter gelangen, wie sie an der Klosterpforte abgegeben worden waren. Etwa in der Befriedigung der Illusion vom ewigen Sängerknaben.

   Wie sollte man den Vätern gegenübertreten, wenn man den Sprössling nicht in die erwartete Form brach­te? Die überaus gestressten Väter, die im Zeichen des bundesdeutschen Wirtschaftswunders und an ihm hart arbeiteten, würden sich gefragt haben, wofür sie denn ihr mit harter Arbeit verdientes Geld ausgegeben hätten.)

 

   Die Angelegenheit nun noch einmal aus der Warte der Erzieher:

   Immer dieser Mentenheim! Aber irgendwie, nämlich in gebührender Einschätzung der Veränderung als Massenbewegung, wurde dann doch eine Lösung gefunden: Die ganze Besorgtheit auf ein normales Maß zurückfahren und der Entwicklung (beobachtend und, wo immer es sich anbieten würde, zur Steuerung des Prozesses eingreifend) ihren Lauf lassen. Diese Einsicht hat einen guten Grund. Es ist doch so, dass genau genommen nirgendwo Zweiergruppen herumstehen, zu denen sich (nach der bereits erwähnten Formel) der Teufel hätte gesellen können. Dem entgegen sind eigentlich immer nur – wenn auch durch mehr oder minder lächerliche Handlungen bewegte, aber immerhin Großgruppen zu beobachten. Die Jungen sind zwar auch wieder nicht so emsig, wie sie es beim Fußballen wären, ja, sie werden auch der den Trieb ermüdenden Segnung des Sportes nicht teilhaftig, aber stellen immerhin – wie eine Fußballmannschaft auch – eine Masse dar. Masse bietet immer irgendwie Schutz, denn es darf unterstellt werden: Die Versuchung sucht einen in der Vereinzelung viel eher heim als unter mehreren! Masse überwacht und reguliert sich ziemlich selber, auch wenn hie und da einzugreifen ist. (Die Vorzüge der Masse sind bekannt, hält man sich doch berufenermaßen selber in einer solchen auf: Masse nützt sich, Masse stützt sich.) Genau betrachtet, besteht ja nur eine Großgruppe um diesen zwar Malefizkerl Mentenheim. Aber der ist nun einmal vorhanden und so einfach nicht loszubringen. Er stammt immerhin aus einem guten bürgerlichen, finanziell potenten Elternhaus. Da kann es doch gar nicht so weit fehlen, auch charakterlich nicht. Was den Versucher anlangt, dem immer große Fähigkeiten beizumessen sind, so hat der es in der quirligen Knabenmasse nun auch wieder nicht so leicht, wie es der Augenschein zunächst befürchten lässt. Dieses Quantum Vertrauen muss ganz einfach investiert werden, ob nun aus einem Glauben an den Menschen als Geschöpf Gottes oder auch nur, um wieder ruhig schlafen zu können. Abgesehen davon ist ja bekannt, dass selbst der Satan schon immer seine Rechnung auch mit der Zeit hat machen müssen – und die schreitet voran: Die Jungen werden schließlich nicht ewig hier sein und ..."

 

   Du lässt die Arme sinken und hältst dich noch ei­ne Weile für einen Witzbold – als du das niedergeschrieben hattest. Man war einmal launig und gutschnurrig, bescheinigst du dir.

   Da quillt der Visitenpulk ins Zimmer.

   Weg mit dem Papierzeug! Gestern hat dir der Chefarzt dein Geheft aus der Hand genommen und eine Seite angelesen: Könnte ja sein, dass Sie hier Buchführung betreiben, hatte er gesagt. Was da so alles läuft, hier. Um uns dann in die Pfanne zu hauen, dass wir uns dann besudelt in irgendeinem Boulevardblatt finden! Nicht dass bei uns etwas nicht stimmte: Nicht wahr, meine Herren?, posaunte er zu seinem Tross hin, dem auch zwei Damen angehörten. Einhellige, in sich allerdings sogar ein wenig differenzierte Zustimmung: Selbstredend; gleichwohl; nicht mehr als nach den Umständen vermeidbar ... Der Chef hatte weitergemacht, erinnerst du, man müsse höllisch aufpassen und sich vor gewissen Filzläusen von der Presse hüten, war er überzeugt. Er fügt an, nachdem die Oberschwester bei Nennung des Ungeziefers ruckartig den Kopf eingezogen hatte: Die Damen entschuldigen den harten Ausdruck!

   Bin eigentlich eine hier ganz zufriedene Filzlaus!, hast du ihm beteuert.

   Dass er Schnüffeljournalismus ablehne, auch wenn es manchmal recht amüsant sei, was da zum Vorschein komme. Wenn sich so ein arglistiger Schmierer wieder wo eingeschlichen hatte.

   Du gibst ihm Recht und fügst an, dass es eine üb­le Sache sei, das mit diesem Skandaljournalismus, der in dieser überfütterten Gesellschaft, die durch nichts sonst mehr zu amüsieren sei, überhandnehme.

   Bleiben Sie sauber mit ihrem Gepinsle!, seine Er­mahnung.

   Man muss nun mal mit etwas sein Brot verdienen!, deine bescheidene Antwort.

   Er gnädig drauf: Kommen Sie ruhig einmal zu mir, können uns unterhalten, und Sie bringen dann was Anständiges zu Papier!

   Gerne, ist hiermit auch schon vorgemerkt, versicherst du ihm.

   Die geballte Kompetenz nun am Bettende von Sän­ger. Alle wiegen bedächtig das Haupt, nachdem der Chef damit begonnen hat. Anlass ist die Info-Tafel, die herumgereicht wird. Man findet den Zustand des Alten offensichtlich bedenklich.

   Du hattest – von der Journalismusdebatte abgesehen – eigentlich nur einen eher flüchtigen Gruß ab­bekommen. Der wird allerdings nicht umsonst gewesen sein und als 'eingehende Beratung, auch te­lefonisch' ausgewiesen werden!, giftest du wieder in dich hinein. Du bist offenbar gesund, und an dir ist sonst nichts mehr zu verdienen als noch vielleicht ein paar Tage Bettenauslastung.

   Die Gesundheitstruppe ist weg.

   Du schaust zum Nachbarbett. Wieder der Eindruck: Alles in Weiß – und unbeweglich. Der alte Sänger Franz wird doch nicht etwa seinen Löffel abgeben wollen? So plötzlich. Der war doch erst noch so gut drauf. Ein Schwanengesang vielleicht – wenn es nicht so komisch klingen würde bei so ei­nem. Franz Sänger, der sterbende Schwan.

   Aber dich werden sie hier bald hinauskomplimentieren. Doch was wird draußen sein? Deine Wohnung? Wie wird die jetzt aussehen? Du hast dich an die totale Versorgung hier gewöhnt.

So wie stets die Flucht in deine papierene Welt:

   "Ende der Sechziger:

   Wie meistens, so traf Charly auch diesmal von den Ferien als Letzter ein. Ägidius schien auf ihn gewartet zu haben. Vom Augenblick seines Ankommens an wich er nicht mehr von Charly's Seite und redete dau­ernd auf ihn ein. Sonderbar!

In der Ahnung, dass sich da irgendetwas ereignen könnte, liefen etliche von uns den beiden – selbstverständlich in einem Sicherheitsabstand – hinterher. Man bekam alles mit, weil Ägidius so laut redete. Es war zu hören, dass er berichtete, wie sie hier im Klo­ster die Ferien verbracht hatten. Wir fanden das natürlich lächerlich. Mit Genugtuung stellten wir fest, dass Ägidius damit auch Charly, der offensichtlich durch die Ferien ziemlich mitgenommen war, ungemein langweilte. Dann verlegte sich Ägidius auf Fra­gen nach Charlys Eltern, nach deren Wohlbefinden und seinem, Charly's, eigenem Ferienglück. Ägidius nahm es hin, dass er von Charly, wenn überhaupt, dann nur andeutungsweise Antwort erhielt. Allenfalls ließ sich Charly zu einem kaum vernehmbaren Murmeln herbei. Sie waren jetzt, immer noch von uns ge­folgt, im oberen Stockwerk angelangt. Ägidius musste aufgegangen sein, dass er mit seiner Fragerei nicht weiterkommen würde. So zog er ein anderes Register und ließ sich über Charly's neumodische Kleidung aus. Tatsächlich, Charly trug nicht mehr die gewohnten Jeans, sondern Hosen mit Bügelfalte, so wie Sonntag mit Kirchgang bei den Spießbürgern! Charly ging ruhig weiter, aber wir warteten jetzt darauf, dass er Ägidius den Koffer in die Hand drücken würde, das wäre doch sein Stil gewesen. Ägidius trippelte immer noch neben Charly her und wollte nun wissen, ob Charly denn die ganzen Ferien über keine Zeit gehabt habe, sich seine Frisur in den bekannten Zustand mit den kurzen Borsten vorne und den hingeklatschten Seitenteilen bringen zu lassen. Charly beschleunigte seine Schritte und hängte Ägidius dadurch etwas ab, so dass der lauter werden musste: Die normalen Menschen hier hätten sich ja nun doch allmählich daran gewöhnt, nämlich an so etwas von Frisur. Warum er jetzt hier mit einer bereits bis zum Kragen reichenden Mähne aufkreuze. Charly war an seinem Schrank angelangt und ließ den Koffer aufplumpsen. Schon war Ägidius wieder da: Alle werden dein Markenzeichen vermissen, Charly!, schnaubte er, fast außer Atem, nämlich diese kecken Stifte, die doch sicher Antennen sind. Womit er, Charly, denn jetzt seine Sendungen und Eingebungen aus dem Äther und von anderen Sternen empfange?, versuchte es Ägidius witzig. Kein Sendeempfang mehr? Da seine ehemals gen Himmel weisenden Stifte nun als lange Strähnen welk in die Stirn hingen?

   Als Zaungast bei dieser Show, die Ägidius als Alleinunterhalter abzog, fuhr man sich jetzt selber über die Haare. Man fragte sich unwillkürlich, ob einen Charly wieder mal modisch abgehängt hatte.

   Charly hatte seinen Schrank geöffnet und begann, seine Sachen einzuräumen. Ägidius machte Pause, da ihm nichts mehr einfiel.

   Was Charly bis jetzt alles weggesteckt hatte! Ob er sich verändert hatte. Und diese andere Frisur.

    Wir waren irritiert: Der Kerl mit den langen Haaren dort am Schrank, der sich von der Kutte dumm anreden ließ, der war ja nicht mehr unser Charly! Wie lang und ausgiebig auch der Mentenheim in seinem Schrank kramt, flüsterte einer. Er will nun wohl sogar einen auf ordentlich machen. Es kribbelte einen. Kaum zu glauben, dass einer in so kurzer Zeit sich so total verwandelt hatte. Man wollte bereits abziehen. Nicht möglich, dass einer wie Charly so stillhalten kann bei dem Terror. Aber doch noch ein wenig warten und beobachten. Es war zu sehen, wie Mentenheim in seinem Schrank herumwerkelte, dabei eine Miene aufsetzte, die zeigen konnte, dass dieses Geschäft unter seinem Niveau sei. Neben ihm tönte es wieder. Diesmal kam, bemüht heiter, die Aufforderung, alles auf Kante zu legen. Siehe da, Mentenheim reagierte und führte es aus! Dann wies er Ägidius sogar das Ergebnis seiner Arbeit mit einer übertrieben unterwürfigen Geste. Er sah aus wie ein Lakai – und zog dazu eine schmierige Grimasse.

   Mentenheim hatte vor Ägidius gekuscht. Jetzt doch weg hier.

Allerdings hätte man an den beiden vorbeimüssen. So war in Deckung zu bleiben, abzuwarten, bis dieses sonderbare Duo da das Feld räumen würde, um sich selber trollen zu können. Da hatte sich Mentenheim bereits von seinem Schrank abgewendet und ging jetzt in Richtung Waschsaal. Aber was war das? Er hatte sich dabei doch ganz dicht an seinem schwarzen Anhängsel vorbei bewegt. Hat man es richtig beobachtet? Ägidius musste einen Schritt, fast einen Satz rückwärts machen. Prima, Mentenheim! Das war ja noch richtig wie Charly! Du hättest ihm ruhig auf die Zehen latschen können! Es hätte ihm zwar nichts gemacht mit seinen Holzfällerstiefeln, aber es wäre ein deutlicher Hinweis gewesen, dass er sich nicht alles erlauben darf.

   Es freute einen, und man feixte umher – und merkte, dass bald hinter jedem Schrank einer stand und wartete und grinste.

   Schon lief Ägidius wieder palavernd Mentenheim hinterher. Er faselte wieder von den Haaren und brachte noch einmal seine Schwachheiten. Dazu fuchtelte er mit den Armen und wurde immer lauter. Aber Mentenheim schien nicht darauf zu achten. Er schwang sich, an seinem Toilettenkästchen angekommen, lediglich dazu auf, Ägidius einen Stapel Waschlappen mit der Aufforderung in die Hand zu drücken, sich nützlich zu machen und das Zeug mal eben zu halten, wenn er schon sonst nichts zu tun habe.

   Die Stimmung hinter den Schränken hob sich ...

   Ägidius hielt ganz mechanisch die Hände auf, und der Kiefer klappte ihm runter. Seine Augen wanderten unruhig umher. Er entdeckte die Zuschauer, die bei den lauten Worten aus ihren Verstecken hervorgetreten waren. Jetzt war für ihn der Boden weg! Er musste zusehen, wie er zu einem einigermaßen starken Abgang kommen konnte.

    Ägidius schien zu überlegen.

   Einstweilen stieg Charly's Kurswert bei uns wieder in bekannte Höhen.

   Als er mit seinem Putzen und Aufräumen zu Ende gekommen war und Ägidius auch die Lappen aus der Hand genommen hatte, schritt er dem Ausgang zu, wäre Ägidius beinahe wieder auf die Zehen getreten, ging gemächlich auch an uns vorbei zur Tür, drehte sich noch einmal um, verabschiedete sich souverän mit einer lässigen Handbewegung: Bis zum Nachtmahl, Ehrwürden!, sagte er und machte Anstalten abzuziehen. Man war überzeugt, dass die Angelegenheit jetzt für ihn erledigt sei – und in der Tat, was hier zuletzt abgegangen war, hätte zu einer Reha­bili­tierung von Charly auch völlig ausgereicht. Da drehte sich Charly wieder um und machte einen Schritt auf Ägidius zu, lächelte und meinte: Wenn der Herr Präfekt gestatte, wolle er ihn in den Genuss eines guten Rates gelangen lassen. Nämlich dieses: Herr Präfekt möge sich nie so parterre anquatschen lassen, wie ihm, Karl Mentenheim, dem Schüler, gerade in unbeschreiblich unqualifizierter Weise widerfahren. Weil es äußerst lästig und zudem absolut überflüssig sei. Nicht ganz ungefährlich obendrein, da man mit so etwas durchaus einmal an den Falschen geraten könne – wenn er verstehe, was damit gemeint und ausgedrückt sein könnte.

   Supermaximal! Das musste gesessen haben, freute sich der Zaungast, und blickte verstohlen auf den sprach­los dastehenden Ägidius. Hoffnung kam auf für das kommende Schuljahr. Dann war es Zeit, sich davon zu machen, um sich in Sicherheit zu bringen. Man konnte ja nicht wissen, in welche Richtung ein durchaus zu erwartender Schuss losgehen würde. Es war einem geläufig, dass so eine angeschlagene Kreatur, wie Ägidius jetzt eine war, sich einen anderen gegriffen und ihn traktiert hätte.

   Selbstverständlich versäumten wir nicht, alles weiterzuerzählen. Das war ein so großes – in der Weitergabe noch ein wenig ausbaufähiges – Ereignis ge­wesen, so dass sich etliche, die es versäumt hatten, mit Übernahme dieser Story nachträglich in die Reihen der Zuschauer mogelten.

   Quasi zum Abschluss unserer gemeinsamen Zeit wieder so ein starker Auftritt von Charly. Sonderbar genug, dass Charly's Äußeres irgendwie Auslöser gewesen war, vor allem seine neue Frisur. Ein Eindruck drängte sich uns auf: Nicht nur Kleider, sondern auch Frisuren machen Leute! Es war wie vor Jahren dieser Erkenntnis ein gesteigertes Augenmerk zu widmen. Tatsächlich war das angemessen, denn die Zeit der Pilzköpfe war angebrochen. Man hatte ja selber bereits damit gespielt, sich die Haare bis zum Kragen wachsen zu lassen. Aber niemand hatte sich wirklich getraut, wegen der Alten, die einen deswegen mit Bestimmtheit dauernd angequasselt hätten und allerdings auch wegen der Solidarität mit den anderen Jungen in der Penne, die ja auch noch diese Stifte trugen. Aber man lag eben mit Charly immer richtig, hatte sich wieder einmal gezeigt. Er besaß nun mal ein Gespür für alles Zeitgemäße und Gewinnende.

Die allgemeine Begeisterung taufte ihn um. Er hieß fortan Charles. Er goutierte das und trug dem da­durch Rechnung, dass er seinem Äußeren eine neue Fashion zumaß: Er zeigte sich bald als europäischer Herr englischer Prägung, trug des Sonntags weißes Hemd mit Krawatte und benutzte beinahe täglich und durchaus unabhängig vom jeweiligen Wetter als Accessoire einen eleganten Stockschirm. Über die distanzierte und nüchterne Art, die einem solchen Äußeren nach der allgemeinen Vorstellung beizumessen war, hatte er ja schon immer meisterlich verfügt und darin sogar wahre Lehrstücke vorgewiesen.

   In dieser Rolle führte er auch, als Orientierung am Zeitgeist außerhalb unserer Mauern und im Vorgriff auf unser kommendes Lebensjahrzehnt, 'twen' ein. Diese bemerkenswerte Zeitschrift durfte selbstverständlich nur unter strengster Geheimhaltung und folglich nur im engsten Vertrautenkreis weitergereicht werden. Aber selbst da war es eher so, dass nur mal ein Bild zu sehen war. (Wobei ich mich erinnere, dass wenige Jahre zuvor Fotografien von Bikinimädchen, von dieser Christine Kaufmann zum Beispiel, zu einem öffentlichen Skandal geführt hatten. Der Staatsanwalt war tätig geworden! Solche Bilder boten demnach auch eher einen revolutionären als sonst einen Kitzel).

   Langsam formierte sich um Charles eine 'twen'-begeisterte Gentlemanbewegung ..."

 

   Und so weiter. Und wenn er nicht gestorben ist, ..., hieße es in Märchen. Etwas müde legst du die Blätter weg. Da wären noch ein paar Seiten. Aber du weißt ja ...

   Er hat bestimmt seinen Kratzfuß gemacht, der gu­te Ägidius. Zieht nur noch als Schatten durch deine Erinnerung. Und die Anderen? Eine Gespensterkolonne. Du weißt nicht so richtig, wie du zu diesem Bild kommst. Jeder geht seinen Weg. Oder ist ihn ge­gangen. Einer von den Jungen habe sich mit Magen­bitter zu Tode gesoffen. Wieder einer sei bei der Fremdenlegion gelandet. Dem Gerücht nach. Denn solche Spuren verlieren sich – und das hinwie­derum macht eine solche verlorene Existenz sympathisch. Warum nicht auch du, Tom?, fragst du dich. Da würdest du mit in dieser Gespensterkolonne umherziehen in der Erinnerung – aber von wem eigentlich?

   Du sagst dir, während du die Blätter in die Plastikhülle schiebst: Lasse ihn laufen, diesen Tom, viel­leicht verläuft er sich mal irgendwo.

   Jetzt werfen sie dich eh bald raus hier. Kannst es dann in freier Wildbahn probieren mit deiner Verlaufenheit.

 

 

 

 

Wer der Wirklichkeit in die Seifenoper entfliehen will, macht doch nur den Deckel zu und will nicht spülen.

   Ob die Polizei jemals in deiner Wohnung war? Deine Bude hast du vorgefunden, wie du sie damals verlassen hattest am Morgen vor dem Überfall. Als die Gangster dich zerlegt hatten.

   Was ja zu deiner Ich-Abhandenheit führte. Es ist im Grunde irrwitzig, dieses Du als Ansprechpartner seither. Wenn's auch befriedigt. Mensch, wo ist dein Ich? – Eine tolle Frage. Hoffentlich bist du nie undicht, dass das den Anderen mitkriegen, wie du dich so was fragst. Dann bist du womöglich bald wieder in einer Anstalt, und zwar diesmal einer von lauter seelenverlorenen Typen.

   Jetzt sitzt du hier beim Doktor und versuchst an nichts zu denken.

   Wenigstens ist auch das letzte Pflaster weg. Die paar Schorfe an der Stirn sind vorzeigbar.

   Noch keine Spur von den Verbrechern. Die Justiz schweigt sich aus und auch ihre uniformierten Gehil­fen. Man wird sehen, wie man die Staatsmacht wieder auf Trab bringt. Es wäre nicht das erste Mal. Wenn du deinen Apparat in der Redaktion wie­der in Bewegung setzen kannst ... Deine Maschinerie, die du dir über die Jahre aufgebaut hast. So ein kleiner Wettlauf wieder mit den Ermittlern um die verdammten Fakten. Du hattest ihnen ja et­liche Male richtig die Show gestohlen. Dann bist al­lerdings du dran gewesen. Unangenehm piksende Repressalien, weil sie dich anders nicht zu fassen kriegten. Mit Strafzetteln für Falschparken und Anzeigen ... Ruhestörung und Hausfriedensbruch ... Schließlich hatte man dir im Betrieb die Klatschspal­te aufgedrückt. Eigenartig. Aus lauter Fürsorge für dich, dich sozusagen aus dem Verkehr – den sie eine Schusslinie genannt haben – gezogen ...

   Doch du hast bald wieder Apparat gehabt ...

   Es ist ja sonderbar. Die lieben Kollegen, haben in deinem Fall noch nichts angekurbelt, um der Polizei eine Nase zu drehen. Sonst hat man da nichts ausgelassen – seriös hin, seriös her. Schon wegen der Story, die immer in so was wie so einem Lichterloh wie dem Karl Mentenheim seinem Schloss steckt. Mit Sicherheit auch in dieser Sache da mit dir und deinen blauen Flecken. 'Journalist beim Ein­satz schwer verletzt' haben sie nur daraus gemacht.

   Greife dir eine von den Zeitschriften da vom Tisch.

   Du wirst doch gelegentlich zu schreiben beginnen. Seit dem Krankenhaus schiebst du es auf. Dabei gibt es wirklich noch genug zu notieren. Um Karl herum und die ganzen verzwickten Umstände.

   Man schaut sich immer wieder mal ganz verstohlen an, hier. Genierlichkeit. Ein Monat alten 'Stern' hast du da erwischt. Mal sehen, was die wäh­rend deiner Krankenhauszeit gebracht hatten.

   Es ist so in einem drin, das Schreiben, sagst du dir. Du glaubst, du kriegst die Zeit in den Griff, wenn du sie auf Papier noch etwas ausschmückst, bevor sie sich davongemacht hat. Du weißt allerdings nicht, ob du deinen dienstlichen Apparat über­haupt noch in Bewegung setzen könntest ... Ob es überhaupt noch deiner ist? Du bist ja sofort weg vom Fenster, sobald du dich auch nur ein bisschen wegdrehst, das weißt du doch!

   Sie hatten den Sänger Franz aus dem Bett geholt, geht dir durch den Kopf. Gott hab' ihn selig. So plötzlich sein Abgang. So wie zum Feierabend nach Hause gehn. Es sei ihm gegönnt. Und ab, gleich in die Wäschekammer. Aus. Kaum zu glauben: Mitten im Satz war er weg. Da müsste doch noch Geräusch kommen von nebenan. Aber nichts. Hast hinübergeschaut ... 

   Was er wohl noch sagen wollte?

Du hattest immerhin sogar Respekt entdeckt für die­sen Kriegs-, Alltags- und Weiberhelden. Er hatte dir zwar immer wieder was rübergelassen. Was dir zuerst nur mief als verbaler Auswurf in dei­ne hohen Nase kam – du hochnäsiges Subjekt. Aber schließlich ging dir doch auf, dass er es aus seinen Niederungen geschafft hatte auf eine dir jetzt respektabel erscheinende Lebenshöhe zu kommen. Mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen. Auch wenn der mit allen Tücken behaftet war: schmutzig, sumpfig – mit ein paar beblühten Grünflächen vielleicht dazwischen ...

   Der Gedanke an den Gewesenen lässt dich nicht gleich los. Es überkommt dich dann allerdings dazwischen auch noch dein mögliches Gewesen sein in deinem Job ... 

   Aufruf. Ein Name per Durchsage. Du bist es aber wieder nicht. Neidische Blicke auf die Figur, die sich erhebt ...

   Wie er da lag in der Wäschekammer. Zwischen Bergen von dreckiger Wäsche.

   Franz war dir allmählich doch schon so was wie vertraut gewesen. Der Franz, in seiner Unverblümtheit und Handgreiflichkeit. Was hat der Mensch aus dem Vollen gelebt. Wie er dauernd beteuert hatte. Als ob er sich dessen selber dauernd versichern musste, um zu glauben, dass es so war. Aber du hast es ihm abgenommen, weil du dir sicher warst, dass sich das zumindest alles in seinem Kopf abgespielt hat. Unten durchgehen, wenn alles oben drüber ist und dort angibt, hatte Franz gesagt. Sollte vermutlich heißen: Die Herrschaft der Umstände unterlaufen.

   Jetzt endlich der Aufruf. Das Heft weg, und du trittst vor deinen Richter – überkommt es dich.

   Dann bist du im Café und ziehst deinen Notizblock. Du hältst das von vorhin fest, hast dich endlich durchgerungen zu schreiben, bist darüber erstaunt, schreibst:

   "Du hast dir gesagt, während der Doktor dein Karteiblatt studierte, dass es ja noch ein junger Mann ist, jünger als du. Als er ruckartig aufblickte, dich ansah und seinen Befragungskatalog abspulte, da war plötzlich so ein Gefühl deiner Wenigkeit da – so von Nummer, Gegenstand, Materie. Als du auf seine Frage hin gesagt hast, dass du dich eigentlich wohlfühlst – weiter wolltest du gar nicht ausholen –, da schien er es überhaupt nicht gehört zu haben. War natürlich nur so eine Routinefloskel von ihm, diese Frage nach deinem Befinden. Klar, er hatte dir ja mal gesagt, dass das Meiste, was Patienten sagen, nur Quatsch sei, pure Fehleinschätzung des eigenen Zustandes, verwischt durch irgendwelche Scheininformationen von ominösen Spaltenfüllern in Illustrierten, die sich als Doktoren daherpralen. Die Leute wüssten meistens nicht mal, hatte er gemäkelt, auf welcher Seite ihr Blinddarm im Gekröse sitzt – wenn dieser ihnen nicht rausgeschnitten worden sei und sie es bei jedem Strip vor dem Spiegel an der Narbe erinnern könnten.

   Er war dann über dir und betastete deine Narben. Ehe du noch etwas sagen konntest, da hatte er die weitere Arbeit an dir, mit Blutdruck und so, schon delegiert gehabt an eine seiner flotten weißen Mäuschen. Du bist hinauskomplimentiert worden. Der nächs­te Patient war gleich dran.

   Die Mädchen machten an dir herum. Du hast noch mitgekriegt, dass der Weißkittel eine Telefonverbindung wollte. In deiner Angelegenheit, aha! Das hat dich dann doch gewundert. Du würdest liebend gerne wissen, was das für eine Nummer war, die er verlangt hatte!

   Nach einer Weile tauchte der Doktor wieder bei dir im Vorzimmer auf, nahm dich etwas zur Seite und richtete das Wort an dich: Du sollst dir einen Termin für die nächste Sitzung geben lassen und dich natürlich weiter im Krankenstande wissen und dich doch bestimmt erst einmal richtig auskurieren, damit du später wieder volle Einsatzfähigkeit erlangst und nicht eventuell Dauerschäden zurückblieben, was man auch bei äußerlich eher harmlos erscheinenden Frakturen niemals ausschließen könne und dürfe ... daraus resultierende Spätschäden, die durchaus zur Frühverrentung führen könnten ... und man wisse doch, wie belastet die Sozialsysteme ...

   Rente, war dir durchs Hirn geschossen. Und das Aus. Da ist was im Gange, das hattest du sofort im Gespür!

   Das Telefonat vorhin! Dem wirst du nachgehen! Das ist es. Das riecht nach Chefetage!"

 

   Du trinkst aus, legst deine zwei Zwickel hin und haust ab.

   Zu Hause schimpfst du in dich hinein über diese Halunken von der Direktion: Nicht mal die Freiheit des Krankenstandes ist mehr vor dem Zugriff dieser Geier sicher. Überall die Klauen drin. Dann ist in deinem Gedankenschwall auch noch diese prächtige Ausgabe von Äskulapjünger dran. In dir kriecht der Verdacht hoch, dass es in deinem Betrieb als Vorteil betrachtet wird, wenn du außer Betrieb bist. Der Gedanke frisst sich sofort fest – und dich natürlich wieder an.

   Dir wird es jetzt in deinen vier Wänden zu eng.

   Du latschst durch die Straßen. Ohne Ziel. Ob dich die Schläger noch einmal packen, ist dir jetzt egal. Dann in die Kneipe. Eigentlich wünschst du dir sogar, dass sie dich wieder greifen. Du kommst dir dann am Tresen allmählich irgendwie verteufelt schicksalsbeladen – und darin auch wieder richtig bedeutend vor. Zumindest vor dir selber. Als Lastenträger erkennst du dich, wenn auch nur deiner selbst. Das drückt dir das zerfaserte bisschen Innere wieder zusammen.

   Und der Suff bläst es auf. Macht einen auf Luftballon damit ...

 

   Als du aufwachst in einem total behämmerten Zustand, da ist alles gleich wieder da. Sie haben dich entsorgt, bist du dir sicher. Da ist der Spruch plötzlich da: Wer sich abtakeln lässt, muss eben rudern. So ein Einfall!, klopfst du dir auf die Schulter. Du nimmst das an. Kommst wieder etwas hoch. Mit lauter solchen Einsichten, dass du etwas unternehmen musst ...

   Zeitung lesen, um am Ball zu bleiben, freilich. Was tun. Darüber hat man ja auch schon geseicht, dass sich der Arbeitslose selber fertig macht, wenn er nichts mehr macht.

   Schnell hinaus und am Kiosk an der Ecke ein paar Zeitungen holen. Aus Spaß einen auf Irrer machen, hasten, stoppen, sich immer wieder ruckartig nach allen Seiten umsehen, weiter – und so weiter. Dann am Kiosk. Der Blätterwald rauscht im Hirn. Du grinst in dich hinein: Dort im Blätterwald den Förster machen, der in diesem Biotop auch der Beckmesser ist und Reime auszählt wie der in der Wagneroper. Den Textpflanzern auf die Finger se­hen, die da herumgraben und ihre Buchstabengewächse in den Daseinsdreck setzen. Du lachst darüber aus deinem Grinsen richtig laut auf. Etliche Mal. Die Leute schauen. So als wollten sie wissen, worum es dir so lustig geht. Oder einfach nur, um festzustellen, ob es sich um blankes Irrsein handelt. Abhauen hier!

   Deine Hand zittert dann sogar ein wenig, als du zum eigenen Blatt greifst. Du zwingst dich, von vorne an zu lesen. Nach einer Weile hält es dich nicht mehr, und du blätterst nach der Kolumne. Nach deiner Kolumne? Wer verschmiert jetzt deine Spalte? Wer sitzt auf deinem Stuhl? Der Faltmann! Mal sehen, ob sein Hinterteil dein Polster ausfüllt! Du überfliegst die Zeilen, die du sofort als Geschreibsel entlarvt haben willst: 'Der Bock trabt lüstern (da Brunstzeit) hinter der jungen Geiß her. Die Rehlady ist schon über der B 17. Da kracht es hinter ihr. Ein Bullengitter, von einem schweren Rover geschoben, setzt in der Nähe von Kinsau dem Liebesspiel und dem Leben des Hornträgers ein jähes Ende. Die junge Menschenfrau, die Vaters Jeep bis dahin nahezu erfolgreich gesteuert hatte! Sie ist ob der plötzlichen Begegnung und dem abgelebten Galan auf dem Kühler ziemlich geschockt. Sie verreißt ihr Kraftpaket. Es bleibt ihr infolgedessen die Bekanntschaft mit dem nächsten Alleebaum nicht erspart. Weiter geht die Reise etwas später, allerdings wieder wohlbehütet, im Hubschrauber in Richtung Klinik.'

 

Diese Lockerheit, denkst du. Gar einen Ansatz von innerem Applaus genehmigst du dir. Aber Boulevard!, holst du dich zurück. Gibst deinem Pfuiruf Schwung: Elendes, hier gar tierschänderisches, darüber hinaus menschenverachtendes Boulevard. Das ist nicht die von dir gepflegte Kunstform.

Stil ist so etwas wie Berufung zur Mitteilung. Die eben auf einen kommt oder nicht. Den Faltmann machst du zur Schnecke, wenn du wieder an Bord bist. Mit einem Mix aus Nachricht und Unterhaltung verunreinigt der dir deine Spalte. Du hattest so etwas freilich auch schon angedacht, denn so hinter dem Mond bist du nicht. Was die Masse will, das muss man in dem Job auch wissen – allerdings nicht unbedingt bedienen. Damals, etwa Anfang der Achtziger, bei deinen Recherchen bezüglich der Bilder. Aber du hattest das verworfen. Die reine Unterhaltung, die muss freilich auch ihren Platz haben in der Presse, allerdings von der Nachricht getrennt, hast du immer wacker vertreten. Jetzt haben sie diesen Faltmann auf deinen Stuhl gesetzt. Einen Kaffee machen.

   Hasch mich, ich bin der Effekt, kicherst du böse vor dich hin, während du Wasser zugießt. Als du dann den schwarzen Sud in der Tasse dampfen siehst, wandelt es dich irgendwie biblisch an, so von wegen Splitter im Auge des anderen – und da sollte natürlich auch noch nach dem Balken im eigenen gesucht werden. Das willst du dir aber jetzt nicht antun, nimmst einen Schluck, vertagst es.


   Du ziehst wieder tagelang in Kneipen umher. Fühlst dich gelegentlich verdammt arbeitslos. Immer wenn dich das überkommt, erschrickst du richtig. Du willst das dann wegschwemmen. Lässt dich volllaufen. Um dir zu entkommen, nutzlos, unbrauch­bar, überflüssig zu sein. Dass du schon dazugehörst zur Truppe der Unbrauchbaren, jammerst du dir vor.

  In einem helleren Moment überkommt es dich, dass man das jedoch in den Griff kriegen müsse. Du könntest versuchen, eine Kultur der Nichtbeschäftigung, der gepflegten Untätigkeit zu entwickeln, schwingst du dich sogar auf – wie eben auch eine Kultur des Altseines, holst du aus. Dich überkommt es dann richtig missionarisch, wenn dich so was anfliegt. Ist es bereits eine Marktnische der Betätigung für dich?, fragst du dich. Du grinst dich selber an, als du im Spiegel deine Rasiergrimassen schneidest. Der Mensch ist weder auf das Nichtstun, bekräftigst du, noch auf das Altsein vorbereitet. Also, dozierst du, während du dich beschabst: Den Wissensdrang herunterblöden. Die Habgier verbetteln. Den Aktionshunger bestillen. Einfach nur da sein und – wo immer auch – sitzen, stehen, liegen können, indem du dir in der meisten Zeit selber entfallen bist. Das Übel kommt in naher Zukunft von eurer Selbst-Gegenwärtigkeit, wirst du den Leuten predigen. Diese kannst du dir in dieser Welt gar nicht mehr erlauben, wenn du unbeschadet überleben willst. In einer Welt, in der die digitale Künstlich- und Apparatlichkeit immer mehr Raum greift, in der der Mensch immer mehr ins Virtuelle getrieben wird. Bis endlich sich selber er­zeugende und vermehrende Denk- und Herrschafts-Maschinen das ganze Dasein besetzen.

   Diese Gedanken tragen tatsächlich wieder eine Weile. Sie münden dann stets in Plänen, die mit Aufklärungskampagnen, ja Schulungsunternehmungen und mit Risiko und Aufwand besetzt sind. Auf diese Weise lassen sie sich dann getrost vor ei­nem her schieben. 

   Tage.

   Warten. 

   Morgens kurz zum Kiosk um Zigaretten und Illustrierte. Die Zeitungen schmerzen. Es tut bereits weh, wenn du die Aufmacher am Zeitungsstand überfliegst. Die Welt lieber nur als Bebilderung auf Glanzpapier heimholen. Das reicht in deiner Begnü­gung.

   Nach dem Kiosk noch in den Supermarkt. Dann ein Tag wie ein Hausfrauentag mit diesem Ringen mit der Vergeblichkeit des Haushaltens. Wobei man ja nur verlieren kann. Du beginnst die daheimgebliebenen Mädchen zu verstehen.

   Diese knalligen Illustrierten. Du blätterst da in dem Zeug. Klar, die Kollegen vom Glanzpapier dürfen sich das Fernsehen nicht davonlaufen lassen. 

Das begießt du mit Bier aus der Blechdose.

   Du wagst dich jetzt nicht für länger auf die Straße. Nur diese Besorgungen. Es könnte sein, dass du irgendwie von deiner noch bestehenden Krankschreibung eingenommen bist. Eine Krankschreibung, die krank macht.

   Aus dieser Misere heraus willst du nun doch auch noch das zweite Treffen mit Karl festhalten. Schreiben, wo du jetzt hier rumhängst und gewissermaßen zum Schweigen verurteilt bist. Das Schreiben als die bedeutendste Art des Schweigens ...

 

 

 

Ein Vorfall etwa Ende der achtziger Jahre – Dittls Bilder und die Folgen

  "Etliche Zeit war vergangen. Ein paar Jahre nach dieser Begegnung da mit Karl Mentenheim und dem Plausch im Café (es wird im Verlaufe dieser Niederschrift klar zu machen sein, weshalb diese Einleitung zu wählen war und was der Vorgang mit Freund Karl zu tun hatte).

    Da hatten sie in der Redaktion einen gesucht, dem sie eine Arbeit aufdrücken könnten. Um so ein Ding drehte es sich, das sich sogar für unsereinen sonderbar ausnahm, der doch nicht mehr so ganz neu war in dem Geschäft. So ein Ding mit einigem Hintergrund: Dieser Angelegenheit lag zugrunde, dass einige Zeit davor wieder einmal ziemlich was auszufechten gewesen war. Unser Dittl hatte nämlich damals eine Serie Fotos gebracht und sie zur Besichtigung rumgereicht. Ist nichts Besonderes, hatte man erst gedacht und sich gar nicht drum gerissen. Dittl gehörte zur Hilfstruppe: knipste nur, schrieb nicht. Was würde der Dittl sonst gemacht haben als eben Fotos? Man wurde aber gleich hellhörig. Der Nosmann, der die Bilder zuerst hatte, pfiff immer wieder einmal irgendwie vielsagend vor sich hin, während er die Serie durchging. Wenn einer das alte Schlachtross aufregen kann!, sagte man sich – und gierte nach den Bildern.

   Als man dann die Sachen selber in den Fingern hatte, wusste man sofort: Das sind richtige Volltreffer. Verdammt hinter der Hecke vor.

   Die Bilder waren kaum herum, da ging es gleich wieder ums Fleisch: Wie viel bloßes Fleisch dürfen wir denn eigentlich bringen in diesem unserem Blatt? Dabei stand sowieso nur Busen zur Debatte. Aber auch damit tat man sich schwer. Mit südlich der Taille hat man erst gar nichts zu unternehmen brauchen. War es auch noch so ausgekeuscht (wie wir das nannten). Aber man musste es immer wieder versuchen, auch bei solchen Sachen, das war man der Zeit schuldig – und damit als Journalist auch sich selber. Die Zeit begehrt immer Einlass, und sie pochte diesbezüglich bei uns schon lange an die Tür. Die Zeit ist so, wie sie ist, sagten wir uns, nämlich ziemlich nackt. Doch dann hatte der Alte seinen Auftritt. Wir versuchten es auch diesmal wortreich wie immer (das Palavern darum war längst zum Ritual geworden). Der Dittl saß nur da mit einer Miene, als ob man über ihn zu Gericht säße. (Dittl war überhaupt ein bisschen schwierig, man hatte nicht unbedingt gern mit ihm gearbeitet, er war etwas eigenwillig, kam einem mit Kunst und so etwas, wenn es um bloße Tatsachen ging. Aber er war ein guter Mann, verstand seinen Job.)

   Nicht dass einer von uns Verpackungen voll aufblättern wollte. Wie in anderen Blättern bereits an der Tagesordnung. Man wusste ja, wo man arbeitete.

   Wir hatten uns, lange bevor Dittl mit seinem Material aufgekreuzt war, ein paar pfiffige Lösungsmöglichkeiten ausgedacht. Mit Andeutungstechnik, wie wir es nannten. Also nur ganz wenig Fleisch. Der Mann kennt das: Nur ein bisschen reicht, das bringt es, das törnt an. Die Fantasie entblättert den Rest ganz von alleine. Wir mit unserer Andeutungstechnik wollten irgendwie auch die Fantasie des Lesers trainieren! Was ja kein zu unterschätzender volksbildnerischer Nebeneffekt gewesen wäre, grinsten wir uns. Unser Angebot an den Alten stand ganz unter dem Motto: Es reizt nur, was noch irgendwie verborgen ist. Die Fantasie ist im Grunde tüchtiger als das Auge. Aber – und darauf kam es uns eben an – man muss dieser Tüchtigkeit des Menschen einen Anstoß geben, indem man den Weg zum Verborgenen aufzeigt.

   Auf diese intelligente Folgerung wollten wir uns etwas einbilden. Aber in unserem Laden war so etwas in den Schnee gepinkelt. Die Beine, gut, da war was zu machen. Kunststück. Wohl seit der Zeit, in der Marle­ne Dietrich so richtig voll drauf gewesen war, haben sie auch in unserem Blatt Beine gebracht. Das wirk­te aber fad in der alten Mache, so unterhalb vom Straps, von der sie im Grunde nicht abkamen. Ausgesprochen antiquiert. Wo war da das Neue, das unerhört Neue? Wo war die atemberaubende Überraschung für den Leser, der ein Recht darauf hat, für seine Lese- und Betrachtungsmühen entschädigt zu werden? Wo war da das Aufreizende, Anhaftende, die Gedanken Besetzende, für das der Leser sein Geld hinlegt? Wo war all das, was in seiner Summe seine bindende, verbindende Wirkung tun könnte? – Bis eben anderntags die Ablösung davon durch brandneuen Zündstoff auf den Markt katapultiert würde. Das belebt und bringt überhaupt letztlich auch das Geschäft. Was sonst?

   Man war schließlich irgendwie Idealist und dachte sich: Wenn der Leser diese seine Zeitung aufschlägt, dann muss ihm irgendwann die Spucke wegbleiben. Da muss er auf einer möglichst hohen Stufe angenehm verwirrt sein. Und zwar so, dass es ihn möglichst den ganzen Tag bewegt. Er muss ja doch hinweg über den blöden Alltags-Öd, den fiesen Alltags-Mief, den vermaledeiten Alltags-Zoff. Unsereiner hat den Menschen dabei zu helfen in dieser Zeit."

 

   Deine Aburteilung des Alltags. Das ist dir jetzt in deiner Warterei so flott aus der Feder gegangen. Freilich, dieser Zustand! Du legst den Stift hin.  

   Etwas die Beine vertreten. Zum Fenster hin. Es ist schön draußen. Irgendwie herbstlich. Mach das Fenster auf. Lasse den Föhn herein. Die tief stehende Sonne. Du solltest hinausgehen. Aber da ist auch deine Angst gleich wieder da. Doch wenn du unter Leuten bleibst, dann werden sie dich doch nicht angreifen.

   Dann entscheidest du dich für deinen Text, weil dir da anscheinend ein Schmunzeln aus deiner ganzen Kümmernis heraus gelungen ist ...

  "Man ist natürlich auch Aktivist, hat man sich gesagt: Die Leute sehen sich ja immer mehr Gelaber ausgesetzt. – Da schmeißen wir unsere Aufmacher in den Ring, flankiert von einem reizenden Bild. Da merkt der Mensch, dass er ernst genommen wird und der Denkprozess etwas körperlich Ganzheitliches ist.

   Die Leute sehen, dass die Mitteilung allmählich zum Einwegprodukt verkommt. – Da setzen wir das heiße Thema, garniert mit Kurven, und wir produzieren auf diese Weise das vielfache Echo der Mitteilung, und zwar auf allen Kanälen der menschlichen Existenz. Auf die Leute kommt totales Ex-und-hopp-Gerede zu und die Berge Wortmülls werden höher und höher. – Da zünden wir die Rakete und überfliegen dieses sonderbare Gebirge ...

   Dieser Vakuum-Gesellschaft stopfen wir die Löcher. Wir füllen die immer länger werdenden Pausen zwischen den wirklichen Gesprächen. Und lauter solche Sachen machen wir.

   Aber wir schlagen auch mal Brücken über die Klüfte zwischen den Menschen. Man ist eben auch sozial gefordert. Wir tun das nicht mit Ballast, um den Leuten womöglich den Kopf vollzustopfen. Wir sind ja keine Sachbuchschreiber, die Halbwissen säen – und im Grunde nur Einbildung ernten.

    Durch die immer zahlreicher werdenden Hohlräume hindurch sollen sich die Leute ruhig einmal mit der Schubkraft fesselnder Gedanken katapultieren – lassen. Oder sie sollen doch wenigstens die Stellen ihrer Nicht-Vorhandenheiten mit irgendwas von irgendwo auffüllen können. Sich so wieder näherkommen: Da liest einer des Morgens um sechs in der trüben Stimmung des Arbeiterzuges seine Zeitung. Sein Gegenüber graut sich in seine Tageserwartung hinein. Siehe da, sein müder Blick verfängt sich: Da ist ein Aufmacher, ein Kasten, ein herausspringendes Fettgedrucktes, und schließlich reißt ihn ein reizendes Busen-Bild aus seiner trüben Laune heraus. Seine Fan­tasie macht sich auf den Weg, in Paradiesen zu wandeln. So nähme der Tag am Ende doch einen guten Anfang."

 

   Da ist dir plötzlich der Sänger Franz im Kopf – und die Frage, was der wohl zu diesem Spiel mit der Blöße anzumerken gehabt hätte. Du hörst ihn richtig poltern. Der Staatsanwalt hätte alle Schreiberlinge von Schmutz und Schund ins Zuchthaus gesteckt wegen der Unzucht von so etwas. Ob Sänger überhaupt Zeitung gelesen hat? 

   Jetzt sagst du dir, dass es schade ist um ihn, den alten Schwerenöter – und um den Unterhaltungswert seiner verqueren Sittsamkeit. 

   Du machst dich wieder ans Schreiben, dass dich nicht etwa noch Trauer überkommt. Das fehlte noch ...

  "Damals das mit Dittls Bildern. Wir in einer Debatte. Mit einer unangefochtenen Autorität der Führungsspitze, immer noch – oder schon wieder. Es zeigte sich bei solchen Redaktionssitzungen gewöhnlich folgende Szenerie: Die Bude war eingenebelt. Jeder qualmte sich seinen Frust weg. Der Alte, eine grau melierte, krawattengeschnürte Kopie von Vorkriegsausgabe, thronte über uns und gab den Ton an. Er ließ sich, insbesondere wenn er einen Widerspruch witterte, keine Formulierung entgehen. Wir saßen da in unseren verschwitzten, nach Hektik stinkenden Hem­den (mit so einem Strick um den Hals als Krawatte, damals sogar noch) und ließen uns aufrufen wie Schuljungen.

   Bei Dittls Material konnte man bei Körper mit noch so guten Einfällen kommen – wenn man aufgerufen war. Es war bei Unten einfach kein Zugeständnis loszueisen. Man musste sich in unserem Laden auf andere Zonen konzentrieren. Selbst da war auch gleich alles ausgereizt.

   Das Oben-ohne gehörte bei der Konkurrenz zum Inventar, das man nicht der Illustrierten überlassen wollte. Da war bei uns noch wegen jedes Millimeters Verpackungsverzichts am Dekolletee Ärger mit der Geschäftsleitung vorprogrammiert. Es ertönten immer wieder solche Sprüche: Man schmiert hier in diesem unserem Hause schließlich kein Boulevardblatt zusammen, das an die niederen Instinkte des Mobs appelliert, sondern man gestaltet eine Gazette mit einem unbezahlbaren, da nur äußerst mühsam zu erarbeitendem Prädikat: Unser Traditions-Blatt ist eine gutbürgerliche ... –     

   ... Küche!, hatte da der Wegmann einmal dazwischengefunkt und sich auch noch ergänzen trauen: Gutbürgerliche Küche heißt es! Nämlich, dieses Gutbürgerlich ist mit Küche besetzt! Es soll eigentlich nur heißen: 'gutbürgerliche Küche', nicht etwa 'gutbürgerliche Zeitung'!

   ... Wer das nicht auszumachen in der Lage ist, polterte der Alte weiter – einen auf unbeeindruckt ma­chend –, der ist entweder dumm oder verfügt über zu wenig Geschmack! Oft sogar beides. Und ... 

   Da stimme ich zu!, lachte der Wegmann – und wir hatten zu tun, uns das Lachen zu verkneifen. (Wegmann war bald darauf gegangen, und zwar in beiderseitigem Einvernehmen, wie das beim Rausschmiss im Arbeitszeugnis so schön falsch heißt.)

   So ein Hickhack um etwas mehr Haut kam immer wieder mal auf. Was dabei rauskam, war auch gleich. Wir haben am Ende natürlich auch mit Dittls Fotos zurückstecken müssen. Die Geschichte mochte allerdings einen höheren Stellenwert gehabt haben, denn der Alte wartete mit einem Verbal-Monster auf und brachte daher, was sie in dem Laden, vermutlich in journalistischer Steinzeit, zur Direktive hochgepo­wert hatten: Die ethische Norm solle nämlich auch jeweils eine ästhetische Größe sein! Er hat das dann wie gewöhnlich noch philosophisch breitgewalzt. Vom Werteverfall war selbstverständlich wieder die Rede, dem es entgegenzusteuern gelte ...

   Der Alte ist in der grauen Vorzeit des Adenauerregimes vom erzbischöflichen Ordinariat hier eingeschleust worden, sagte einer, als wir abzogen. Dem Erz-Bischof sein Erz-Engel, setzte ein anderer noch drauf. Man sah dann zu, dass man irgendetwas außer Haus zu tun bekam.

   Es ging einem jedoch noch lange im Kopf rum. Dittls Bildmaterial stellte einsame Klasse dar. Der Junge verstand sein Handwerk. (Er hat auch bald nachher auf den Laden hier gepfiffen und sein eigenes Atelier aufgemacht.) Schon richtiggehend dokumentarische Kunst war das, auch wenn der Dittl einem sonst mit Kunst auf die Nerven ging. Man schwang sich dann schon auch zu so einer etwas üppigeren Konstruktion auf: Schier ein Knäuel von entblößten, glatten, wie im lustverschlungenen Liebesspiel von Schlangen befangenen, glühenden jungen Körpern.

Rings um dieses Wonneknäuel der duftende Blumenreigen einer Sommerwiese.

Man muss sich das allerdings vorstellen! Das auf Bild zu kriegen, mache dem Dittl erst einmal einer nach!

   Da denkst du immer wieder dran. Es geht dir dann gar nicht gleich aus dem Kopf: Dieser Akt schließlich im Schatten mächtiger Bäume. Auch das holt der Dittl raus: Kein Stamm zu sehen, aber du weißt sofort, da sind große Bäume, da ist Parklandschaft: Satte Blumenwiese – Licht und Schatten treiben ihr romantisches Spiel. Solche Sachen!

  Wie der Dittl sogar die Blumen rausgeholt hat. Oder dass er überhaupt die Blumen draufgenommen hat. Als Gestaltungselement, nicht etwa nur als Beiwerk. Darauf muss einer erst kommen. Integration. Noch dazu alles in Schwarz-Weiß. Holt der Bursche die Blumen raus, dass du sie richtig duften siehst – und wie sie richtig tanzen.

   Es kommt dir heute noch irre vor.

   Im Hintergrund zu sehen sind nur Segmente von Schatten. Aber du weißt sofort: uralte Parkanlage. Du kannst da gar nicht anders, du musst da denken: Villa und Wasser und Moneten und ...

   Irgendwie zelebriert, wie Dittl es brachte: Auf diesem Altar Blumenwiese dieses Jugendopfer der to­talen Umschlingung und Durch- und besser vielleicht sogar Eindringung – und weiß der Teufel was."

 

   Du musst lachen. Bereits das zweite Mal heute. Du holst dir was zum Trinken. Ja klar, gerade der Teufel weiß das, was da war! Du alberst so vor dich hin: Grüß Gott, Teufel! Du kommst einem da in den Sinn, wenn man so eine sonderbare Teufelserziehung genossen hatte. Bei diesen Kloster-Brüdern damals, die einem heute noch ein Rätsel sind. Zu glauben, dass bei so etwas der gute alte Widersacher seine Hand im Spiel hat, kann da gar nicht ausbleiben. Es ist eben alles teuflisch gut gewesen, was dieser Dittl gebracht hatte. Was der jetzt wohl macht?, denkst du dir, als du die Cola-Dose aufgemacht hast. Die Sonne steht tief und ihr Licht fällt durchs Fenster. Erst jetzt geht dir auf, dass das die Südseite sein muss, hier das Fenster. Du langst dir an die Stirn: Mensch, sagst du dir, da musst du erst an die Wohnung gefesselt sein, bis dir so etwas auf­geht. Jahrelang war es dir entgangen in der Hektik und ja auch Gleichgültigkeit deines Alltags. 

   Da lenkt man sich lieber wieder ab ...

   "Viele Leute haben mit geschriebener großer Politik nicht viel am Hut. Das holen sie sich alles über den Bildschirm, bunt und lebendig aufgemacht, mundge­recht geschnitten, mit dem Blick in die große weite Welt gewürzt." 

 

   Politik, ach ja. Du nimmst wieder einen Schluck aus der Büchse. Du hattest dich ja nie richtig erwärmen können für Politikgeschreibe. Die Zeitungen, die im Hinterland als Heimatblatt daherkommen, müssen sowieso mit dem Vor-Ort-Geschehen aufmachen und vor allem ein gutes Gespür für die Stimmungslagen haben.

   Doch das war zu der Zeit da mit Dittls Bildern damals in der Redaktion ja kein Thema mehr für dich. Politischer Journalismus, du lieber Gott, da warst du bereits drüber weg. Und zwar gerade in Anbetracht des Abdriftens deiner immer noch hoch verehrten 'twen' in politische Sphären. Du hattest das ja auch richtig gesehen: 'twen' ist wegen seiner politischen Versuche in der Dutschke-Zeit Anfang der Siebziger eingegangen ...

   "Mit so etwas wie mit den Bildern von Dittl hätte man aber lange nach Oswald Kolle eine zweite Aufklärungs-Welle starten und ganz oben schwimmen können."

 

   Über diesen Einfall musst du lachen, denn da taucht die ganze Posse auf, die um die Aktionen zur Bewältigung der sexuellen Aufklärung abgespult worden war. Damals als Knabe in der Kloster-Schule. An Pflanzen wurde es dargestellt. Vertieft durch das Beispiel der Bienen. Es kam dann beim Vollzug der Königinbegattung dahin, darauf hinzuweisen, dass diese Dame nur einmal Verkehr habe und auch das nur mit dem Ziel des Sammelns von Genmaterial, das sie dann ihr ganzes Leben und bestimmt ohne Lustempfinden einsetzen würde. Während ihr an sich bedauernswerter Drohn eben auch nur ein einiges Mal den Akt vollziehen könne, um am Ende sogar seines geschlechtlichen Werkzeuges verlustig zu gehen. Dieses verbleibe sozusagen im Leib der Königin, um diesen einige Zeit zu verschließen. Es schauderte den Knaben bei dieser Ausmalung. Mitleid überkam ihn. Schließlich war man als Junge heil froh, nicht im Bienenstock das Licht der Welt erblickt zu haben.

   Das Eigentliche hat doch erst die Kolle-Zeit in Angriff genommen. Da wurde sogar die als schädlich bezichtigte Eigenbetätigung vom Verdacht be­freit, sie zehre an Rückenmark und Hirn und führe zur Verblödung und anderen Gebrechen. 

   Was soll das aber? Es hat sich bei dir das alles sowieso als eine schier nicht messbare Geringfügigkeit eingerichtet. Worin es keine richtigen Umtriebe mehr veranstaltet. Sonderbar. Wann hätte es das allerdings bei dir je auf nennenswerte Weise getan?, fragst du dich jetzt. Wenn du an deine Verflossene denkst: Elsbeth. Ach, du lieber Gott, dein misslungener Versuch. Dein flachbusiger Bubikopf. Da kommt auch kein Quäntchen Entzugser­schei­nung auf. Nicht mal jetzt in deiner Einsamkeit, mit der Coladose in der Hand ...

 

  "Mit Dittls Bildmaterial wäre die Liebesbetrachtung immerhin dem Voyeurtum entrissen und in Sphären der Kunst entrückt worden. Mit der Ablehnung dieser Kunstwerke wurde hingegen gewiss eine große Chance vertan. Denn nicht etwa auf Geilheit zielende Pornografie hat Dittl da aufs Tapet gebracht. Das war reif, um zum Beispiel auch, entsprechend geschnitten und detailvergrößert, als Poster an der Pinnwand zu landen. Was einige Kollegen eben genau so betrieben haben: Ordentlich aufgehängt (auf den Zettelwust drauf, der da immer war) und alle paar Tage ausgetauscht mit frischer Ware aus Dittls Serie. Eine aufwändige Sache das. Aber lohnend, denn es erregte Aufmerksamkeit. Kunst an der Wand, und das in dem Ambiente, und nicht nur der gewohnte Pa­piersalat. Hat richtig die Stimmung gehoben. Allerdings nur bis zur nächsten Redaktionssitzung. Da hat es gekracht: Da wurden die Akteure der Pinnwandszene vom Alten als perverse Fetischisten gebrandmarkt. (Du hast dich nicht direkt betroffen fühlen müssen. Hast den Anblick zwar auch irgendwie, vielleicht auch nur aus Protest gegen den Alten, genossen und deine Bemerkungen losgelassen, aber du hast dir gesagt: Halte dich ansonsten raus und fange nicht auch noch an, sozusagen Lustplakate zu hängen. Denn da kommt was nach!, hast du dir gleich gesagt.) Dann noch die Frage vom Alten: Ob sie sich unters große Heer der geistigen Kleinrentner (ein von ihm gern benutzter Ausdruck) zu mischen gedächten. Dann sollten sie sich gefälligst sofort den Jagdschein, nämlichen den nach Paragraf 51 StGB, verpassen lassen und den Freifahrtschein in die Klapsmühle gleich dazu. Der Alte triumphierte und klotzte noch einen drauf: Zahlt alles die Krankenkasse. Kurze Pause. Sie sollten aber der Geschäftsleitung gefälligst den Kündigungskram ersparen, der ob ständig fortschreitender Ver-Marxung der Gesellschaft immer umständlicher wür­de. Das gefälligst, hat er noch draufgesetzt, bevor auch nur einer der Großinserenten oder Anteilseigner erführe, in was für einer paradiesischen Aufmachung seine Töchter hier aushängen. Wieder Pause. Fehlte gerade noch, dass euch Brüdern auch die nackten Knaben zum Opfer gefallen wären. Mein lieber Schwan! Das wäre die absolute Kriminalisierung! Noch, meine Herren, existiert der Hundertfünfundsiebzig in seiner vollen Würde, Größe und Wucht im Strafgesetzbuch und im gesunden Menschenverstand, selbst wenn da die vereinigte politische Linke schon lange daran herumnagt! Dann holte der Alte noch mal tief Luft und meckerte in einer Halblache: Die Schwulen und die Linken, eine warme und gänzlich unappetitliche Bruderschaft! Das hatte damals schließlich nicht erst der Führer erkannt!

   Folgte aus unseren Reihen so ein Geräusch in Tonlage und Volumen zwischen gequältem Winseln und zur Hälfte im Hals stecken gebliebenem Lachen."

 

   Du machst Pause und versuchst, den Mix aus Win­seln und ersticktem Lachen zu produzieren. Solche Kreationen der gepeinigten Menschenseele hast du eigentlich nie mehr gehört. Du probierst es noch mal. Aber es will dir nicht gelingen. Obwohl du gerade jetzt dafür geeignet wärst, jammerst du dir vor. Da nimmst du doch wieder das Papier ...

  "Der Alte polterte noch, nachdem er uns einen triumphierenden Blick zugeworfen hatte: Darf ja nicht wahr sein! So ein verrückter Affenstall! – Die Großaktionäre, die immer besonders sensibel seien, sähen dieses an Gemeinheit und Abartigkeit nicht mehr zu überbietende Machwerk eines ganz niederträchtigen Heckenschützen mit einiger Sicherheit und erheblicher Abscheu als Spielart von immerhin auch strafrechtlich relevantem Einbruch in die Privatsphäre. Zum Schluss hat er noch einen scharfen Damokles über uns zum Schweben gebracht: Wenn diese ganze Korona hier Muße hat, sich solche zeit- und obendrein hirnraubenden Späßchen zu erlauben, sagte er und grinste überlegen, dann kann man ja getrost unterstellen, dass man in der Redaktion personell viel zu üppig ausgestattet sei!

   Dann beim Hinausgehen von einem Kollegen das: Das ist ja hier alles so verstaubt. Wenn einem auch nur ein Furz auskomme, kriegten alle gleich das Niesen!

   Freilich hast du nach dieser Philippika wieder ruhig deiner Arbeit nachgehen können. Du hast dir ja nichts vorwerfen müssen. Deinen geringen Bedarf an Nackt­heit hast du immer anders befriedigt als an der Bürowand. Man hat schließlich noch immer gewusst, hast du dir sagen dürfen, bis zu welchem Punkt man gehen darf. Erziehung! Man besaß die Reife und dach­te jetzt durchaus mal an die Bemühungen der bekutteten Klosterbrüder – im Nachhinein doch auch wieder irgendwie Freunde (die einen vielleicht ein bisschen ver-, aber immerhin auch hingebogen hatten).

   Die Angelegenheit um Dittls Lustknäuel schien er­ledigt. Dir flimmerte höchstens noch dann und wann mal was von diesem strammen Fleisch durch die Erinnerung – richtete aber nicht gerade einen Aufruhr der Sinne an.

   Etwas Zeit verging. Während dieser muss allerdings jemand in der Angelegenheit um die Bilder herumgestochert haben. Denn eines Tages war das ganze Ding wieder da. Der Alte kam da frontal auf dich zu: Ob er sich mal setzen dürfe."

 

   'Er kam auf dich zu', zitierst du dich selber. Sieh mal an: Du! Da kommt es jetzt auf dich zu und will seinen Einzug auch in den geschriebenen Text halten. Es ist ja verdreht. Du oder ichdu. Da darfst du gar nicht weiterdrehen. Sonst nimmt diese kreisen­de Bewegung an Geschwindigkeit zu und du läufst Gefahr, aus der Bahn geschleudert zu werden. Und mehr als sowieso schon. Dabei ist das Zentrum die­ser gefürchteten Drehbewegung dieses dein verlorenes oder auch nur verborgenes Ich. Du wirst es nicht so leicht klären.

   Du musst weitermachen: Du begnügst dich ja nicht mehr mit dem gedachten Wort in deinen Monologen. Nämlich seit du wieder zur Feder gegriffen hast. Um dich zu umkreisen. Dabei sichtbare Spuren zu hinterlassen. Warum solltest du nicht bei deiner Anrede bleiben?

   Damit nimmst du deine Notizen wieder auf:

   "Das schiere Erstaunen überkam dich nach diesem Auftritt des Alten. Du hast dich gefragt, ob er sich nicht in der Tür geirrt hatte.

   Er legte los: Einer von euch muss dieser Angelegenheit da ... – na, Sie wissen doch, das mit diesen – zugegeben gar nicht so schlechten – Bildern da hinterm Busch vor ... Aber das bleibt verdammt unter uns. Wenn da auch nur ein Mensch was davon erfährt, mache ich Sie zur Sau, dass Sie von Ihren vier Füßen dann keinen mehr auf den Boden kriegen! Kurz: Einer hat der Sache mit den Bildern ein wenig auf den Grund zu gehen.

   Sieh mal an!, hast du in dich hinein gestaunt und hast ihn fragend angesehen.

   Die Arbeit hat, um Gottes willen, äußerst dezent zu erfolgen.

   Aha. Dezent. Was für ein Fremdwort!, ging dir durch den Kopf, aber du hast das Maul gehalten. Was für ein Begriff überhaupt und in unserer Zeit – und bei dem Job hier!

   Um Missverständnisse gleich auszuräumen: Das geschieht zunächst und hoffentlich überhaupt nur für das Archiv.

   Interessant!, rutschte dir heraus.

   Er freute sich über deinen Einstieg und wurde ausführlicher: Es ist in einem Betrieb wie dem unseren ein Sockel an Sach- und Personalakten vonnöten. Vorräte sammeln, mein Lieber! Man muss seine Zeit samt Zeitgenossen im Griff haben, will man seinen Einfluss nehmen. Sie können es meinetwegen auch anders umschreiben, nämlich mit Grundlage zu solider Arbeit. Als nun doch bald alter Hase werden Sie das natürlich auch ohne meinen Hinweis gewusst haben. Wir sind uns doch einig darin: Wenn man Zeitung im wahren Sinne des Wortes sein will, dann darf man der Zeit eben nicht müßiggehen. So eine gute Zeitung ...

   Vollkommen richtig!, hast du dich beeilt zuzustimmen – etwas zu früh, wie du sofort gemerkt hast. Denn du hättest dich vor deinem Start erinnern sollen, dass er Unterbrechungen jeglicher, auch zustimmender Art hasste. Er schaute dich bereits grimmig an und holte auch tiefer Luft ... Er schien es sich dann anders überlegt zu haben und machte friedlich weiter: Dieser Vorgang da, so unbedeutend er sich im Augenblick auch geben mag, kann ja durchaus auch einmal zeittypisch werden. Und zwar wird er es genau dann, wenn sich diese jungen Leute, um die es geht, zeittypisch entwickeln. (Er hat dabei die Brau­en hochgezogen und abgründig schlau dreingeschaut. Schließlich hat er den Zeigefinger erhoben.) Dann holt man eben diesen Vorgang hervor.

   Er blickte dich groß an.

   Ein verteufelter Schurke!, hast du in dich hinein geschimpft – und freundlich dreingeschaut.

   Er glotzte dich immer noch an und schien auf etwas zu warten. Du hast sofort begriffen: richtig! Ganz so ist es!, hast du auch prompt ausgestoßen.

   Er lebte unter deiner Zustimmung auf und stieg ein: Dazu, mein Lieber, existiert doch tatsächlich ein beinahe klassisches Beispiel, strahlte er. Im sattsam bekannten Magazin DER SPIEGEL war seinerzeit über den Mord an der Hure Rosemarie Nitribitt keine Titelgeschichte erschienen. Man stelle sich vor: zu der Zeit, auf der Höhe des Wirtschaftswunders und mit der Spur in höchste Kreise! DER SPIEGEL, dieser sensationslüsterne Verein, verzichtete! Hingegen schien dem Spiegel Handlungsbedarf angesagt bei der Sexaffäre des britischen Ministers Profumo mit einer gewissen Christine Keeler. Jetzt staunen Sie, Herr Kollege, über die Begründung! Der Fall Nitribitt sei nicht zeittypisch gewesen im Gegensatz zur Profumo-Affäre. Diese sei es in erheblichem Maße gewesen, weil sich darin doch ein grundlegender Wandel des moralischen Empfindens der Gesellschaft gezeigt ha­be!

   Der Alte hatte wieder, nun jedoch nachträglich sei­nen Zeigefinger oben.

   Feinheiten!, hast du nur herausgebracht, doch gedacht, dass du gerne etwas von den Millionen abbe­kom­men hättest, die da als Schweigegelder geflossen waren.

   Nachdem er sich wohl sicher war, dich zum Komplizen erhoben zu haben, kam er zum Schluss: Das müssen Sie einsehen, dass jemand diese Arbeit erledigen muss!

   Sie denken da an mich?

   Nichts für einen Anfänger!

   Nun ja.

   Niemand sonst im Betrieb kommt dafür infrage – und darf auch nur eine Ahnung davon bekommen. Das sage ich Ihnen gleich. Wenn da was durchsickert, sind Sie leider erledigt!

   Du hast zwar verständnisvoll genickt, warst aber überzeugt, dass diese Stinkstiefel wieder einen Fußabstreifer suchten und kalkulierten, dass eine Solofigur leichter abzuschalten sei, wenn was schiefgeht. Obendrein könnten sie mit dir als Ein-Mann-Truppe Kosten sparen.

   Der Alte sprang auf, klopfte dir gönnerhaft auf die Schulter und zog ab.

   Jedenfalls war da zunächst nur ein großes Fragezeichen. Doch du hast dir bald gesagt, in diesem Job darf einen überhaupt nichts wundern. Man hat es mit allem zu tun, was nur immer irgendwie denkbar ist. Mit noch ein wenig mehr. Man tut überhaupt gut daran, alles für möglich zu halten, was es noch gar nicht gibt. Das ist das totale Über. Du kannst in dem Job nur immer eins tun, um das annähernd in den Griff zu kriegen – oder doch wenigstens nicht abzusaufen, hast du dir gesagt: Alles rest- und erbarmungslos aufzuspüren und zu erfassen, was du fassen kannst und festhalten und bringen, auch wenn es dir über den Kopf wächst oder auch nur gegen den Strich geht. Eine Entsorgung musst du betreiben, um nichts weniger, als wieder Platz zu schaffen in der Welt, nämlich für alles, was da noch kommen mag.

   Okay, ein wenig hochfliegend. Aber man muss auch einmal solche Drachen steigen lassen, wenn einem der Wind danach ist.

   Das ist aber fauler Fisch, hast du dir gesagt, was dir der Alte da jetzt angedreht hat. Von wegen: Das kannst nur du. Das macht diesmal angeblich nichts, wenn du dich zu sehr festbeißt, hat er dir auch noch als Köder hingehalten. Das Archiv sei ein Vielfraß. – Gerade du sonst mit deiner Schreibe! Zu viel Schulaufsatz, hatte der Alte früher mal genörgelt. Aber diesmal soll es angeblich nichts ausmachen. Sollte heißen: Du bist ein Danebenlieger. Da haut man einem sonst diese Drohung um die Ohren: Rewriting. Ein an­derer trimmt deine Schreibe. Macht sie aktiv. Du stehst als Idiot da. Aber diesmal kannst du ja ... 

   Du bist abgezogen. Dann bist du tagelang mit einer Frage rumgelaufen: warum gerade du?"

 

   Du lässt jetzt das Schreiben sein. Während du dann verschiedenen häuslichen Verrichtungen nachgehst, wirst du aber den Gedanken nicht los. So als hättest du diesen bescheuerten Auftrag eben erst aufgedrückt bekommen. Dann denkst du doch auch noch ab und zu an deine dir entwischte Elsbeth. Diese ehemals wandelnde Gesprächsbereitschaft verlässt dich eine ganze Weile nicht. Beim Abendessen sitzt sie im Geiste mit am Tisch. Was hat man mit Elsbeth auch diskutieren können. Permanente Fortsetzung des soziologischen Oberseminars in der chaotischen Wohnhöhle. Mit jemandem reden. Das wäre nicht so schlecht, deswegen gönnst du dir hier jetzt die Erscheinung Elsbeths. Sie wäre in diesem Falle und auch sonst nützlich gewesen, gestehst du deinem Phantom ein. Im Übrigen hätte man von diesem Kolle einen Hinweis ernst nehmen sollen. Die Frauen nämlich seien gar nicht so erpicht darauf, die männlichen Ausscheidungen in sich zu empfangen. Sondern sie stellen eher auf die Zärtlichkeiten ab. Deine verkorksten Bettgeschichten der Zeit mit Elsbeth verwischen dir allerdings den ganzen Spuk ihrer Erscheinung von eben.

   Am nächsten Morgen erinnerst du einen Traum: Elsbeth hat dir etwas gedreht. Konnte eine Zigarette gewesen sein. Ein auffallend langes, weißes Ding. Als du es reinstecken willst, da siehst du es rausquellen, vorne und hinten. Du machst das weg, was da rauskommt und steckst dir das lange, weiße Ding in den Mund. Da kommt aber immer noch was raus. Dir in den Mund, das Zeug. Elsbeth steht mit dem Feuer da. Du fängst an rumzuspucken. Sie steht da und schaut dir geduldig zu. Sie hat jetzt noch kürzere Haare. Du quälst dich herum mit dem Spucken und dem Zeug. Sie steht da mit dem Feu­er. Nach einer Weile ist alles weg.

Um nicht bei diesen Gedanken hängen zu bleiben, machst du weiter.

   "Man darf sich ja nach Jahren harter Arbeit wohl einbilden, Profi zu sein. Aber da gibt es Sachen, vor denen du dann doch einen Bammel hast. Beim Essen kommt dir der Gedanke, da schnürt es dich zu. Du gehst dich erleichtern. Du glotzt in den Spiegel. Da fragst du dich, wer das dort ist. Ob du ihm auch noch die Hände waschen sollst. Verrückt. Wie ein Traum.

   Du warst also auserkoren. Eine fragwürdige Ehre. Sie hätten sich das auch zwischen die Backen schieben können.

   Du bist nicht mehr ganz neu und bereits etwas erfahren in heiklen Angelegenheiten, hat es geheißen. Klar, du bist schon einige Male richtig auf die Schnau­ze gefallen. Du wirst deswegen dieselbe tunlichst eher halten.

   Da ist es dir wieder hochgekommen. Zum vorerst letzten Mal warst du damals erst vor ein paar Monaten ausgerutscht und hingeschlagen. Indem du zusehen hast müssen, wie der gute Tom bei Gericht eine glatte Bauchlandung gemacht hatte. (Irre, in solchen Situationen rufst du dich sogar als deinen Tom auf – um noch weiter weg zu sein von dir!)

   Gut, war noch nicht ganz wasserdicht. Die fette Story da mit der Schmierage im Bauamt. Was ja nichts Besonderes ist und überall vorkommt: Da kriegt so einer mit 'ner dicken Tasche eine Wiese aus dem öffentlichen und naturgeschützten, ja nachgerade biologischen Heiligtum rausgemessen. Rand vom Stadtpark. Das auch noch garniert mit unverbaubarer Sicht gen Süden: Berge und sonst was für die fette schlaffe Seele und so. Das Ganze für 'nen Appl und 'n Ei. Dass die Pinke noch fürs Häuschen drauf reiche, jammert der Raffke. Braucht was Standesgemäßes fürs Heiraten vom Töchterchen und kann sonst nichts finden für die verzogene Göre. Weil schon alles da ist. Noch ein üppiger Spruch dazu: Man will es gar nicht für sich selber, überhaupt nicht – und für seine Kinder wird man ja noch sorgen dürfen mit seinen Vaterpflichten, in einer Zeit verfallender Werte, in der sich immer mehr Väter sonst aus dem Staub machen.

   Jedenfalls das gefundene Fressen. Wir, die Presse, die junge vierte Gewalt: Wenn die drei Klassischen zu lahm sind und unter Altersschwäche leiden, muss eben die Jugend die liegen gebliebenen Probleme in die Hand nehmen – und die Sachen zu Papier und in die Öffentlichkeit bringen. Diese scharfe Story um den Grundstücksdeal werden dir die Leute aus der Hand reißen, hast du dir noch vorgemacht: nämlich die abgehetzten Umlandpendler, die gequetschten Wohnsilo-Sardinen, die notleidenden Sozialinsassen. Das kratzt einen auf, wenn man wieder vor Augen geführt bekommt, wie benachteiligt man ist in dieser aufgeblasenen Gesellschaft, wo der kleine Mann dauernd irgend­einen Ellenbogen in die Rippen kriegt.

   Mache es!, hattest du dir noch gesagt. Oder ein anderer kommt und reißt sich die Story unter den Nagel.

   Du hattest die Sache angeschleppt. Siehe da: So etwas durfte dann doch mal rein in die gutbürgerliche Gazette. Klar, so etwas beschreibt das Über-Bürgerliche in einer Erwischtheit. Die Anprangerung wird dann von den Nichterwischten akzeptiert und mit einer stillen Wonne zur Kenntnis genommen. Als wäre es so eine öffentliche Hinrichtung, an der man mit einem lüsternen Schaudern teilnimmt: Die Nichterwischten fühlen sich schlauer, geschickter, glücklicher in ihren Betreibungen jenseits der Gesetze. Was will man mehr? Gilt obendrein als Lehrstück für den Zwang, höllisch aufzupassen, wenn man bleiben will. Also rein in die gutbürgerliche ...

   Aber das verfluchte letzte Stückchen im Puzzle hattest du eben leider nicht beibringen können bis zum Gerichtstermin. Eine popelige Kopie, ein paar Zeilen nur. Du hattest zwar von der Absprache zwischen Bauamt und Baulöwen gewusst, drum warst du ja eingestiegen. Dass sie es niedergeschrieben hatten, war dir auch bekannt gewesen. Doch der teure Zuträger hatte kurz vor Torschluss das Gesangbuch der Mehrheits-Riege im Stadtrat genommen. Was ihm die Stimme verschlagen hatte.

Nichts mehr rausgelassen, weder in Aussage noch Kopie.

   Fünfzigtausend bei Wiederholung. Das Dementi in die Zeitung. Und dieser Raffgeier, den man gerade noch rupfen und braten wollte, der flog mit seiner Beute lustig (da Schonzeit) davon.

   Am Ende das mitleidige Schweigen in der Räumlichkeit vor Ort.

   Nun jedoch hier dieser Bildkram vom Dittl, den sie dir aufgedrückt haben?, hast du dich geärgert.

   Wie du dich aber auch gedreht und gewendet hast, es blieb dir nichts anderes übrig, als dich anderntags bereits ans Werk zu machen. Mit viel Vorsatz für die Recherche.

Wo aber anfangen?"

 

   Wie dir die Bilder so durch die Gedanken ziehen, da ist doch plötzlich wieder Elsbeth dazwischen. Mit ihr reden können, kommt es dich an. Jetzt hast du nicht mal so jemand wie Elsbeth. – Da springen die Gedanken auf das Finale mit ihr und aus welch einem Grund sie dich versingelt hat. Das mit deinen Hosen will sie so abgestoßen haben. Dass die aus deinem unergründlichen Antrieb immer sorgfältig auf den Bügel mussten, bevor du zu ihr ins Bett gestiegen bist. Wo du es doch sonst mit der Ordnung nicht so genau hast!, mäkelte sie stets. Sol­che Sachen, die sie widerwärtig gefunden hatte, kommen dir. Sie hat dich dann ein rosaroter Teddybär genannt, als sie abzog.

   Du wolltest bereits anfangen, darüber nachzudenken, was damit gemeint gewesen sein könnte. Du ziehst es aber vor, dich wieder auf dein Schreiben zu verlegen, weil dir gerade dein Spiegeltheater in Erinnerung kommt:

   "Am nächsten Morgen hattest du den Kerl da dir gegenüber im Spiegel als einen Hampelmann betitelt. Er hat dir beim Rasieren Grimassen geschnitten. Eigentlich hättest du ihn Clown nennen sollen. Das eingeseifte Gesicht eines Nassrasierers hätte eher für diese Bezeichnung gesprochen. Aber der Titel Hampelmann war nun einmal verliehen. Der war ja auch ganz treffend: Da braucht nur einer an der Strippe zu ziehen ... So eine Art Nabel oder eine Abhängigkeitsschnur. Und Tom bewegt jedes Glied. Sogar sein Jim ist irgendwie so ein Ding, das sich von Ter­minen hochziehen lässt. – Jim haben wir immer zu dem Ding gesagt, freilich. – Du hast ja überhaupt nichts fürs Herz. Wo du dich mal ausschütten könntest.

   Das ging so mit der Nachdenklichkeit und hat dir zugesetzt. Bis du eingepinselt warst. Aber es hat natürlich nicht viel gebracht. Was soll's auch? Allerdings weiß man, dass Nassrasierer mitunter starke Naturen sind. Es ist fast eine Weltanschauung. Solche Bur­schen sind nicht so leicht unterzukriegen, hast du dir vorgemacht – und zu schaben begonnen. Dieser Akt lässt einen immer irgendwie eins sein mit sich.

   Das Aftershave hat auf der Haut gebrannt. Da war die Frage wieder: Wo anfangen?

   Erst mal Kaffee machen. – Noch dazu diskret! Wo das sowieso nicht unsere Stärke ist. – Drei Löffelchen gleich drei Tassen. – Diskretion. Dass der Alte sich nicht entblöden kann? Oder übersetzt er Diskretion anders? Vielleicht kann man da heutzutage schon was rumdeuten daran und du weißt das noch gar nicht mit deinem fünf Jahre alten Duden. – Brot auf den Tisch. Die Butter. – Duden her! Richtig: ... Verschwiegenheit, Taktgefühl ... Du lieber Himmel! Da geht nichts! Und besinnungsaufsatze das mal: Diese unsere Informationsgesellschaft hat ihr Futter nö­tig, will bedient sein mit Öffentlichmachung. – Brot geschmiert. Einen Bissen. – Diese Gesellschaft würde durch Diskretion in tiefe Depression getrieben; sie er­sauft lieber in wie auch immer gearteter Informationsflut, als auf dem Trockenen sitzen zu wollen. – Eingeschenkt und dem Bissen nachgetrunken. – Diskretion stellt heutzutage die Ausnahme dar und ist beim heutigen Menschen allenfalls angesagt, wenn er seine Anstößigkeiten unter der Decke halten will. – Noch ein Brot geschmiert. – Das Wort hat längst einen Bedeutungswandel durchgemacht. Man ist sich jedoch noch nicht ganz im Klaren, ob es sich in Begriffen wie Schweigepflicht und Datenschutz wiederfindet, weil es sich dabei auch nur um löchrigen Käse handelt. – Die Marmelade ist angegammelt. Weg damit: Da ist Aflatoxin drin, hat doch die Hummler von der Ernährungsspalte erst neulich geschrieben, und du kriegst eine Fehlgeburt ... Eine Idiotie, dieses Gelesenhaben. Man verwechselt sich bereits selber in seiner eingebildeten Informiertheit, ha ha! – Weggespült. – Für den enormen Aufwand, der auch mit der gewandelten, um nicht zu sagen degenerierten Diskretion zu treiben ist, muss man heute schon einen guten Grund haben. Denn was kann überhaupt in dieser neugierigen Massengesellschaft noch geheim gehalten werden? Es wird immer enger, und alle hören und sehen überall mit. Aber wenn man etwas unter der Decke hält, die es vielleicht doch noch gibt, um das diskret gehaltene Ding vielleicht irgendwann einmal herauszulassen. Wenn es was bringt. – Heute eben Honig, obwohl der fett und die Zähne kaputt macht, wie man immer wieder liest. – Das ist es! Jetzt weißt du es wenigstens: Diese Bastarde von der Chefetage haben was vor! Von wegen hier Stoffsammlung fürs Archiv! Ausgerechnet du musst ihnen den Schlamm besorgen für ihren Sumpf! Diesen maßgeschneiderten Anzügen da oben, die immer so sauber aussehen! Den gutbürgerlichen Sumpf mit Blütentreiben oben drauf, den machst du ihnen zurecht! – Wenn es zu stinken anfängt, dann bist du eben das Schwein gewesen!

   Das nagt an einem! Von einer Tasse Kaffee zur anderen droht es sich auszuwachsen.     

   Also den Verkehrsfunk einschalten! Lässt einen irgendwo in einem Stau landen. Autobahnausfahrt Bayreuth. Du bist erst dort gewesen und hast gleich wieder alles vor dir: die Landschaft – deinen Blechkäfig um dich und deinen Hass auf alles Menschliche vor und hinter dir ... Es dröhnt aus den Boxen, und es hämmert dir die Gedanken aus dem Hirn. Was wir heute für eine derbe Musik haben – die man so aufdrehen muss, damit sie sich überschlägt. Es entgeistet doch immer ganz zuverlässig.

Tut allerdings gelegentlich irgendwie wohl, wenn nichts mehr da ist.

   Auf dem Weg dann in die Redaktion ist dir der Durchbruch gelungen. Ganz einfach, hast du dir gesagt: Im eigenen Geviert mit dieser Recherche anfangen. Den Dittl anbohren, diesen sturen Hund.

 

   Tage dann. Du bist auf der Lauer gelegen.

   Der andere Kram: Du hast nur Mumien aus der Schublade abgeliefert.

   Du hast versucht, in die Nähe von Dittl zu kommen.

   Die Schublade hat sich natürlich allmählich geleert. Du hast jetzt den Amateur an dich rangelassen, der dir schon lange in den Ohren – und auf den Nerven lag (so ein Leserbrief-Typ) und den du bis jetzt noch im­mer abgewimmelt hattest.

   Du hast zwischendurch immer wieder nach Dittl Ausschau gehalten: Eine Begegnung mit ihm musste ganz zufällig aussehen, sonst hätte er dich ja bestimmt abblitzen lassen.

   Dein Handlanger brachte gleich zwei Vorstadt-Skandälchen. Um Baugrund (du lieber Gott: Baugrund!) und Müll ist es ihm gegangen. Er hat aufgedreht, ohne Luft zu holen. Du hast in Gedanken schon mit Rotstift – und Wonne – an seinem Zeug rumgestrichen.

   Da ist der Dittl draußen im Gang aufgetaucht.

   Du hast den Quatschkopf rausgeschmissen und bist dem Dittl hinterher. Er ist auf dem Weg zum Klo gewesen. Prima. An der Rinne geht vielleicht was. Da kann er nicht aus, wenn er auf Strahl ist. (Das hatte man doch hin und wieder abgezogen, als man noch übers Dorfparlament zu schreiben hatte: Wenn die Gemeindeväter an der Rinne standen und es ihnen unten lief, dann lief es auch oben.) Es hat nebenan geplätschert. Da hat der Dittl doch tatsächlich selber zu labern angefangen. Hat von dir doch tatsächlich wissen wollen, ob dein Strahl auch so schwach sei wie seiner. Ist so eine Sache!, ist dir nur eingefallen. Und er weiter: Das ist die kranke Prostata. Du hast noch überlegt, was Prostata ist. Da hat er auch schon wieder die Hose zugemacht und war weg. Auch gut. War immerhin schon mal was. Du bist weiter auf der Lauer gelegen. Hast überlegt, was man bei Prostata bringen kann, um wieder ins Gespräch zu kommen. Hast träge und wachsam gelauert wie so ein Molch. Irrer Vergleich. Vielleicht mal beim Doktor anrufen wegen Prostata. Hast gelauert, um gleich zupacken zu können. Hat ja mit Prostata auch was sein können, was man selber gehabt und noch gar nicht gewusst hat. Den Dittl erwischen, hast du dir gesagt.

   Der Dittl ist aber ein wacher Zeitgenosse gewesen. Man hat es nicht gleich geglaubt, hat ihn eher für irgendwie behämmert gehalten. Es ist ja so, wer sich heute zurückhält, der hat auch gleich seinen Doofmann weg.

   Dann hast du es frontal versucht.

   Wie erwartet: Dittl hat nichts rauslassen wollen. Nur einmal bisschen angetippt, da hat er es sofort abgeschmettert: Kein Thema mehr für ihn, das mit den Bildern. Basta. Er hat nicht mal mit der Geografie herauswollen, wo er da geknipst hatte. Hat partout nicht sagen wollen, wo er angesessen war, als er seine scharfen Fotos geschossen hatte. Ist immer noch pikiert gewesen, von wegen der Verunglimpfung damals durch den Alten, der ihm die Qualifikation abgesprochen hatte. Dittl hat dich wieder abblitzen lassen. Pech gehabt.

   Also ab ins Archiv. Gerade davor hast du dich die ganze Zeit gedrückt (und auch sonst). Man will schließlich ins volle Leben greifen, wenn man wo hinlangt, bei diesem Beruf. Archiv ist was für blasse Magazin-Typen, Hintergrundbeleuchter, Kommentatoren. Das ist nichts für einen vollblütigen Zeitungs-Mann. Es lockt einen das Pflaster, das Parkett – ach ja, die vielen Hochzeiten, auf denen man tanzen will. Fester Boden unter den Füßen jedenfalls, eben Wirklichkeit, wie sie sich gibt, diese Hure. Jetzt aber doch in diese Gruft. Du hast da gestöbert: Einblick in weitere Zusammenhänge, Hintergrundbelege (offizielle Lesart). Immer diese Frage natürlich, ob man dem Leser Zusammenhänge mit Hintergrundwissen zumuten darf. Natürlich braucht man das in der Politabteilung, um auch einmal daran zu erinnern, was dieser und jener Paulus wann und wo als Saulus gesagt, veranlasst, verbrochen hatte. In deiner Angelegenheit ist da allerdings nichts gewesen als Staub und tote Hosen: Deine VIP-Kids sind noch zu neu gewesen. Du hast nur was über die Erzeuger von Dittls scharfer Schlangengruppe gefunden. Wenn es wirklich die Alten von denen waren. Nicht mal das ist sicher gewesen. Weit vorne anfangen. Du wirst jedoch gelegentlich vorschlagen, so etwas wie ein Fama-Archiv anzulegen (um Worte wie Klatsch, Gerücht und ähnliche Abwertungen für ein dringendes Bedürfnis unserer Tage zu vermeiden). Das ist dir beim Wühlen in dem alten Kram aufgegangen. Die Öffentlichkeit ist an der ernsten Politik immer weniger interessiert, ist bekannt, und zwar je komplizierter und damit anstrengender die Dinge dort werden und das Stammtischniveau zu weit übersteigen. Sie hätten das Vertrauen in die Politiker verloren, lautet dann die Ausrede immer häufiger. Oder es ist auch die sachliche Kälte, dieser vermehrt auftretenden grauen Politmäuse – die ja grau bleiben, auch wenn sie sich zum Elefanten auswachsen. Man weiß es nicht genau. Aber die Öffentlichkeit wendet sich mehr und mehr der amüsanten Mitteilung zu: Schwächen, Ticks, Verrücktheiten, Ausrutscher und so etwas. Man darf das jedoch nicht als Klatsch denunzieren. Darauf musst du sehen, hast du dir gedacht, dass Trends ernst genommen werden, sonst wärst du fehl in deinem Beruf. Demnach darf in der Bezeichnung dieses von dir vorzuschlagenden, vielleicht sogar zu gründenden Archivs auch der Begriff Klatsch nicht erscheinen. Sammlung allgemeiner gesellschaftlicher Ausdrucksformen, kurz Saga, könnte es betitelt werden. Man muss in dem Zusammenhang natürlich auch beginnen, eine Bedeutungsskala anzulegen, die Gradmesser für das öffentliche Interesse an einer Figur ist: Wann, wie oft, von welcher Menge und aus welchem Grund wird je­mand von der Öffentlichkeit wahrgenommen ... Lauter solche Sachen sind dir damals durch den Kopf gegangen. Auch, warum soll ein Drachen, den man bei guten Winden steigen lässt, nicht auch einmal zum Flieger werden, der sich selbständig fortbewegt?

 Oder gar zu einer Rakete mutieren ...

   Aber fürs Erste hast du doch wieder auf Dittl setzen und nicht weiter im Archiv herumgruften wollen – das ist es auch: An der Wirklichkeit muss man dranbleiben. Sie ziert sich manchmal, bevor sie sich gibt, gewissermaßen, aber schließlich lässt sie doch die Schleier fallen.

   Dann irgendwann in der Kantine! Du bist neben ihm zu sitzen gekommen. Du hast rumgenörgelt, während ihr euch das Essen reingeschlagen habt. Über die im­mer unerträglicher werdenden Arbeitsbedingungen hier, bist du hergezogen. (Du hast ja gewusst, dass der Dittl die Schnauze voll gehabt hat, und du hast dir ein ganzes Bündel Zustände zurechtgelegt gehabt, die du mit ihm entgegenkommender Weise durchlassen hast wollen, um ihm zu helfen, seinen Frust zu überwinden und um ihn freilich im Gegenzug zu öffnen für eine verwertbare Mitteilung in deiner An­gelegenheit.) Du hast noch ein paar Schüsse gegen den Saustall hier auf der Pfanne und hast auch bereits angelegt gehabt. Der Dittl aber hat dich von der Seite angepeilt, hat dich (dich!) bedauert, hat dir zugestanden, dass das alles hier einem Kerl in deinem Alter an die Nieren gehen könne ... (der ist heute richtig redselig, hast du dich noch gefreut) ... zumal in der Noch-Position, hat Dittl gesagt und sich seine Pizza reingeschlagen.        

   Na schau an! Wegen dieser Position, die du noch immer bekleidest, hat er dich bedauert. (Da ist dir doch ein Licht aufgegangen: Deine Position! Verdammt, wie ist der Dittl denn da draufgekommen?, hast du dich gewundert – und der Brocken ist dir fast im Hals steckengeblieben.) Die ganzen Gemeinheiten hier, die du dir sicher auch hättest gefallen lassen müssen, hat der Dittl weitergequatscht und dabei auf ordinärste Weise gemampft. Der miese und fiese Kleinkram ... (Wie kommt Dittl denn überhaupt auf dich, hast du dich gefragt, und in der Weise. Hier losziehen, der Dittl, und sonst die taube Sau mimen. Für die nächsten paar Minuten hast du im Kopf bloß noch Sprechblasen hochgekriegt – die du dann erst gar nicht abgesetzt hast.) Da hat der Dittl einen Kaffee gehabt und ist wieder drauf gewesen und hat dir sozusagen nachträglich pauschal in deiner Kritik zugestimmt. (Welcher Kritik?, warst du verwirrt. Aber allmählich bist du draufgekommen. Als er dir weiter zugestimmt hat, da ist dir aufgegangen, dass du mit Thema und Ton bei ihm richtig gelegen warst. Klar, er hat ja die Schnauze voll gehabt.) Allmählich ist man doch besser ins Gespräch gekommen. Er hat rausgelassen, dass es ihm schon lang reiche und er bereits angefangen habe, sich abzuseilen (was ja alle längst wussten). Selbständig machen hat er sich wollen, hast du dir noch mal anhören dürfen. Um das hast du ihn dann pro forma beneidet. Musste ziemlich ehrlich geklungen haben, dein Gesülze. Es kam jeden­falls gut an. In dieser Gemütslage hast du ihn dann weich gemacht: Ein Mann wie er; ein Spezialist mit diesen Fähigkeiten! Man muss ja nur diese Bilder da richtig beurteilen! Klasse Material!

   Dittl ist eingestiegen und hat prompt die Story mit besagten Bildern aufgeblättert. Was soll man da noch sagen?, hast du dich in seinen Vortrag hinein gefragt. Da hockst du rum und passt ihn ab und zerbrichst dir den Kopf und da kommt der plötzlich und im Grunde ganz unvermittelt von selber.    

   Der Rest ist dann wie geschmiert gelaufen.

   Du hast immerhin erfahren, wodurch er damals fündig geworden war. Er nannte dir auch einen abgehalfterten Tennislehrer. Der hätte ihm die Idee für die Bilder eingeblasen damals.

   Man muss auch mal Glück haben, hast du dir sagen können.

   Diese Wonnekids kaufst du dir sowieso, diese vom Schicksal verhätschelte Horde dort von der Blumenwiese, die hast du bereits an der Angel – oder so gut wie ... Sollte es sich machen lassen, dann kaufst du dir die ganze Chefetage gleich dazu – oder knüpfst du sie dir vor auf deine Weise (und mit deinen zwar beschränkten Mitteln, aber immerhin). Die wollen sich nur ihre Stiefel an deinem Fell wichsen – aber aufgepasst! Irgendwann geht es vielleicht auch andersrum.

   In solchen Augenblicken willst du voll reinlangen und aufdecken, die Decke wegreißen! Es geht um nichts Geringeres als um die Wahrheit, sagst du dir jetzt noch. Das baut auch moralisch auf. Man dient doch eigentlich der Philosophie des Lebens in diesem Beruf, beteuerst du dir gerne in solchen Augenblicken. Die Schwierigkeit besteht lediglich darin, die Wahrheit als solche noch rüberzubringen. Bei der Komplexität, die der Wahrheit zu eigen ist, und bei den leider beschränk­ten Möglichkeiten, die einem zur Verfügung stehen.

   Du hast dich noch am selben Nachmittag in der Redaktion abgemeldet und dich auf den Weg gemacht in die aufgezeigte feine Gegend am nahen Starnberger See. Dort musste sich das nach Dittls Fotos und schließlich auch Bericht ziemlich freizügige Völkchen tummeln. Aber erst mal einen Tag ausgespannt. Du hast ja die immerhin schüt­zende Hand über deinem Haupte gewusst, aus der du den Auftrag genommen hattest.

   Das Grüppchen zunächst informativ einkreisen!, hast du dir gedacht, als du am Ufer entlang spaziert bist.

Du hast auf den See hinauswollen und dir deshalb einen Ruderkahn gemietet.

Das stellt die eigene Anschauung auf kräftige Beine, wenn man sich so in immer enger werdende Kreise vor­arbeitet.

   Ob man es mal mit Angeln versuchen soll?

   Kein Termindruck. Man muss mal was ausprobieren. Auch in die Kiste deiner Erfahrung greifen, Schatz­truhe der Erfahrung. Ein bescheuerter Begriff.

   Dort ans Schilf ran! Man müsste eine Angel haben, um einen dicken Fisch herauszuholen.

   Ein richtiges kleines Lehrstück müsste man konstruieren.

   Das Rudern strengt an, tut aber gut! Wenn's nur keine Blasen gibt an den Händen. Man ist schließlich kein Handarbeiter – und hat seine schützenden Schwie­­len eher im Hirn.

   Man kommt jetzt in ein Alter, wo man sehen muss, wo man bleibt. Oder was von einem bleibt, vielleicht sogar. Also so richtig in die Zukunft weisen. Sein bisschen Jetztzeit in Vorauszeit überschießen – wie der Philosoph sagen würde. Man sollte doch wenigstens versuchen, dem Boden, auf dem man steht, seine Spu­ren einzuprägen. Wenn man überhaupt Boden unter den Füßen hat, ist natürlich die Frage. Ein Traum womöglich nur: Die Arbeit mit Hilfe der Objekteinkreisung könnte ein Lehrstück für die nachfolgende Generation von Journalisten werden.

   Du hast dann das Rudern eingestellt und dir die Klamotten abgestreift. Im Adamskostüm hast du dich auf dem Boden des Kahns in die Sonne gelegt.

Mein Gott, Traum! Und das in dem Job. Wenn man diskret mit seinen Träumen umgeht ... – shit, diskret! – Man muss sich Träume ganz einfach leisten. Als Jog­ging für die Seele ...

   Deiner Vorstellung nach mussten erst Informationsträger gefunden werden. Leute, die etwas über das Objekt bringen konnten. Da ist dir gleich Dittls Tennisrentner eingefallen.

   Klamotten an und wieder ans Ufer zurück.

 

   Es war dann nicht allzu schwierig, diesen ortsbekannten Typ aufzustöbern.

   Man traf sich in der Strandbar.

   Ein Pils, bitte, und der Herr hier einen Whisky.

   Scotch, ergänzte der Herr neben dir und geht mit den Augen über die Flaschenbatterie drüben im Regal.

   Selbstverständlich, mein Herr, sagte der Barkeeper, griff nach einer Flasche und präsentierte sie. Einverstanden, sagte dein Nachbar. Der Barkeeper machte sich daran, die Bestellung auszuführen. Du konntest dir einstweilen etwas über Whisky anhören, über Glenfiddich, der als 'Pure Malt' was ganz Besonderes sei – auch preislich. Klar, dachtest du, geht auf Spesen, und da langt der alte Trittbrettfahrer hin.

   Es ist dir, jetzt wo du das hier alles festhältst, wie eben: Du siehst dem Barkeeper zu. Ein kleiner, emsiger Mensch. Ein Gesicht – wie er das nur hinkriegt: so zwischen Traurigkeit und Lächeln. Du hast es versuchst nachzumachen. Siehst dich im Spiegel hinter den Flaschen. Es klappt nicht. Du lässt es sein.

     Heiße Joe!, hörst du neben dir.

     Du drauf: Angenehm, Tom – einfach Tom.

    Joe ist gleich wieder woanders: Der Wind stand heu­te gut, ein Top Segelwetter! Er sieht dich abwartend an.

   Habe gerudert, sagst du karg.

   Ach, ist ja toll!, lobt er dich und steigt ein: Macht enorm fit. Guter Körperbau, oben mit Breite und Mus­­keln, stehen die Miezen drauf! Du willst etwas sa­gen, aber er ist in Fahrt: Kajak? Oder was?, will er noch wissen, macht aber gleich weiter: Das wäre doch auf gewissen Abschnitten der Ammer spitze. War man früher häufig dort, also vor Jahren, harte Sache. Dann nach Garmisch zur Spielbank ...

   Du lieber Gott!, fährst du ihm in die Erinnerung, nicht gleich so aufwändig! Einfach stink normaler Kahn!

   Er scheint es überhört zu haben, ist nämlich ganz woanders, schwärmt: Ich kann mir nicht helfen, Tom, bei so einem Wetter, da sehen all die Mädchen einfach noch toller aus. Da quillt das sündige Fleisch aus der Verpackung und es steht ein Duft in der Luft und riecht nach Leben, ach ...

   Wie das?, willst du fragen, lässt es aber sein, denkst dir, dass er vielleicht ein romantischer Mensch ist – und schaust dem Barkeeper zu. Du bekommst natürlich mit, dass Joe noch bei seinen schönen Mädchen ist: Da stecke Sonne in diesen Körpern und dringe tief übers Auge in einen ein. Bis in die Seele.

   Ach, du lieber Himmel, Seele!, wunderst du dich.

   Das mache die Girls knackig, zum Anbeißen!, begeistert sich Joe, nimmt einen kräftigen Schluck von seinem Scotch und fährt fort: Sieh mir Seele nach! Weißt Du, man gerät jetzt in die Jahre, wo man sich manch­mal was ein bisschen durch den Kopf gehen lässt.

    Er macht eine kurze Pause.

   Klar, Joe!, beruhigst du ihn. Das ist so, wenn sonst nichts mehr geht, da geht's eben durch den Kopf.

   Das ist prima, Junge!, freut sich Joe und klopft dir auf die Schulter. Mit der Seele geht man halt zu sei­nem Therapeuten. Aber nur wenn's klemmt!, lacht er. Sonst lässt man sie besser in Ruhe, diese Wolke in ei­nem!

   Wie das?, willst du fragen, grinst aber nur.

   Der Mann hier ist von der Zeitung!, tönt Joe über die Theke weg zum Barkeeper hin und deutet auf dich.

   Der kleine Mensch da schüttelt gerade an einem Drink und dreht sich ein wenig mit dem Oberkörper in deine Richtung. Du siehst jetzt ganz deutlich die trau­rige Seite seines Gesichts. Angenehm, mein Herr!, sagt er zu dir her, macht einen kaum wahrnehmbaren Bückling und schüttelt weiter. Richtig, die Drehung macht den Dreh mit dem Gesichtsausdruck! Du freust dich und rutschst dich auf deinem Hocker zurecht. Er hat wohl eine freundliche und eine traurige Seite oder besser Gesichtshälfte, bildest du dir ein. Und er dreht immer die gerade passende Seite dem jeweiligen Schwätzer zu. So ist es wohl, bildest du dir weiter ein: Wo in der Mitte des Gesichts Traurigkeit und Freundlichkeit aufeinandertreffen, da bil­det sich diese unbeschreibliche Verachtung für das Geschmeiß vor seinem Tresen, das sich einbildet, mit seinen Ordern auch Achtung erkaufen zu können. Du glaubst jetzt, das Geheimnis der grauen Maus für dich aufgedeckt zu haben. Du freust dich, planst so­gar, dir auch so eine Visage zuzulegen.

   Dir fällt jetzt auf, dass man offenbar im ganzen Raum mitbekommen hat, dass du als einer von der Zeitung da bist. Denn als du in die Runde schaust, merkst du, wie sie herfeixen, sich zurechtrücken, jederzeit auf den Schuss aus der Kamera vorbereitet. Joe genießt die Situation, bist du überzeugt: Die Presse bei Joe, Joe ist in. Man wird sehen müssen, wie man bei ihm steht, was er von einem weiß und vielleicht der Zeitung verrät ...

   Sehr angenehm, mein Herr!, sagt der Kleine hinter der Theke hervor, als sich eure Blicke treffen.

   He! Was war das? Du hast dich doch nicht verhört. Klar, ein neuer Zug an der grauen Maus: Da war doch ... – wie soll man es nennen? War da so eine satte Portion Desinteresse unterlegt, in Ton und Mimik? Der Mann ist gut, denkst du. Spitze!, sagst du dir. Körpersprache nennt man das wohl. Wenn man das auch draufhätte. Da bringt er schon dein Pils.

   Bitte sehr, mein Herr!, sagt er. Sie verzeihen, mein Herr, Pils dauert seine Zeit!

   Er stellt mit eleganter Handbewegung ab. Zum Wohle, mein Herr!

   Klar, da war dieser Sound wieder, ganz deutlich. Sein bizarres 'mein Herr', das er mit seinem Ton ganz elegant sozusagen an den unteren Teil des Rückgrats setzte, samt diesem, jedenfalls in feineren Kreisen un­aussprechlichen Angebot, sich mit der Zunge dort zu betätigen. Man hätte Film haben müssen. Daran hät­test du dich dann immer wieder aufrichten kön­nen, wenn dich einer mal wieder auf diese Weise können sollte.

   Danke, mein Herr!, versuchst du nachzutönen. Aber dein '... Herr' ist dilettantisch. Den hast du nicht hinten runter gekriegt.

   Der Kleine wieselt ab.

   Du bist noch bei deinem Problem mit dieser Anrede – und am Rand deiner Gedanken schwadroniert Joe.

   Bitte sehr, mein Herr!, hörst du wieder.

   Auch mit Hollands Claus wollte Joe Tennis gespielt haben, wird dir dann mitgeteilt ... Mein Gott, Claus, krank und auf Tauchstation, wann kann Joe ihn getroffen haben? Aber an dieser Stelle sind Joe's Darstellungen ins Stocken geraten. Du hast ihm angemerkt, wie ihm die Stimmung abgesoffen ist: Alles läuft einem davon!, hat er noch geblubbert. Jetzt solltest du eigentlich einspringen mit irgendeinem Stoff. Aber du darfst noch nicht mit deinem Vorhaben kommen, warst du dir sicher. Er ist womöglich noch nicht genug abgefüllt.

   Du hast überlegt ...

   Raunen um einen herum, da und dort ein Kichern ... Bitte sehr, die Dame!, am anderen Ende der Theke.

   Du bist eine Weile nur dagesessen. Ab und zu einen Schluck. Dann ist Joe wieder aufgetaucht und hat gleich noch einen Drink bestellt.

   Was war dieser Claus doch für ein popeliger Botschaftsheini!, machte Joe wieder seinen Aufschlag.

   Bitte sehr, mein Herr!

   Immerhin nicht schlecht!, versuchst du einzuwenden, er hat doch ein Ass gelandet mit seiner guten Prinzessin-Partie. Aber Joe hörte dich nicht und war ganz in seiner Welt: Immer wieder wurde ein hoff­­nungsvoller junger Herr hier im Club angeschleppt. Er setzt gleich die Story drauf, dass da einmal ein ganz toller Hecht aufgekreuzt war. So ei­ner mit Fleiß zwischen den Beinen. Zwar nicht sonderlich erwähnenswert, meinte Joe, weil man in diesen Kreisen nicht gerade prüde sei.

   Du überlegst dir einstweilen, wie du der grauen Maus da hinter der Theke noch mal dieses abgründige Bittesehr entlocken könntest.

   Wenn dieser Bastard von Mallmant aufgepasst und nicht gleich zwei Groß-Erbinnen geschwängert hätte! Damals ...

    Herrgott, wann war das denn?, murmelte Joe vor sich hin. Dann stieg er wieder richtig ein: Jedenfalls war das noch nicht so mit der Pille. Aber mit Holland war das, wo sie dann hin sind und sich die Schande dann haben wegmachen lassen. Holland ist älter als die Pille! Ein schicker Junge, dieser Mallmant, und die Ladys hinter ihm her, sogar die alten. Da kriegt der Mann in einem doch fast einen Komplex, wenn er das sieht, wie sie hinter einem anderen so her sind. – Ach so ja, wegen Claus kam ich auf Holland! – Vielleicht waren sie so scharf auf den, weil er irgendwie ein biss­chen doof war. – Nicht der Claus etwa, Gott bewahre! – Es ist eigenartig, das scheint Frauen anzusprechen. Man hat was zum Reden gehabt. Also hat man auch seinen Spaß gehabt. Allerdings keinen von der feuchten Art, wie die Akteure. Ich gehe jede Wette ein, hat Joe erklärt und dir auf die Schulter gehauen, ich gehe jede Wette ein, dass auf den Mallmant auch Kerle scharf waren. Weil es solche in Massen gibt, sage ich dir. Solche, die auf beiden Schultern tragen ... – Joe habe das als ein aus der Ferne nüchtern beobachtender Zeitgenosse mit doch immerhin einigem Vergnügen registrieren wollen.

   Du hast die Flaschen im Regal drüben gezählt, und Joe ist noch im Spiel gewesen. Er hat sich diesen Mall­mant immer wieder vorgenommen: Ein Exote war er, hat Joe giftig gezischt. War von seinem auf jeden Fall impotenten Vater aus der Karibik samt einer mulattischen Mutter hier eingeschleppt worden. Ein Hurensohn!, ist Joe plötzlich laut geworden, dass die Leu­te aufschauten.

   Du hast dir natürlich den mulattischen Hybriden vorzustellen versucht. Bist weggeträumt: braune Haut und Palmenstrand und Urlaubsfrieden und Lustkonsum ...

   Irgendwann hat Joe mit jeder Menge Bällchen zu jonglieren begonnen, die er in seinem Leben in der Hand gehabt haben will.

   Warum gleich so etwas Großes wie 'im Leben'? Was sonst denn als Bällchen bei seinem Beruf?, hast du dich gefragt. Der hat vermutlich auch gar nicht viel mehr im Kopf als Bällchen. Was soll er da anderes in der Hand gehabt haben?

   Er hat weiter seine Show abgezogen, und du hast schneller getrunken. Ein paar Bier, auch mal einen Klaren dazwischen ...

   Du bist allmählich nicht mehr so richtig dabei gewesen. Aber was soll’s, hast du dir gesagt, man muss die Leute erst die dünne Oberfläche abgießen lassen, um ans Dicke zu kommen ...

   Joe ist einstweilen bei Sonne und Wind und rotem Ziegelstaub angelangt. Über Longline und Cross, Körpermaß, Rangliste geht es, falsches Bein und harter Aufschlag – und du hast noch tiefer ins Glas geschaut – Volley-Stopp und Familien-Knatsch und Aufschlagschwäche ...

   Ist alles ein bisschen viel, kommt es dir jetzt vor. Aber du bist ja dienstlich hier!, bist du innerlich strammgestanden. Du musst noch warten!, hast du dir befohlen. Versuchst dich abzulenken, kommst dann darauf, seine Töne irgendwie an sein Outfit zu hängen: graues schütteres, welliges Langhaar ums hagere, faltige Gesicht; Goldkette um den Hals. Eine verdorrte Bohnenstange.

   Noch ein Pils, mein Herr!, hast du dich wieder hören lassen. Mit wieder so einem missglückten 'Herr'.

   Du qualmst zu viel!, hast du dir vorgehalten. Aber was tun? – Oder? Wie ist das, sieht einer aus, wie er daherredet? Gerade das Dahergerede ... Warum beglotzt du ihn so? Wenn er das falsch versteht! Sein Haar hat einige Zeit keinen Kamm mehr gesehen. Auf Cognac umsteigen! Von dem Bier musst du dauernd rennen ... Joe hat noch seine Geschichten abgespult. Unverdrossene Weltsicht!, ist es dir durch den vernebelten Kopf gefahren. Du hast aus den Augenwinkeln auf ihn geschielt. Martin Heidegger ist dir plötzlich da gewesen wie ein Erlkönig: 'Selbstauslegung des Da­seins', wie einer spricht ... Es hat dich gejuckt, Joe zu fragen, ob er mit Heidegger auch schon Tennis gespielt habe. Aber Bedenken haben dich zurückgehalten, dass er auch daraus eine Story machen könnte.

   Bitte sehr, zum Wohle, mein Herr!

   Du hast jetzt Joe richtig zuhören wollen. Da hast du gemerkt, dass er wieder sein Bällchenthema variierte. Er macht jetzt Handbewegungen dazu: Handbewegungen mit nach oben offenen, hohl gewölbten Handtellern, befühlende, wiegende, knetende Andeutungen. So als läge darin etwas Weiches. Dazu seine lüsterne Faxe. Da erst ist dir aufgegangen, was für eine Art Bällchen dieser Bock dauernd in den Händen hielt.

    Sie hatten ihn nach dem Spiel immer wieder einmal zum Rückenrubbeln mitgenommen. Die jungen Damen vom Tennisclub. Oder doch nur diese und jene. Sie hat­ten sich einen Spaß draus gemacht!, hat er geklagt. Sie hatten ihn beim Duschen hinter sich kochen lassen. Er war da auch immer artig gestanden, in seinen Klamotten, scharf wie ein Messer und nass wie ein Pudel – aber immerhin kein Spielverderber. Er habe immer gemacht, was sie ihm befohlen hatten. Joe ist dann sogar biblisch geworden, hat das Beispiel vom armen Lazarus gebracht, der von dem leben musste, was vom Tisch gefallen war ... Es kam am Ende etwas weinerlich rüber.

   Da ist noch viel offen!, hast du dann gehört.

   Bei wem nicht?, deine Frage.

   Er ist schwer an der Theke gehangen, und seine Goldkette hat aus dem Hemd gebaumelt. Nach einer kleinen Pause hat er wieder an seiner Mitteilung zu arbeiten begonnen, ab und zu tiefe Erkenntnisse eingeschoben – und sich allerdings weiterhin eine trockene Zunge gemacht. Mit dem Glas in der Hand hat er jetzt ausgesehen wie ein Maschinist mit dem Ölkännchen, das er dauernd an die Buxe setzen muss. – So ein Eindruck von dir, der dich selber überrascht hat. – Joe ist Maschine gewesen. Hatte er jedoch zunächst schnodderig einen auf Preußisch gemacht, so ist er allmählich in einen Münchner Vorstadt-Slang geraten, hat am Ende genuschelt, ist kaum noch zu verstehen gewesen. Dabei hat er immer wieder mal gegrinst und wie ein Gaul geflämt, dass die gelben Zähne zum Vorschein gekommen sind. Er hat sich schwergetan, aber er wollte sein Selbstgespräch nicht abdrehen. Du hast es über dich ergehen lassen ...

   Offenbar ist dem Barkeeper dieses Szenario bekannt gewesen: Er hat in einem Sicherheitsabstand herumgewerkt und die Gläser blank gerieben, dazwischen hat er mit dem Tuch die Platte gewienert, auf die er die Gläser wieder abgestellt hat, immer wieder einmal hat er am Zapfhahn herumpoliert. Zwischendurch hat er herübergeschielt. Neben seiner Poliererei ist er eifrig um die Gäste am anderen Ende der Theke bemüht gewesen. Wenn dort jemand auch nur den Arm hob, ist er sofort zur Stelle gewesen. Die Nähe des Schwadroneurs an deiner Seite hat er gemieden, und du hast dafür volles Verständnis gehabt.

   Dann ist dir was gekommen: Bring Joe doch Dittls Bilder vor die Nase! Der Einfall hat dich wieder etwas klarer gemacht. Du hast dann immer ein Bildchen nach dem anderen aus der Jacke gezogen, angeglotzt, auf die Theke gelegt. Hast es so eingerichtet, dass Joe auch mal einen Blick auf besonders ausgeformte Sachen hat werfen können. Der Stapel vor dir ist immer höher geworden – und dein Nachbar immer neugieriger. Du hast ihm damit wieder richtig aufgeholfen. Er hat dann seine Sendung eingestellt und dich um die Serie angehauen. Den Wunsch hast du ihm na­türlich erfüllen wollen und ihm den Stapel hingeschoben. Er griff mit zittriger Hand nach dem ersten Bild und ist in eine tiefe Betrachtung getaucht. Er hat Na­men gemurmelt und jeden markiert: Mal hat er gejault, mal auf falsche Katzen und anderes Viehzeug geflucht, mal hat er Koseformeln gehaucht und alle Leibesfreuden beschworen – oder er ist auf ein Bild getroffen, bei dem ihm alles auf einmal rausgesprudelt ist. Er hat sich ganz offenbar auf einem Trip befunden und in einer anderen Welt. Dann hat er auch mal über ein Foto gestreichelt, es hochgehalten und angestarrt ...

   Der kennt jedenfalls die Vögelchen samt Käfig in den sie gehören, ist dir klar gewesen.

Dann ist er gleich wieder voll auf Sendung. Macht richtig ein Bilderbuch auf. Und du bist auf diese Weise mitten in deinem Thema gelandet.

   Das wird dauern mit seinen tollen Tagen, warst du dir sicher, hast dich auf deinem Barhocker zurechtgerückt und abwechselnd vor dich hin und auf die Batterie Falschen im Regal gestarrt und bist bereit gewesen, es über dich ergehen zu lassen ...  Dieser Domestik einer Scheckheft-Aristokratie wühlt im Abfalleimer, hast du noch riskiert, aber nur bei dir. Du bist allerdings bald ausgestiegen. Hast noch gesehen, dass der welke Typ da neben dir mit dem Kopf auf der Theke gelegen ist und mitgekriegt, dass er sich mit seinen lüsternen Märchen an dem Frischfleisch auf den Bildern geklammert, von sündteuren Bussi-Feten geträumt hat ...

   Es hat dir im Hirn schon geflimmert. Joe ist dir in einem Eintopf von Werbespots erschienen: Knorrig-abgeschlaffter Zigarettenmann mit dem Loch im Schuh; eisige Sektmädchen stehen herum; irgendwo ist sterilwilde Retuschennatur voll im Griff des Be­trachters, Konsumenten ...; es haut Musik in Joe's Erzählung; und sparkassengetreue Gummigebirge reißen auf ... und Joe geht ebenerdig durch, durch da durch und immer weiter ...

   Du bist dann mit Hilfe etlicher Cognacs fast ganz ausgestiegen. Immer wieder vornüber auf die Theke gesunken. Sind dann für Augenblicke beide dagelegen. Das mahnende ’Aber-Meine-Herren’ der grauen Maus hat uns stets hochrucken lassen. Doch in allen Lagen ist das Mundwerk von Joe nicht stillgestanden. Das ist dir bei dieser fordernden Prozedur noch klar gewesen: Freilich, der Leser ist scharf auf so etwas wie dieses Geseiche von Joe. Das ist das Leben!, hat dich bei der Stange gehalten und dich sogar noch reinhauen lassen: Dann aufmüpft er, der Leser und Zeitgenosse: moralisch und ästhetisch noch dazu. Oder auch bemüht intellektuell ...

   Dazwischen immer dieses Aber-Meine-Herren! Von jenseits der Theke. Im Fortgang sogar verstärkt: Ich muss schon bitten ..."

 

   Aha, murmelst du vor dich hin, als du etwa gegen Mitternacht deinen Brummkopf vom Tisch erhebst. Du hast ja während deines Schreibens dieses Theater richtig feucht nachgespielt. Die Sache mit deiner Erinnerung – und dem Cognac vor allem. Den du in dich während des Schreibens hast hineinlaufen lassen. Wo du dein Zu-Papier-Gebrachtes nun noch einmal überfliegst, erkennst du auch, dass sich dir immer wieder einmal die Zeit verspringt. Die Vergangenheit hüpft dir da und dort in die Gegenwart. Wo du gar so engagiert bist, verrätst du dich eben dir selber.

   Jedoch weiter:

"Du hast dich langsam vom Barhocker heruntergelassen, dich ausbalanciert und dich davongemacht.

   Frische Luft! Das hast du jetzt noch als tiefen Eindruck im Kopf. Die Ruhe vor allem: Keiner hat dich mehr in seine Welt mitzunehmen versucht.

   Irgendwo noch das viele Nass abgeschlagen. Dann ins Hotel.

   Irgendwann ist nach einem bisschen Restnacht der Sommermorgen durch die lappigen Vorhänge gesickert. Was für ein Eindruck! Was fängst du daraufhin mit der Sonne an. Heute dein Kopf! Du hast im Zimmer umhergestaunt. Da ist es dir ganz mies geworden. Es hat in der Birne ganz gemein gezogen und gestochen. Dazu das Ambiente, des abgewirtschafteten Ein-Stern-Hotels hier. Mit deiner komischen Spesensparsamkeit: Eine gewinnliche Zweitrechnung nach ’eine Hand wäscht die andere’. Du könntest jetzt vor dir selber ausspucken – wenn du keine so trockene Zunge hättest. Du sparst immer, indem du dich so weit unten ansiedelst. Sparschwein in dieser Absteige, diesem sozusagen deinem Schweinestall. Jetzt auch noch die gequälte Lunge und das Husten am Morgen. Dein Kopf vom Abend zuvor. Alles das. Wo warst du überhaupt? In den Gängen Trampeln. Was stand eigentlich an? Dieser zerknitterte Kerl da. Der verfluchte Alkohol.

   Was hast du für einen Job, Junge? – Mit dieser Frage bist du aus dem Bett gekrochen.

   Dusche, Kaffee, Zigarette – und ein paar Aspirin. Dann ist die Welt fast wieder die alte gewesen: Eine Veranstaltung, in der man sich doch immer wieder auch einzurichten vermag – koste es, was es wolle. Ganz einfach, weil man muss. Du wirst pro Übernachtung in der aufgebügelten Koje einen blauen Lappen Schnitt machen, klar: Sechzig echte Eier gegen hundertsechzig falsche, ein Geschäft. Wenn sonst schon nichts Spaß macht.

   Solche Gedanken an solchen Tagen und in aller Herrgottsfrüh!

   Schließlich hast du dich durchgerungen. Du hast dir dann für einen Augenblick sogar eingebildet, dass es ein wenig amüsant werden könnte, dort bei diesen Leuten etwas herumzustochern. Auch solche Sachen haben ihren Reiz.

   Aufgerafft und bei dieser exklusiven Adresse wenigstens und fürs Erste ein bisschen sozusagen über den Zaun geguckt! Du hast dann nach und nach Postboten, Putzfrauen und solche allgemeinen (aber gerade deswegen mit einem geschulten Auge für das Besondere) Personen befragt. Später noch einmal diesen Tennisrentner interviewt – und ihm die Ehre widerfahren lassen, ihn vorzumerken für einen Platz in deiner Zuträgerkartei.

   Natürlich würde es eine Weile dauern, war von vornherein klar. Nicht etwa die Erwartung aufkommen lassen wolltest du, dass jeder Angesprochene sofort loslegen würde! Die Leute drucksen häufig umso mehr herum, je weniger sie überhaupt wissen! So ein dienstbeflissener Hausmeister etwa, der lässt dich nicht einmal im Mülleimer wühlen – Behältnisse sind das ja, denen man in der Tat schon so manche Information entnehmen konnte!

   Lauter solche Erkenntnisse haben dich heimgesucht.

   Es war vielleicht ganz gut, überkam es dich, dass du dir die Birne mit Alkohol ausgewaschen und sozusagen desinfiziert hast. Jedenfalls sprühten bereits am frühen Vormittag die Einfälle: Du würdest bei diesen auszuforschenden Herrschaften unter Umständen sogar als Personal zu landen versuchen, um gründlich recherchieren zu können. Nicht neu zwar, denn man hat schon von solchen Aktionen gehört, mit denen diese Akteure den einen oder anderen Wirbel in der Öffentlichkeit erzeugen konnten.

Es ist bekanntlich nicht einfach, Einblick zu erlangen. Und zwar wegen der Verschanzungen, die diese Gesellschaftsklasse immer um sich herum errichtet. Ein paar Bröckchen finden sich jedoch immer. Der Rest ist meist ohne Schwierigkeit zu mutmaßen: In der Schüssel der Unterstellungen gleißt so manches Körnchen Wirklichkeit. Das ist eben die Goldwäscherei der Informationsbeschaffung, weißt du.

   Du wirst aber immer sehr vorsichtig sein müssen. Denn man könnte sich bei der Angelegenheit freilich auch die Finger verbrennen. Diese Leute können nämlich unangenehm werden, weiß man. Sie setzen alle Hebel in Bewegung, wenn sie irgendwo einen Nachteil wittern. Aber der Auftrag hatte ja nur auf Nachforschung gelautet. Die Ausfertigung der Angelegenheit würde ein anderes Problem sein. Es wird – mal sehen! – nicht dein Problem sein. Du musst sehen, dass du keinen Sündenbock abgibst.

 

   Du bist schließlich ein ganzes Jahr an diesem Auftrag kleben geblieben. Trotz der vielen Lösungsmodelle, die du entwickelt hattest. Mal dahin, mal dorthin gereist. Noch dazu alles neben der Alltagsarbeit. Also immer wieder ran: Das Spiel dieser Riesenbabys über alle vier Jahreszeiten hinweg im Auge behalten. Die Hoffnung wärmte etwas, auch einmal einen weiteren und lukrativeren Trip auf Geschäftskosten machen zu können. Was hast du nicht alles zu drehen versucht! Doch als die Schose am Ende wirklich interessant gewesen wäre, weil die Bande im Sommer auseinanderstob, in die entferntesten Erdteile jettete, da wollte der Laden nichts locker machen. Noch keine konkreten Notwendigkeiten für den Kostenaufwand ersichtlich, hieß es. Überhaupt und um Gottes willen, wenn jemand vom Aufsichtsrat dahinterkäme, was und bei wem allem da herumrecherchiert werden sollte!"

 

   Du legst das Schreibzeug weg. Jetzt etwas essen. Der Apfel dort ...

   Gut, dieser Hinweis auf den Aufsichtsrat deiner Firma. Damit könntest du den Herrschaften über dir jedoch richtig Druck machen. So 'ganz zufällig' etwas durchsickern lassen. Es könnte, wo sie dich hier jetzt rumhängen lassen mit deiner längst wieder her­gestellten Gesundheit und wo du das hier niederschreibst, noch seine Bedeutung bekommen. Denn kannst du wissen, wie es weitergeht, wenn du in der Redaktion wieder an Bord bist? Wenn überhaupt! Sie aufs Kreuz legen könntest du sie mit ih­rer eigenen Gemeinheit, wenn sie so Angst haben vor ihren Geldgebern.

   An der Bissstelle im Apfel Blut. Zahnfleisch ... Das auch noch. Das passt ja. Da riechst du wie ein Tiger aus dem Maul ... Ein Raubtier, du ... 

   Dieser tierische Gedanke hat richtig stark gemacht, genießt du – und machst weiter:

   "Also hier geblieben im Lande und sich, wie das Sprichwort lautet, redlich genährt!

   Du sollst dich mit der Abrundung deiner Gesamtsicht nicht so haben, hatte dich ja der Alte ermahnt. Ob du denn noch nie etwas vom hohen ästhetischen Wert des Fiktiven gehört hättest. Man müsse nicht gleich alles wissen. Niemand wolle das auch. Die Erfindungsgabe sei eine Brücke über viele Abgründe, vor allem über die tiefen Schluchten zwischen der einen zu den anderen Vermutungen. Dann hatte sich ja der Alte noch aufgeschwungen: Die ganze Zunft der Dichter schöpfe seit je aus diesem doch immerhin lauteren Brunnen der Erkenntnis. (Aus diesem Vortrag war dir jedenfalls offenbar geworden, dass in der Chefetage auch mal der eine oder andere Komiker sein Wesen treibt.)

   Fernost oder Afrika, du lieber Himmel, oder wo deine Objekte auch immer abgetaucht waren und sich rumaalten!

Das hätte dir auch verdammt gutgetan nach dem ganzen Stress. Was fürs schon ein wenig schwam­mige Körperliche und so. Und fürs Gemüt. Was ist einem die Psyche jetzt oft abgeschlafft in der Brust gehangen."

 

   Da hast du dir selber ein Signal gesetzt: Die Gesundheit. Du legst deine Aufzeichnungen weg und fasst den Entschluss, dich zum Quacksalber zu begeben.

 

 

 

Wir sind eigentlich alle Irre – und sehen das aber nur an den Anderen

 

   Diesmal hast du schlauer sein wollen und bist am Mittwoch zum Arzt gegangen. Da lungern die Bumm­ler vom vergangenen Wochenende dort nicht mehr herum, hast du dir gedacht. Vielleicht sind die Vorschussnehmer aufs Wochenende wenigstens so anständig, noch auf den Freitag zu warten.

   Du sitzt jetzt da und gibst dir Mühe, dich in einen Artikel zu vertiefen, in dem der 'Stern' Bonns Kohl wieder einmal so richtig auf der Schippe hat. Es ist allerdings nicht so sehr die Politik, die dich interessiert. Es ist der peppige Ton. Die Kollegen vom Glanzpapier scheinen den Dicken mittlerweile als ein den Deutschen vom Schicksal maßgeschneidertes Stück Geschichte zu nehmen. Weil ihm vor ein paar Jahren auch noch die Vereinigung des Vaterlandes in den Schoß gefallen war, sitzt er noch fester – alles aus, hätten sie da früher ergänzt, lassen das heute aber sein.

   Jedes Mal, wenn sich die Tür vom Behandlungsraum öffnet, zieht das alle Blicke auf sich. Du kannst gar nicht anders, als dem zu folgen – und kannst die Häme, die die Kollegen über den grauen Dickhäuter ausgießen, gar nicht richtig genießen. Natürlich wartet die Republik darauf, dass die kanzlerische Verheißung von blühenden Landen im Osten endlich in Erfüllung geht. Die abgewickelten Ossis und die geschröpften Solidaritätszugeschlagenen. Die Raffgeier und Gauner eher weniger ...

   Wieder geht die Tür auf – aber du bist nicht dran. Der Mief im Raum wird durch das Fächern der Tür verwirbelt.

   Die nicht zur prophezeiten Blüte gelangenden Landschaften werden mit unseren Milliarden gedüngt und womöglich überdüngt ..., liest du.

   Da bist du an der Reihe.

   Der Medizinmann kommt gleich nach der Frage nach deinem Befinden zur Sache, ohne die Antwort abzuwarten. Es ärgert dich, denn du hattest dir einen Valentin zurechtgelegt: Könnte besser sein – muss aber nicht. Er klopft und hört ein wenig an dir herum, tastet dich etwas ab. Du hast das Gefühl, dass auch das zur Floskel verkommen ist wie seine Frage zu Beginn. Er meint dann noch, dass man um eine Verlängerung deiner Krankschreibung nicht ganz herumkommen werde. Aha, denkst du, das ist es doch eigentlich. Wozu dann die Tarnung mit dieser Frage und dem Herummachen? Das hätte dir das Personalbüro auch auf direktem Weg mitteilen können, dass sie dich in der Redaktion nicht oder mindestens noch nicht brauchen können. Kaum hat dieser Handlanger die Botschaft abgesetzt, ist er wieder ganz bei seinem Computer und tippt herum, sagt nur noch einmal vor sich hin: Nein, nein, nicht ganz!, und tippt und starrt auf den Schirm, gibt sich gar keine Mühe, wenigstens so zu tun, als hätte das mit dir zu tun, was da aus seiner Kiste kommt. Du traust ihm zu, dass er jetzt zur Entspannung Computerspiele macht ...

   Sie kommen nicht ganz darum herum?, hast du dich blöde gestellt. Also möchte es vielleicht genügen, mit einer teilweisen Krankschreibung zu operieren, hast du gemeint.

Operieren?!, ist der Weißkittel hochgefahren und hat dich mit halb zugekniffenen Augen bohrend angeblickt.

   Aha, denkst du, er hatte nicht zugehört und ist mit den Gedanken ganz bei seinem neuen Spielzeug gewesen.

   Das habe ich gar nicht gerne!, hat er gemeckert. Ich finde es als Arzt nachgerade unmöglich, wenn Patienten meiner Diagnose vorgreifen!, hat er sich erregt. Sagten Sie etwa operieren? Dann glotzt er dich wieder so an.

   Du freust dich, ihn auf dem falschen Bein erwischt zu haben. Du beendest aber die Klamotte, indem du ihn aufforderst, sich zu vergegenwärtigen, dass doch die meisten Menschen irgendwie krank seien: Allerdings laufen sie gezwungenermaßen oder auch als eingebildete Gesunde herum. Was er ja doch – wer sonst? – sehr gut zu beurteilen im Stande sei. Ob eine teilweise, also zum Beispiel eine halbe Krankschreibung denn nicht machbar sei – um den Begriff des Operierens zu vermeiden, der ja offenbar fest besetzt ist und sich überhaupt in Besitz der ärztlichen Zunft – Pardon! – Wissenschaft zu befinden scheint.

   Während er dich wieder so anzustarren beginnt – jetzt mit einem Schuss Entsetzen im Blick –, willst du noch ein wenig ausholen, um ihm zu zeigen, dass du voll arbeitsfähig bist mit deinem Werkzeug, dem Verstand. So willst du Verständnis äußern und Respekt für das vorsichtige, um nicht zu sagen gespannte Verhältnis eines wirklichen Arztes, nämlich Heilers, zu diesem Begriff Operation. Denn dieses Operieren hätte in der Medizin etwa so einen Stellenwert wie in der Schreiberschaft der Be­griff des Redigierens.

   Da hat dieser Mensch gelacht: Redigieren, was für ein Wort!

   Du wunderst dich über seine Heiterkeit. Du versuchst, ihm zu erklären, was das Redigieren bedeutet: nämlich nicht etwa nur Korrektur. Der Mensch unseres Kulturkreises kenne von Kind an die roten Schlacht­felder, auf die er seine Texte in diesen heillosen Schulen, die er zu besuchen nicht eingeladen, sondern gezwungen war, immer geführt hat, hast du gesagt. Diese blutroten Niederlagen seiner Fantasie. Es mag ja ruhig so sein, hast du eingeräumt, dass Kulturoptimisten im Redigieren eher so etwas wie Schönheitschirurgie erblickten, bei der es sich allerdings gleichfalls irgendwie um Amputation, also um Operation handele ...

   Der Quacksalber schnellt hoch, stakt auf dich zu, – du ein paar Schritte zurück – er erreicht dich und klopft dir auf die Schulter. Seine irr bohrenden Blicke – die werden dir in Erinnerung bleiben, bist du sofort überzeugt! Dazu seine irr abgehackten Worte, ob du denn nicht auch einmal eine Überweisung haben möchtest.

   Überweisung? Wohin denn?, hast du verwirrt gestammelt.

   Na, wohin denn wohl? Zum Neurologen natürlich!, war er wieder ganz alltäglich.

   Du bist erstarrt, stehst da wie angewurzelt.

   Er hat einstweilen einen guten Nervenarzt kennen wollen, der sich auch als Psychotherapeut betätige. Es könne ja nicht schaden, ist er der Meinung gewesen, bei der Art deiner Verletzung, einen Nervenarzt aufzusuchen. Wo doch mit Schädelfrakturen nicht zu spaßen sei ...

   Du ziehst einigermaßen betroffen ab. Halte in Zukunft das Maul!, rätst du dir. In dieser ausgesprochen lächerlichen Zeitgenossenschaft darfst du keinen auf Humor machen wollen. Denn auch darin hast du anscheinend keinen Ton für ein Publikum. Da hängen sie dir gleich eine Macke an. In deinem speziellen Fall solltest du bedenken, hast du dir gesagt, dass das durchaus ein Mittel wäre, dich zum Schweigen zu bringen. Du kommst dann nämlich nicht wieder in deinen Laden, sondern du landest womöglich in der Klapse und vermoderst dort und sie pharmazieren dich in die totale Verrücktheit. Bilde dir ja nicht ein, hast du dich gewarnt, dass du dort so ohne weiteres wieder herauskommst. Das ist ein ausbruchsicherer Knast, der allein durch einen Wisch Papier, nämlich deiner Irrschreibung, absolut sicher verschlossen ist.

   Es dauert eine Zeit, bis du dich etwas von dieser Gedankenqual befreien kannst. Dann schlägst du insgeheim zurück und erklärst dir diesen sonderbaren Schamanen einfach für irr.

   Um dich abzulenken, versuchst du jetzt am besten, weiter in der Erinnerung zu kramen. Es ist ja nie ausgeschlossen, sagst du dir, dass man in seinem eigenen Müll etwas Brauchbares findet.

   "So etwas wie ein Erinnerungsprotokoll:

   Sie haben dich also damals nicht zu deinen Kids in die Karibik – oder wo sie sich auch immer herumgetrieben haben – jetten lassen. Hierbleiben ist angesagt gewesen. Du hast weiter den Plattfuß machen müssen für ein kaum vorhandenes, jedenfalls sich die Augen schonendes, nämlich nicht lesendes Publikum. Allerdings hast du auch wieder Verständnis für die Leute gehabt: Wen jucken schon in der Ferienzeit weit weg die ollen Kamellen von zu Hause? Aufbruch ist angesagt, auch wenn es nur bei dieser Stimmung bleibt. Die Leute haben sich schließlich das ganze Jahr die Bilder vormachen – und sich damit heißmachen lassen. Also weg hier. Pünktlich zu Sommerbeginn haben alle die Nase voll (du setzt dir den Joke nach: und nicht nur von ihren Pollenallergien). Woanders so eine Art Sommerfasching machen.

   Die Bildfläche ist ziemlich geräumt gewesen. Wo keine Akteure, da keine Aktion. Sommerzeit – und nix is easy! Man hat sich gequält, was irgendwie noch Anmachendes zu verbraten. Die Schlauen unter uns hatten Eichhörnchen gemacht und haben jetzt wieder aus der Schublade leben können. Da ist das Tiefgefrorene gelegen: Bizarre Sachen haben da auferstehen können. Es hat manchmal richtig gespukt. Da ist der Meppelmann eines Tages mit Gedichten aufgekreuzt. Man hat gelächelt: Gedichte in der Zeitung, selbst in der unseren, im auslaufenden zwanzigsten Jahrhundert? Nun gut, ab und zu mal so etwas wie Gebrauchslyrik auf dem Niveau: Werbung weckt Wünsche. Früher, ja, da hatten sie immer auch richtige Kunst im Feuilleton gehabt und sich sogar einen Verständigen dafür gehalten. Man hat jetzt nur hie und da eine Buchbesprechung in Auftrag gegeben – und ist ganz zufrieden gewesen, wenn wenigstens ein wenig Verriss dabei herauskam. Alles zu Positive birgt schließlich die Gefahr in sich, als Wasch­zettel-Niveau denunziert zu werden. Literatur ist schließlich mit dem Fortsetzungsroman abgedeckt gewesen. Doch Lyrik? Nein, die würde ja völlig ausbremsen. Meppelmann hat die Schwierigkeiten nicht gesehen. Dann ist der Bumerang gekommen: Bereits am nächsten Tag haben sie einen ganzen Waschkorb voll lyrischer Ergüsse in die Redaktion gebracht. Wir sind dadurch immerhin in den Genuss eines Aha-Erlebnisses gelangt: Die Dichter unter den Zeitgenossen sind ganz offensichtlich zu Hause geblieben! Wir haben gelacht und den Segen über Meppelmann ausgekippt. Einfach drüber.

   Dann hat Hartl diese Betrachtung über liberalistische Tendenzen in Sendungen des bayrischen Schulfunks aufgetischt. (Lebte mit einer Lehrerin; wir wussten also, wer ihm die Büchse gespannt hatte.) Hartl hat über drei Spalten sich in einem Ton ausgelassen, der den erzkatholischen Aktivisten vom Opus Dei mit einiger Sicherheit ein Halleluja entlockt hat. Zum Ausgleich für diesen kirchenfreundlichen Seim hast du dann etwas von einer prügelnden Nonne gebracht (der im Altersheim immer wieder mal die Hand ausgerutscht sein sollte). Und solche dann doch wiederbelebenden Sachen.

   Dann ist der August vorüber gewesen. Der Laden hat sich wieder gefüllt – mit lauter langen Gesichtern.

   Du hast dich davongemacht. Für lumpige vierzehn Tage ...

   Die so schnell vorbei gewesen sind, wie das eben vierzehn Urlaubstage so an sich haben. Dann hast auch du wieder ran sollen.

   Jetzt auch du mit einem langen Gesicht. Man muss, hast du dir gesagt, nach dem Urlaub erst wieder seine Angelegenheiten – und sich selber sortieren. Die Angelegenheiten um deinen Auftrag – auch so ein Sortiment. Dein Dauerauftrag.

   Spätsommer war es.

   Hinschmeißen. Aber wie wäre das möglich gewesen? Wie hättest du dich diesem Auftrag, den jungen Leuten aufzulauern, entziehen können? Gut, beim Alten hättest du einfach einen auf Rückgrat machen und womöglich auch mit der Faust auf den Tisch hauen sollen. Die Folgen? Ziemlich unkalkulierbar! Solche Leute, die sich quer stellten, hat man nicht etwa gleich gefeuert. Nein, das nicht, das hätte man gar nicht am Arbeitsgericht vorbeigekriegt. Als autoritär hat man in unserer viel besprochenen und in seiner Schreibe selber gerne bemühten Demokratie auch nicht dastehen wollen. Kritiker sind, besonders wenn ihnen auch ein wenig Halsstarrigkeit anhaftete, zunächst kaltgestellt und allmählich abgebaut worden. Sie haben ihnen ganz gerne mal eine Ente untergejubelt, sie mit etwas auflaufen lassen. Das ging dann alles so lange, bis die Gemobbten (wie man heute sagen würde) immer mehr geschrumpft sind. Bis sie sozusagen nicht mehr zu sehen waren. So jemand geht dann in der Regel ganz von alleine – und entsorgt sich somit als menschliches Wrack selber.

   Nein, nein, dieses dir nicht – nicht dir! Dann doch lieber in einem faulen Frieden leben, warst du bereit.

    Also wieder auskundschaften, der Vorsatz. Wie du dann auf Tour gewesen bist, hast du eines Tages etwas beobachten können, das dir zu denken gegeben hat. Einer der Goldjungen hat beim Verlassen des 'Vierjahreszeiten' den Portier aufgefordert, ihm Feuer für seine Zigarette zu geben. Dem Mann mochte der Ton missfallen haben, jedenfalls gab er die Forderung dem Liftboy als Befehl weiter. Der Junge war sofort mit einem Zündholz zur Stelle, und der Dandy hat das Feuer mit einem Geldschein an seinen Glimmstängel gebracht. Es ist ein brauner Lappen gewesen. Dann hat er sich einen Sektkübel kommen lassen. Einstweilen haben sich zwei, drei aus der Runde hoch vergnügt in die Show eingeklinkt. Sie haben dann das brennende Geld in den Kübel geworfen und sind gut gelaunt abgezogen – wohlwissend, was passieren würde: Dass nämlich der Portier sofort mit der bloßen Hand in die Flamme greifen würde, um den Brand zu löschen und die Reste der Scheine an sich zu bringen.

   Etwas hat dich an der Szenerie fasziniert. Du hast dann zu Hause den Griff des Portiers nachgespielt. Als du das dritte Mal in den Kübel mit dem brennenden Papier gegriffen hast, um zu löschen, und dir wieder die Hände versengt hast, dass es bereits wie in einer Hufschmiede stank, da ist dir etwas eingefallen. Klar, du hattest doch vor einiger Zeit in einer Illustrierten etwas Ähnliches gelesen, nämlich dass akkurat diese Nummer, sich eine Zigarette mit einem Geldschein anzuzünden, von der Journaille bei irgendeinem Filmstar beobachtet worden war.

   Es hat dir sofort gedämmert: Die Berichterstattung von etwas ist durchaus auch Vorlage für etwas. Die Verkehrung von Aktion und Berichterstattung vielleicht sogar. Oder der einfache Nachahmungseffekt. Jedenfalls wandelt sich der Journalist mitunter zum Autor von Gesellschaftstheater. Das macht doch auch irgendwie stolz?, deine Frage.

   Du hast dir gesagt, da soll dir noch einer kommen mit schierer Berichterstattung. Dem Volk aufs Maul schauen, hat man früher schon gewusst. Und du weißt jetzt, bist du überzeugt gewesen, dass man eigentlich nur bringen soll, was auch irgendwie verwertbar ist von den Leuten, die sich die Mühe machen, das zu lesen, was du bringst. Den Gefallen muss man ihnen schon tun. Du hast dir gedacht, dass du jetzt wüsstest, dass genau das der Ton für das Publikum ist, den du immer so als deinen Gral gesucht hast.

   Jedenfalls bist du in der Lage gewesen, etwas richtig zu interpretieren, was dir kurze Zeit später begegnet ist.

   Es war bei dieser Party damals in Bogenhausen, bei dieser Michi, dieser liebeserfahrenen Frau (mit reichlich Geld, bei allerlei illustren Herren gesammelt). Da hast du einen weiteren Beleg dafür erhalten, dass die Darstellungen eines Exemplars der Regenbogenpresse als direkte Vorlage für die theatergemäße Umsetzung gedient hat. Das hat wiederum eine Vorgeschichte gehabt.

   Dir war nämlich einige Tage zuvor beim Friseur eine Illustrierte in die Hände gekommen, die mehrere Seiten über ein Fest bedeutender Amüsierzeitgenossen gebracht hatte: Da war eingangs von einem Duell der Herren die Rede gewesen, die sich zunächst mit freundlichen Bissigkeiten herauszufordern hatten, und die ihren Zweikampf mit einem Korkenschießen aus Champagner-Flaschen beenden mussten. Der Getroffene, quasi Abgeschossene, hatte bekleidet in den Swimmingpool zu springen. Im zweiten Akt schluckten Damen Perlen; eine Gönnerin hatte ihr Collier geopfert. Die charmanteste Bemerkung der Herren über Wirkung und Verbleib der Kügelchen wurde prämiert – insbesondere jene Formulierungen, die sich am witzigsten ausgenommen und am weitesten an das Problem Verdauungskanal herangereicht hatten. Schließlich hatte das Blatt darüber berichtet, dass Nashorn-Horn-Pulver gereicht wurde. Die Akteure hatten das alte fernöstliche Potenzmittel einzunehmen und einen Stoß von zehn Visitenkarten auszulegen. Wessen Häufchen nach einer Stunde am kleinsten war – eine unparteiische Person von etwa Achtzig war als Notar vereidigt –, der hatte die Tage darauf mit dem zahlreichsten weiblichen Besuch zu rechnen – selbstverständlich äußerst diskret protokolliert – und sollte zu einem späteren Termin ausgezeichnet werden ...

   Siehe da: Du hast, nur wenig später, bei besagter Runde dort wirklich eine Kopie dieser Darstellungen der Illustrierten beobachten können. (Bei nämlicher Michi hattest du dich über die Party-Servicefirma als Kellner fürs Büfett eingeschlichen gehabt und diese geschäftliche Verbindung dann später auch bei deinen Spielkindern genutzt!) Es konnte ja sein, dass es für dein Lustvölkchen noch andere Pfade der Kommunikation gegeben hat. Aber du bist dir jetzt sicher gewesen, dass sie mindestens das eine oder andere aus den Darstellungen der Klatschblätter richtiggehend als Vorlage für sich benutzt und den ganzen Irrsinn nachgestellt, nachgeahmt und abgekupfert haben.

   Du hast schließlich bilanzieren können und deine Entdeckung als einen Ertrag einstufen dürfen, als Erfolg. Du hast dich, wenigstens für eine Weile, gutgefühlt.

   Das hat allerdings nicht lange angehalten.

   Du musst dir doch irgendwie zu schade sein, hast du dir gesagt, derlei Aufführungen wohlstands-verwahrloster Meuten auch noch zu verbreiten. Soll das der Ton für dein Publikum sein?

    Da rührt sich dann doch irgendwo im Innern das journalistische Gewissen, bist du dir sicher gewesen.

   Plötzlich durchfährt es dich wie ein Blitz: Die Sache um die Recherche musst du ganz anders angehen! Vielleicht solltest du doch versuchen, hast du dir vorgehalten, aus diesem Material etwas für dich zu machen. Irgendwie ist es nämlich auch wieder zu schade, um im Archiv zu verstauben. Allein wegen der vielen Arbeit, die du bis jetzt hineingesteckt hast. Dein ganzer Idealismus, der da schon drinnen steckt!

   Auch wenn es nur zu so etwas wie zu einer Seifenoper taugte, müsste man es nutzen. Freilich, man hat seine Anschauung, die sich im Laufe der Zeit schon mal zu Gesinnung und Moral auswächst. Aber man muss auch sehen, wo man bleibt – oder dass man überhaupt erst einmal wird. Ein Drehbuch für eine Seifenoper. Der Traum von einer Serie im Fernsehen!, ist dir durch den Kopf gegangen. Gleich Serie? Wenn schon Mist, dann gleich mehrere Fuhren davon, damit es auch richtig wirkt. 'Wo Mistus / da Christus!', hatten die alten Deutschen schon auch mal gedichtet. Du hast eine Weile weiter gekalauert. Da ist Segen, wo Mist ist, und da wird Geld, wo fäkalisch gekarrt wird. Mit deinem Stoff würdest du allerdings dann diese Häschen und Rammler den breiten Zuschauermassen zur Wonne ihre Show abziehen lassen. Diese Monstren aus einer klatschpresseernannten Highsociety und diese VIP-Idioten, diese aufgeplusterten Very-important-People ... Man müsste natürlich aufzeigen, wie diese auf alles scharfen Wichtigtuer ins volle Leben grapschen, wie sie sich verlustieren und sich auch in der größten Dummheit noch überaus ernst nehmen. Und solche Sachen. Nämlich die Unmoral aufzeigen, um vielleicht sogar zur Moral zu führen. Deine Arbeit als moralische Anstalt: Hoch im Idealismus angesiedelt, bei Schiller & Co. Du lieber Himmel – so weit zurück!

   Man kommt gelegentlich ins Schwärmen, wenn man zu den eigenen, häufig durch das Alltägliche verdeckten Hintergründen vorstößt und sich einem die eigenen Motive auftun: Mein Gott, die Welt verändern. Oder wenigstens mitgestalten mit seiner Arbeit, indem man die Welt aufzeigt. Genau damit ist man doch angetreten. Wie lang ist das her? Alle aus ihrer Dummheit und Dumpfheit reißen, das ist deine und deinesgleichen verdammte Aufgabe und Pflicht und so weiter in dieser unserer Gesellschaft des in seinen letzten Jahrzehnten liegenden zwanzigsten Jahrhunderts: die Information als ein geistiges Grundnahrungsmittel.

   Aber dann hast du auch wieder die Gefahren gesehen. Alles, was du da in letzter Zeit bei diesen Leuten beobachten konntest, in Szenen verpackt und illustriert zu wissen? Was ja der artige Zeitgenosse eigentlich nur im Kopf haben darf und unter der Käseglocke seiner Bravheit halten muss. Dieser Mitmensch, der sich zwar als pantoffelschlurfender Spanner via TV mit seiner Freimachshow Tutti-Frutti, seinem Jodeln aus der Lederhose und dem ganzen Fleischmarkt auch irgendwie befriedigt. Jedoch sollte er, der Spießer (dein Freund und Kunde – da du glaubst, jetzt den Ton für ihn gefunden zu haben), dieses nicht eigentlich mit deiner Unterstützung tun können? Dazu bist du dir dann doch zu schade und endlich auch wieder zu sehr auf der Linie des Hauses, dem du angehörst. (Auch wenn man darüber in der Kollegenrunde gelacht hat und wenn es stark nach Bullshit gerochen hat: Irgendwo hat ja der Alte immer auch ein wenig Recht gehabt mit seiner Leier da von der Ästhetik und den ganzen Zusammenhängen.)

   Du hast dann diese Höhenflüge sein lassen und dich doch wieder mit deinem Auftrag begnügen und nüchtern, sachlich und zurückhaltend sein wollen. Zumal das Ziel so ziemlich erreicht gewesen ist: Die Archivreife des Stoffes hat dir im Grunde ja vorgelegen.

   Obwohl also gar kein Anlass mehr bestanden hat, weitere Recherchen anzustellen, hast du dich noch einmal am Tatort, wenn man so sagen kann, herumgetrieben. Vielleicht nur aus purer Gewohnheit oder auch zum Abgewöhnen oder – aber das würdest du natürlich niemandem gestehen – weil von dieser Gesellschaft doch ein gewisser Reiz ausgeht.

Aber sieh an, was ist dir da begegnet?"

 

   Du schreibst ja wie in einer Prüfung, so auf Zeit. Wo du doch genug davon hast. Dein Schreiben. Wandern im Dschungel deiner Erinnerung. Mit den paar lichten Stellen. Wo es doch ganz ungewiss ist, ob man im Dschungel wandern kann. Bei den Gefahren dort, wo es in Wirklichkeit ums Fressen und Gefressenwerden geht. Wenn du denkst, dass die Erinnerungen an deiner Existenz nagen, dich auffressen. Eine verquere Vorstellung, das ...

   Vielleicht suchst du sogar dieses Ich noch, das dich gelegentlich anspricht. Und weißt es gar nicht richtig? Doch was weiß man denn richtig? Wenn du so überlegst, dann irrlichtert es dir. Die Sache da mit den Spielchen der reichen Leute, die du beobachtet haben willst. Oder die du nachgeahmt gesehen haben willst. Du bist dir im Augenblick ja gar nicht mehr so ganz sicher. Das Problem mit der in Wirklichkeit kaum fassbaren, stets schier glitschig entgleitenden Wirklichkeit überkommt dich immer wieder. Ob etwas bereits seinen Platz dort in der Wahrheit behaupten kann, der ganze Wust, wenn es auch bloß wahrscheinlich ist. Unserem kleinen Verstand setzt der Zank mit den Dingen zu. Der kleine Mann hat eben nicht den Eierkopf für die Philosophie. Du an deiner Stelle solltest ja auch den Weg zum Publikum pflegen. Den Ton für die Leute. Die Letter für das Lesepublikum.

Du glotzt müde ins Leere. Justament da kreuzt dir in der Erinnerung Karl auf. Das hältst du fest:

 

  "Es ist an einem lauen Abend im Frühsommer gewesen, so ein Föhnabend, an dem man nicht zur Ruhe kommt. Wochenende dazu. Dieser Segelklub am Starnberger See dann. Du hast dir (heute rückblickend, vermutlich aus journalistischem Instinkt heraus) Einlass verschafft. Auf die linke Tour, versteht sich, denn anders hat unsereiner keine Chance, dort zu landen. Das hat deiner Firma einen Spesen-Blauen wert sein müssen. Bei einem Cognac, nebst einer Flasche Weißwein, hast du dann wieder deinem exzentrischen Grüppchen zugesehen (mit Cognac die Zunge zu befeuchten, bevor du den Weißwein getrunken hast, hat dir immer einen ganz intensiven Geschmack gebracht). Zwei Girls hatten sich neue Modelle zugelegt. Wie man dir (wieder nach sattem Bakschisch) anvertraut hat, waren die Neuerwerbungen zwei Gespielen von außerhalb der Clique. Gleich zwei auf einmal, hast du dir gesagt, das ist, wenn auch nicht relevant für deine ohnedies beendete Ermittlung, so doch möglicherweise ziemlich amüsant. Die würden eventuell wieder so eine Show abziehen, um sich gegenseitig ein bisschen hochzupowern. Du hast dann auch bald gesehen, dass die beiden Newcomer gutaussehende, sportliche Typen und sogar ihren ersten verbalen Absonderungen nach mit etwas Intelligenz ausgestattet waren.

Im Grunde sind es allerdings auch wieder Dressman-Typen gewesen. Diesmal vielleicht aus der Universität gefischt, nachdem man vermutlich den studentischen Job-Vermittlungsdienst bemüht hatte. Du hast noch mitgekriegt, dass der eine auf Medizin gemacht hat und mit dem Studium fast fertig gewesen ist. 

   Du hast dir noch eine Zigarette angezündet (keine von den Selbstgedrehten, denn da hätte man geschnuppert, die Nase gerümpft und dich gefeuert) und den Wölkchen nachgeglotzt. Da ist der Jungmediziner zu hören gewesen. Du hast mitgekriegt, dass Vater auch schon ... und er würde natürlich die Praxis kriegen. Er wolle aber die Leute, die sich bei ihm etwa nur auf Krankenschein behandeln lassen wollten, flugs zu den Kollegen schicken. Denn die wollten ja auch von etwas leben. Er hat das so scharmant, jedenfalls ohne auch nur einen Funken von Zynismus und Habgier darin aufscheinen zu lassen dargestellt, dass es ihm niemand hätte übelnehmen können. 

   Vielleicht ein netter Junge, dieser angehende Modearzt. Allerdings hast du gehofft, auch ein richtiges Original in diesem Kreis hier zu erleben ...

   Du bist dann bereits in Aufbruchstimmung gewesen und hast die Rechnung verlangt.

   Du hast gerade deine Zigaretten weggesteckt. Plötzlich vernahmst du ein vielstimmiges, zu deinem Erstaunen beinahe gleichzeitig einsetzendes Hallo vom anderen Ende des Lokals her. Du hast aufgehorcht und abgewartet, was da sein konnte. Das aufgekratzte Hallo ging allmählich in das gewohnte lässige Hey über, vereinzelt ist das heimatliche Grüß-dich zu hören gewesen. Es schien jemand von Bedeutung aufgekreuzt zu sein. Dem geräuschlichen Aufwand der ganzen Meute nach zu schließen, war ein Star aufgetreten, ein Hauptakteur. Eine Stütze jedenfalls dieser nach Ereignissen hungrigen, eben noch etwas abgeschlafften Schar. Der Retter des Abends musste also erschienen sein, ein Muntermacher, ein Aufreißer vielleicht sogar. Auch du bist wieder voll auf Empfang gewesen und hast die Ohren gespitzt. Klar, ein männliches Wesen, hast du herausgefunden. Dieser Kerl ist jedoch immer noch nicht in deinem Gesichtsfeld aufgetaucht, auch konntest du kaum hören, was er denn an Mitteilung so von sich gegeben hat.       

Donnerwetter, vielleicht haben sie da mal einen etwas leiseren, verhalteneren Spielgefährten. Du hast dich gewundert. Ein ruhigerer Mensch hier, Donnerwetter. Möglicherweise auch kein Schwätzer. Respekt! Woher mag dann seine Anziehungskraft rühren?

   Allmählich hat sich die Schar doch wieder beruhigen können. Was dieser Mensch von sich gab, ist ganz offensichtlich von großer Wirkung gewesen: Bei seinem knappen Vortrag hat immer angespannte Aufmerksamkeit geherrscht. (Vielleicht ist sein Trick dabei gerade der verhaltene Ton gewesen?) Wie auf Kommando füllte sich dann der Raum immer mit vielstimmigem Geräusch, aus dem Zurufe erklangen und Lachsalven hervorgeschmettert wurden. Dann für kurze Zeit auch wieder schäkerige Konversation. Wieder sein Vortrag ... Dieses Wechselspiel ist eine Weile so gegangen. Für dich ist es auch ganz lustig gewesen, dieses quasi nur Geräuschhörspiel mitzuerleben. Ein wenig durch den Wein und seinen gebrannten Verwandten betütert, hast du dich für eine Weile in diesen Schallcocktail fallen lassen. Du warst allerdings gespannt, was da für eine tolle Figur herumweste und welch ein Guru angenehmen Zeitvertreibs irgend­wann mal endlich durch deinen Nebel schreiten würde.

   Du hast dich jedenfalls wieder aufs Bleiben eingerichtet und noch einmal Cognac bestellt.

   Deine Aufmerksamkeit ist bei der Szene gewesen. Wenn dir dieser Supertyp dort hinter der Ecke nicht durch sein Zutun ins Blickfeld kommt, hast du dir vorgenommen, dann bleibt dir nichts anderes übrig, als deinen Platz zu wechseln.

   Der Ober hat dir dann den Cognac so unsanft, wie es Glas und Inhalt gerade noch erlaubte, hingestellt und sich bei dir als sehr verehrten Herrn spitz erkundigt, ob er denn gleich kassieren dürfe. Es hat wie 'Geld-her!', geklungen. Du hast ihm einen Zehner mit der flachen Hand auf den Tisch geklatscht, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

   Im gleichen Moment veränderte sich die Szene am anderen Ende des Raumes. Dieser Star ist jetzt in dein Blickfeld geraten: Aha, sportlich straffes Fleisch hat da in einem modisch saloppen Anzug gesteckt (und du mit deinen Jahresringen um den Bauch und deiner Kluft wie aus der Kleidersammlung); das sportlich gebräunte Gesicht von vollem, mittellangem Haar umflossen – umhangen – oder wie man das nennen soll ... Wenn er nicht zu dieser versauten Brut da gehören würde, dann müsste dich der aussichtslose Vergleich mit ihm in eine tiefe Traurigkeit über das eigene Out­fit stürzen – aber so ... Da riss es dich jäh aus dieser Betrachtung. Das hat doch nicht wahr sein dürfen! Den Adonis dort hast du doch gekannt: freilich, Karl! Da ist tatsächlich Karl gestanden! Klar, Karl Mentenheim war da.

   Im Augenblick hat etwas Ruhe geherrscht. Eine Wohltat. Die Schar hat sich nach der Aufregung etwas entspannen müssen.

Karl aber ist lässig, die Linke in der Hosentasche, von Tisch zu Tisch geschlendert, ist stehen geblieben, hat sich hinabgebeugt: Ein hingehauchtes Wangenküsschen dem Girl (den beiden älteren Semestern, die heute dazwischengeraten waren, hat er einen Handkuss serviert); ein kaum merkliches Kopfnicken, aus dem heraus er den Rest mit einem Augenzwinkern wohl der alten Freundschaft versichert hat. Das ging eine Weile so, und du hast wie gebannt zugesehen. Inzwischen ist man wieder von den Stühlen gewesen und erneut durcheinandergewirbelt. Du hast den Tisch gewechselt, um Karl nicht aus den Augen zu verlieren. Von deinem neuen Beobachtungsposten aus hast du auch akustisch wesentlich mehr mitbekommen. Einige haben Karl kurze Infos zugeworfen, allem Anschein nach Mitteilungen aus der Zeit seiner Abwesenheit. Er hat nur jeweils ein paar Worte Kommentar dazu abgegeben, wie du ihn ja gekannt hast: Betont trocken gehalten, hie und da etwas mit Witz garniert, stets bemüht, nichts auszulassen, aber auch in nichts tiefer einzusteigen. Freilich hatte er dich bemerkt und dir das sogar mit einem kaum merk­lichen Kopfnicken auch zu verstehen gegeben. Doch es stand aus den gegebenen Umständen überhaupt nichts dafür, dass wir uns etwa offen begrüßt hätten. Wenn du jetzt nur daran denkst, dass du absolut underdressed warst. Als er sich dann in die andere Richtung durch die Tischreihen scharmiert und sich allmählich von dir entfernt hat, haben sich seine Worte für dich auch verloren. Du hast Karl allmählich wie einen Pantomimen betrachten und sein Gebärdenspiel mit deiner eigenen Vorstellung unterlegen können. Das ist allerdings einigermaßen anstrengend gewesen. In deinem schon leicht benebelten Hirn haben plötzlich Gestalten ihr Wesen getrieben. Die Fantasie ist dir immer wieder durchgegangen. Sie hüpfte dir von der Figur eines Kavaliers der höfischen Zeit zu dessen geleckten Nachfahren in der Operette bis zum pickeligen Tanzstundenklischee. Du hast dich nicht festlegen können, welche Rolle nun Karl in seiner augenblicklichen Aktion am nächsten gekommen wäre."

 

   Du musst jetzt den Stift weglegen. Doch diese Szene lässt dich nicht los: Es ist dir heute, wo du das niederschreibst, irgendwie verständlich, warum dir Karl damals in deinen Vorstellungen so missraten war. Es war wohl ein wenig Eifersucht, weil er sich von dir wegbewegt hatte. Was dann vielleicht auch eine Ahnung von seinem wahren Charakter aufkommen ließ. Vielleicht warst du dir bei der Rollenzuteilung auch deswegen nicht ganz im Klaren, weil da in deinem fantastischen Sortiment noch etwas gefehlt hatte. Du hättest dir auch den Hecht im Karpfenteich für Karl ausdenken können, vielleicht treffender den im Goldfischteich.

   Heute weißt du jedenfalls mehr. Du erlaubst dir die kleine Weisheit, dass dazu das Heute ja auch da ist, dass man mehr weiß. Solcher Art simpler Erkenntnis baut dich jetzt auch wieder auf, so dass du weiter notieren kannst.

  "Da, wieder ein Blick von Karl zu dir herüber! Er hat sich fast am anderen Ende des Raums befunden. Du hast jetzt schon zuwinken wollen. Etwas Erstaunen war jedenfalls in seinen Zügen und so ein Anflug wie: Du immer noch hier? Vielleicht wunderte er sich, dass du dich nicht mit dem ersten Blickkontakt begnügt hast und sofort danach verduftet bist. Vielleicht hegte er Bedenken, dass du ihn nun sogar mit einer Begrüßung, einem Auftritt in seiner Runde behelligen würdest?

   Karl hat sich gleich zu einem Bussi abwenden müssen, weil eine von den Süßen an seinem Jackett gezupft hatte.

   Was hätte er mit dir auch anfangen sollen?, hast du ihn entschuldigt.

   Am Ende ist die Welle der Begeisterung an der Bar gebrandet. Du bist noch eine Zeit lang dagesessen hinter deinem soundsovielten Glas mit der auch nicht mehr gezählten Zigarette. Du hast Karl zugutegehalten, wie er seine mit Sicherheit knapp bemessene Freizeit angemessen auszufüllen bemüht sein musste ... Wie er im schicken, versteht sich, Sportwagen zwischen München, dem Starnberger See und Garmisch zu pendeln gezwungen sein konnte, um außer Business vielleicht ein bisschen was vom Leben sonst noch mitzubekommen, wenn nicht genügend Zeit war, irgendwohin ergiebiger ins Vergnügen zu jetten. Denn für dich hat er zu dieser Sorte Geldarbeitstieren gehört, wie man sie heute gerne bestaunt. Du hast ihn dir eben in der ganzen Zeitmaläse eines Jungmanagers befindlich vorgestellt. Wie du dir für ihn auch ohne weiteres, trotz seiner satten Dreißig, jede Menge flotter Bräute hast denken können. Und so weiter. Aber diese Gesellschaft hier hat dich an Karl doch etwas irritiert. Wie ein Kerl wie Karl so unter seinem geistigen Niveau verkehren könne.

   So hast du dich denn, am Ende doch die Schnauze von diesem Circus hier voll, davongemacht.

   Am nächsten Tag ist allerdings das Projekt Promi-Kids zu deinem eigenen Erstaunen wieder voll da gewesen. Beim Frühstücken bereits. Du hast deinen Raucherhusten über den Tisch gebellt – und dich über dich selber gewundert. Diese Truppe ist nämlich durch das Auftauchen von Karl für dich wieder – oder überhaupt erst so richtig – von Interesse gewesen. Nicht etwa, dass dir das Ansehen dieser Leute gleich aufpoliert gewesen wäre. Du hattest da bereits zu viel gesehen. Und deine Meinung schien einigermaßen gefestigt. (In deinem Urteil hast du dich ja immer nach außen zurückgehalten. Du brauchtest dich nämlich nur zu erinnern, wie der Kollege Möller über solche Leute hergezogen war: Du hattest ihm doch etliche von den aufwändigen Spielchen dieses Lustzirkels geschildert. Konservativer Typ, der Möller, praktizierender Katholik, wie er sich selber bezeichnete. Möller hatte sich enorm aufgeregt und zu hetzen angefangen und sich zu dem jedenfalls für seine Verhältnisse verblüffenden Schluss gesteigert: Man müsse sogar Verständnis dafür aufbringen, dass Menschen sich Marx und Engels an den Hals würfen, und zwar aus schierem Ekel vor solch kapitalistischer Wohlstandsverwahrlosung. Der Möller hatte dich allerdings gleich am nächsten Tag inständig gebeten, diesen seinen gewagten Ausspruch, wenn du ihn schon unfairer Wei­se weiterverwenden würdest, um Himmels willen nicht mit seiner, Möllers, Urheberschaft zu belegen.)

   Dein Dauerbrenner jedenfalls ist dir wieder aufgeflammt. Jetzt allerdings vorzugsweise mit Blick auf Karl. Du hast den Entschluss gefasst, seinen Part in dieser Clique auszumachen, in der er für dich vollkommen überraschend aufgetaucht war. Du hast überhaupt wissen wollen, wie der Bursche da reingekommen war. Aber du hast dir aus Gründen der Fairness und der Objektivität vorgenommen, jeglichen persönlichen Kontakt zu Karl zu vermeiden. Wenn du dich schon zu Karl vorarbeitest, hast du dir vorgenommen, dann doch mit Stil.

   So hat es also wieder mit der Ochsentour begonnen, mit eingrenzenden Erkundungen, wie du es immer ge­nannt hast. Immer noch besser herumzuschnüffeln, hast du dich getröstet, als im Archiv zu wühlen. Es wäre natürlich einfacher gewesen, bei den Erkundigungen direkt als Presse aufzutreten. (Man zapft damit die Leute ziemlich problemlos an. Die meisten sind nämlich erpicht drauf, alles was sie von sich geben, weiter ausgestreut zu sehen.) Du hast es dir jedoch nicht so einfach machen wollen, Karls wegen. Als alter Schulfreund hat er dir den Aufwand wert sein müssen. Du hast also diskret (mittlerweile hast du dich mit diesem Begriff versöhnt gehabt) zu arbeiten begonnen."

 

   Du machst jetzt wieder Pause. Aber während du dann was futterst, überlegst du, wie deine Notizen weitergehen sollen: Du hast zwar bald um das persönliche Verhältnis von Karl zum Inhaber von dem Autohaus gewusst, aus dem er seinen Wagen hatte. Hast ja tatsächlich lange überlegt, ob dort zuerst anzusetzen wäre. Weil ein Auto ja Charakter markiert und Bewusstsein von dem Typ bringt, der sich mit dem Ding umgibt. Habe Kaufinteresse an einem Gebrauchten vorgegeben. Standen einige rum von Karl, weil er die Dampfer jedes Jahr wechselte – wechseln ließ. Da müsste doch Freude aufkommen beim Händler, hast du dir gedacht. Weil es für die sündteuren Kisten bestimmt nur eine sehr dünne Käuferschicht gibt. Klar, Mensch: Sechs Liter Hub versteuern und einige hundert Pferdestärken versichern – und für den Aberwitz hundert Mille und mehr hinblättern.

   Jetzt hier: ‘nen Teller warme Suppe! Die Schnitte Brot hat nicht vergeben.

   Wie du auch aussiehst! In der Scheibe. In einen Spiegel willst du gar nicht sehen. Um Gottes willen, wie ein Penner!

   An die Klosterpforte gehen und um eine warme Suppe betteln. Wo es überhaupt noch Klöster gibt? Dann dort sitzen und die Plörre schlürfen. Die Klö­s­ter leeren sich. Immer mehr geben auf, wegen des Mangels an Nachwuchs. So ist unsere Gesellschaft. Na ja, schau dich an – wie lang ist es her, dass du dich wenigstens mal in eine Kirche verlaufen hast?

   Was hatten wir das damals ... ach ja, in unserm klösterlichen Kasten ... Was hatte man diese abgerissenen Kerle, die da an der Pforte um eine warme Suppe gebettelt hatten, immer mit Neugier betrachtet. Was für Menschen – ob es überhaupt Menschen sind, blödelte man. Wenn es Menschen sind, dann eben welche aus einer anderen Welt, hatte man sich gedacht. Als Karl dann da war, da hatte man das schon eingeordnet gehabt in seine Anschauung von Welt. Man hatte diese wandelnden Vogelscheuchen in seinem Jungspießertum abgrundtief verachtet.

   Wie du jetzt so die warme Blechbüchse in der Hand hast, da überkommt es dich tatsächlich. Wäre das was? In eine – in diese andere Welt abdriften. Ein paar Tage, Wochen vielleicht nur. Aber immerhin eine Möglichkeit, die du dir offenhalten willst ...

Oder in ein Kloster. Da bieten sie jetzt so was wie Mönch auf Zeit an. Mensch, eine Option! – Wenn sich auch nur ein Funke nötiger Gesinnung dazu einfindet wollte ...

   Nun etwas von dem Futter aus der Büchse reingeschaufelt. Dabei wieder Karls Auto im Kopf. Da hätte sich beim Händler ein Gespräch über Karl einfädeln lassen sollen. Als du dich dann in Schale geworfen und dich so im Spiegel betrachtet hattest, da sind dir Zweifel gekommen: Einem, der so aussieht ... – das war doch der vor zehn Jahren gekaufte Anzug gewesen, der da an dir hing. Nein, so einem glaubt man die hundert Mille für den bulligen Schnickschnack auf vier Rädern nicht.

   Aber dich haben ja die Klamotten gereizt, du Penner! – Die Jacke hast du jetzt noch immer mal an. Deine Begabung musst du schon mal ausmachen für den Trebegang ...

   Du hast den Plan mit dem Autolink verworfen. Obwohl du dir noch so einen Gag ausgedacht hattest: Kaufinteresse an mehreren von diesen kleinen Omnibussen bekunden. Und zwar zwecks Ostexporten, wo sie angeblich nach dem West-Abfall lech­zen. Aber du hast dir gesagt, dass das nicht zie­hen würde. Ostexporte dieser Marke werden heutzutage, hast du dir gekalauert, in der Regel nicht ge­kauft, sondern sozusagen bargeldlos beschafft. Das hast du allerdings selber gar nicht belachen können, so abgegriffen, wie es war. So ein Polenwitz, wie sie heute immer noch auf Welle sind. Du lenkst dich besser ab:

   "Dir ist schließlich der Zufall zu Hilfe gekommen: Ein Studienkollege von Karl hat sich ausfindig machen lassen. Man hat sich am Hauptbahnhof getroffen. Zuerst habt ihr eine Currywurst verdrückt, denn die­ser Mensch hat blass und hungrig ausgesehen. Dabei – wie es der volle Mund eben zugelassen hat – habt ihr über die vielen Türken dort gesprochen und die Ausländer überhaupt und wo das noch hinführen soll – und solche Sachen, die kein Ende (allerdings auch nicht viel Sinn) haben. Beim zweiten Bier seid ihr dann zur Sache gekommen: Karl hatte seinen Dipl. Ing. in Maschinenbau gemacht und einen Doktor draufgesetzt, ist wegen guten Examens zeitig in der Chefetage gelandet – allerdings seien (sicher schwer zu ermittelnde) gute Beziehungen nicht unbedingt auszuschließen ...

   Bon, das hat sich bereits gut angehört. Beinahe ein Glücksfall, gerade auch wegen dieser schwer zu ermittelnden Beziehungen. Derer du dich natürlich mit Elan annehmen wolltest (so verrückt oder idealistisch bist du ja immer gewesen). Obendrein versteckt sich der dicke Hund, der die fette Schlagzeile ausscheidet, oft hinter so etwas mit einem Touch, der Ahnungen in alle Richtungen zulässt. Dazu hatte dir dieser Mensch den Weg zu anderen Informanten weisen können. Der gute Mann war immer redseliger geworden, doch er hatte etwas schwer zu verkraftendes Scharfes im Unterton gehabt. Aber du konntest Verständnis für seinen Frust aufbringen. Hattest du ihm doch abgenommen, dass er über mindestens ebenso gute Abschlüsse wie Karl verfügte, jedoch immer irgendwo hängengeblieben war, und zwar genau dann, wenn dieser Bastard von Mentenheim (wie er sich ausdrückte) sich in der Nähe seiner Lauf­bahn herumgetrieben und ihm was vor der Nase weg­geschnappt hatte: zuerst den Doktorvater, hernach die Stelle als Oberingenieur. Er schloss damit, dass er diesen Mentenheim einen ganz verfluchten Überholer mit ausgebuffter Ellenbogentechnik nannte. Für dich war das allerdings lediglich der nun mal immer vorhandene Gestank über dem Mitteilungskäse gewesen und hatte das Bild von Karl kaum beeinflussen, zumindest zunächst nicht negativ verändern können. (Je besser der Käse, hattest du dir bei deinen Recherchen immer schon gesagt, desto strenger auch sein Geruch.)

   Diese Infos von dem verhärmten Kerl haben dich immerhin nur seine Zeche gekostet.

   Du bist dann in der Angelegenheit wieder einige Zeit umhergezogen und hast Eindrücke eingeholt – beinahe Rosinen im Einheitsbrei von Verkehrsunfällen, Offiziellenhickhacks, Eröffnungen und und ... Nach ein paar Monaten hast du allerdings ein retuschiertes Bild von Karl gehabt: Er ist als der angenehme Zeitgenosse angesehen gewesen, als den du ihn von der Schule her bereits kanntest. Wenn Karl irgendwo aufgetreten ist, hat man ihn auch sofort zur Kenntnis genommen. Die aus den erworbenen Titeln und seiner Stellung möglichen Verzierungen um Namen und Person haben etwas dargestellt, das nur sein Sekretariat in dienstlichen Angelegenheiten zu verwenden befugt gewesen ist. Karl hat sich, was in seinen Kreisen schier nicht zu vermeiden war, im Tennis- und Segelsport betätigt, auch Golf gehörte dazu. Er hat es jedoch mit einer der Verpflichtung gerade noch gerecht werdenden, hinwiederum charmanten Nachlässigkeit betrieben. Karl hat Interesse an moderner Malerei gezeigt – und gleichfalls einen Hang zu kurzen, heftigen Vergnügungen und harten Getränken. Alles musste immer erlesen und von bester Qualität sein.

   Hübsche Wolke, auf der Karl da wieder geschwebt ist (oder die ihn da umgeben hat, so wie: Adonis in Schlagrahm, leistest du dir heute noch). Du musst dir eingestehen, dass dich das doch enorm beeindruckt hat. Das hat sicherlich auch dazu beigetragen, dich allmählich um eine andere Betrachtungsweise der dir zur Beobachtung anvertrauten Gruppe zu bemühen. Durchaus Karls wegen! Am Ende bist du tatsächlich in die Lage gewesen, eine völlig neue Sicht der Dinge zu gewinnen! Es hat dir nämlich eingeleuchtet, dass es ja durchaus hat sein können, dass diese Gruppe gar nicht die Zusammenrottung vermögender Müßiggänger gewesen ist, als die sie dir immer erschienen war. Dass es sich vielleicht gar nicht um die Rotte Schweine gehandelt hat, für die du die jungen Leute gehalten hattest, die sich immer in goldenen Koben inszenieren musste. Du hast immerhin der Ansicht nähertreten können, dass sich diese jungen Leute möglicherweise unter so etwas wie einem Joch gehobener bürgerlicher Anstrengungen bewegt und gemüht haben. Diese Jugend ist womöglich auch hin und wieder zwischen Erfolg und Misserfolg ihrer Unternehmungen gependelt – und ist unter Umständen den gleichen Umständen unterworfen gewesen wie gewöhnlicher Leute Kinder. Nämlich ohne dass da ständig schützende Hände oben drüber und unten drunter gehalten worden sind. Es ist dir dann als durchaus möglich erschienen, dass du dich vordem auch in der Annahme getäuscht hattest, dass es sich bei dieser Vereinigung um eine Häufung von mit Geld zugedeckter Dummheit handelte und um eine Ballung von Schwachsinn, der aus vielen Quellen sprudelte – aber auch aus vielen Quellen subventioniert wurde.

   Karl ist dir damals als so etwas wie ein Bürge dafür gutgestanden, dass diese veränderte Anschauung ihre Bestätigung in der Wirklichkeit besaß.

   Du hast dich auf Grund dieser Einstellung dann doch immer wieder dazu durchringen können, das positive Beispiel zu suchen. Das ist deiner Arbeit auch in anderen Dingen sehr zustattengekommen, da ja der Leser doch eher diesen versöhnenden, bisweilen erhebenden Zwischenton bevorzugt in seiner sich so häufig garstig gebenden Welt."

 

   Den Stift weggelegt.

   Wo du das jetzt überliest. So ein Wandel zum Positiv-Denken hin, dem Hort des Seelenfriedens. Man glaubt es kaum, wozu man doch fähig ist. Daher weiter:

  "Karls Haushälterin oder Haussekretärin ist anzuzapfen – und so freundlich gewesen, ohne Umschweife einen Blick in seinen Terminkalender zu werfen. (Du hast dich am Telefon für seinen Anwalt Dr. Mühlport­ner ausgegeben und zur Absicherung dieser Behauptung eigentlich noch etwas von einem Immobilienvertrag andeuten wollen, der deiner Erkundung nach von Karl bei der Kanzlei tatsächlich in Gang war. Aber die gute Seele ist bereits bei 'Anwalt' fühl­bar innerlich strammgestanden, so dass du nicht noch weiter lügen hast müssen.)

   Es hat sich richten lassen, Karl in Dachau aufzulauern. Wie rein zufällig hat es aussehen sollen. Du bist dann auf ihn zugegangen, nachdem er seinen dicken Schlitten eingeparkt und gerade den Schlag geöffnet hatte.

   Hallo, wie geht's!

   Sieh an, Tom, altes Haus!

   Er ist ausgestiegen.

   Zeit hat er haben müssen, laut ausgespähten Ter­minkalenders. Nur hast du natürlich nicht wissen kön­nen, ob er sich diese für dich auch nehmen würde.

   Wie geht's, Tom?

   Man lebt!

   Ein bisschen wenig, finde ich! Aber der gute Tom ist bescheiden wie stets!

   Es hat geklappt: Ihr seid ein wenig durch die Stadt spaziert. Dann ist da ein Wochenmarkt gewesen und ihr seid zwischen den Buden umhergeschlendert, in denen Obst und Gemüse feilgeboten wurde. Beim Türken seid ihr etwas länger geblieben, und ihr habt die vielen Köstlichkeiten bestaunt: Oliven, Käse und Paprika in Gewürzöl eingelegt, Gehänge von Knob­lauchknollen und Zwiebeln ... – ein Hauch Orient.

   Im Getriebe, das vor dem Stand geherrscht hat, seid ihr hin- und hergeschubst worden. Du hast im Geschiebe versucht, ein paar Berufsschnurren abzusetzen. Vom Umgang mit der Eitelkeit der Leute und der Betulichkeit der Politiker. Karl hat lächelnd zugehört, soweit es eben in dem Gedränge möglich gewesen ist. Hausfrauen mit prallen Taschen und Beuteln. Sie haben euch vorwurfsvoll angeschaut, weil sie Mühe hatten, an euch vorbeizukommen.

   Wohl noch den Orient in der Nase, wollte Karl wissen, ob du schon einmal in der Türkei warst. Du hast verneinen müssen – und schon sagen wollen, dass es ja sehr preiswert sei, hast dir das jedoch verkniffen. Während du noch nachgedacht hast, hat Karl berichtet, dass er letztes Jahr im 'wilden' Kurdistan war.

   Aha, Karl May!, hast du gesagt ... 'Durchs wilde Kur­distan', diesen Schinken hatten wir alle gelesen, damals! Karl lächelte nur und war gleich wieder bei seinen hohen Bergen und tiefen Tälern – und bei großen Herausforderungen. Sein Bericht vor der Türkenbude hat ihn in ferne Städte geführt, zu fremden, doch zumeist freundlichen Menschen und überaus bunten orientalischen Märkten ...

   Ihr seid immer noch vor der türkischen Bude gestanden, seine Schilderung hat dir ja beinahe einen fantastischen Basar aufgetan. Karls Darstellungen haben sich allmählich von der kurdischen Bergwelt entfernt und sich in eine allgemein alpinistische Betrachtung begeben. Deine Gedanken sind häufiger abgeschweift. Es hat dir doch allmählich eingeleuchtet, dass Karl mit seiner Frage vorhin, ob du in der Türkei warst, wohl etwas anderes im Sinn gehabt hatte. Richtig, er schien mit seinem Vortrag zu Ende gekommen und hat schließlich von dir wissen wollen, was du denn davon hieltest, in die Berge zu gehen, um zu wandern oder anspruchsvoller, nämlich um zu klettern. Dir ist allerdings nicht sofort klar gewesen, ob das so etwas wie eine Einladung war. Du hast je­denfalls nur die Achsel gezuckt und die Situation mit ei­nem 'na ja' auszubremsen versucht. Wie es eben Karls Art gewesen ist, hat er darauf nicht sonderlich geachtet, sondern gleich damit begonnen darzustellen, dass er die Bergwelt ausgesprochen nötig habe und er gar nicht anders könne, als sich an ihren extremen Gegebenheiten zu messen. Von Gemütsbewegtheit in diesen Dingen wolle er gar nicht sprechen, fügte er hinzu, denn das liefe doch nur auf so eine heimatumwölkte Unerträglichkeit hinaus ...

   Es ist jetzt an der türkischen Bude ruhiger, ist dir aufgefallen, offenbar haben die vielen Hausfrauen von vorhin bereits an ihren Kochtöpfen gestanden ...

   Die Existenz dieser im Grunde großen Steinhäufen, ist Karl noch bei seinem Thema gewesen, sei schlicht und einfach eine Herausforderung für ihn ...

   Toll!, ist dir dazu nur eingefallen.

... um immer wieder einmal an seine physischen Grenzen zu gelangen.

   Respekt!, hast du applaudiert.

   Um dieses Bedürfnis zu befriedigen, müsse er sich ab und zu aus seiner gewohnten Umgebung lösen, die dann selbstverständlich eine Zeit auf ihn verzichten müsse.

   Du hast diese Mitteilung sofort mit seinem Auftritt von neulich im Segelklub verknüpft.

    Karl hat einstweilen wieder vom wilden Kurdistan erzählt, dass es dort gar nicht so ungefährlich sei, auch wegen der schwierigen sozialen oder religiösen Verhältnisse oder sogar auch ethnischen Probleme ...

   Aha, ethnisch!, hast du nur gesagt. Du hast allerdings wieder einmal eine ganze Weile in deiner Allgemeinbildung kramen müssen. Nach einer Weile ist dir doch eingefallen, dass sie die Kurden Bergtürken nennen, und du hast es Karl gleich mitgeteilt.

   Ja, ja, kam nur von ihm, denn er hat weiter auf Geo­­grafie gemacht.

   Dann ist dir auch das mit dem Ethnischen eingefallen, dass es sich dabei um Volksgruppe und den ganzen Kram dreht. – Gruppe, ach ja, seine Schar: Seine Gemeinde hatte damals unter Entzugserscheinungen gelitten, derer sie sich bei seinem Auftritt entledigen musste. Da war er wohl auch irgendwo im Gebirge unterwegs gewesen. Du hättest ihn fragen sollen. Rührend jedenfalls, so eine Anhänglichkeit. Hättest du diese Verbundenheit unter diesen Menschen vermutet? Wieder ein positives Argument in deiner neuen Samm­lung von positiven Eindrücken.

   Karl war einstweilen bei den Zaubern der Natur des vorderen Orients angelangt ... Karl widmete da noch etwas Bewunderung der Herbheit der Landschaft Kur­distans. Schließlich hat er der Verlorenheit des Menschen vor der gigantischen Kulisse der Bergwelt dort ein paar Gedanken geschenkt ...

   Der Türke im Marktstand hat bereits misstrauisch hinter seinen Gehängen von Knoblauch hervorgelugt. Möglich, dass er uns für Kontrolleure von irgendeinem Amt hält, deine Vermutung. Vielleicht hat er aber auch Schiss, dass wir zu diesen Parasiten gehören, die den kleinen Geschäftsleuten auf sehr eindringliche Art einreden, dass sie Schutz benötigten und für diese Dienstleistung etwas und natürlich regelmäßig in barer Münze zu entrichten hätten, weil sie sonst ihnen selber zum Opfer fielen.

   Ihr seid dann weiter durch die Budenreihen spaziert, wo die Händler jetzt wegzuräumen begannen. Als du ihnen so zusahst, wie sie ihre Ware wegpackten und die Auslagedielen der Buden zum Vorschein kamen, fiel dir etwas ein. Du hast Karl gleich die Story von neulich aus deinem verrückten Laden zu erzählen begonnen. Vom Kollegen Knöferl, der irgendwann damit angefangen hatte, das ihm zugeleitete Material auf seinem Schreibtisch liegen zu lassen. Normalerweise wandert das meiste, hast du gesagt, gleich in den Papierkorb. Aber der Kollege Knöferl hatte es eines Tages ganz einfach eingestellt zu entsorgen. Über die volle Breite verteilt, immer einen Zettel, einen Leserbrief, eine Pressemeldung, ein Schreiben aufeinander. Immer noch einen Wisch drauf. Bis da allmählich Schichten entstanden. Ein richtiger Berg von Papier. – Berge, überall Berge!, hast du dich getraut, Karls Vortrag ein wenig zu parodieren. Ein Papierberg natürlich nur, aber auch eine Herausforderung – du wirst gleich sehen, Karl!

   Karl hat nachsichtig gelächelt.

   Die schiere Überbeanspruchung, hast du weitergemacht, witzelte man bald und war gespannt, wie der Knöferl die Halde wieder abtragen würde. Man war jedenfalls erstaunt über den alten Kerl, den man diese doch irgendwie aufsässige Art gar nicht zugetraut hatte. Da sieht man es, schwindelte man sich angesichts des sich auftürmenden Papierbergs in die eigene Tasche, welch ein Pensum unsereiner bei der Zeitung zu leisten hat – wenn er was leistet: Das ganze Zeug da lesen, durchdenken und sonst was – ja, entsorgen! Der Knöferl musste sich doch allmählich strecken, wenn er an seinem Schreibtisch saß. Man lachte, es sei ja gut für das Rückgrat, was auch einem Journalisten nicht schade, dieses etwas zu trainieren ...

   Jetzt seid ihr vor einem Gasthaus gestanden. Setzen wir uns ein wenig!, sagte Karl.

   Kaum war bestellt, hast du deine Schnurre fortgesetzt: Ließen es dann die Umstände zu, zum Beispiel wenn der Kollege mal irgendwo unterwegs war, legte man eben auf den Papierberg noch was drauf, entsorgte alles von sich. Da war dann schon durchaus einmal was von Bedeutung darunter, was man dem Kollegen Knöferl da unterjubelte, irgendein Erguss von einer öffentlichen Person. Der Berg wuchs und wuchs. Der Chef, der sonst bei so was ausgerastet wäre, der hat eigentlich nur den Kopf geschüttelt und gemeint: Der Herr Knöferl ist am Ende! Dieses höhnische Grinsen in seinen Mundwinkeln wurde schon wahr­genommen, allerdings in die Richtung Kumpanei mit uns interpretiert. Okay, hatten wir uns gesagt, das ist schon ausgemachte Sache, dass er gefeuert wird. Wird vom Arbeitsamt noch ein paar Jahre unterhalten, bis zur Rente, man gönnte ihm das selbstverständlich. 

   Am Ende konnte der Knöferl nur noch im Stehen arbeiten. Dein Stehpult wächst ja ganz schön!, lachte man zu ihm, und er alberte zurück, dass er demnächst wie so ein Schreiber in alter Zeit mit Ärmelschonern hier aufkreuzen werde.

   Aber siehe da, der Knöferl war ja längst superreif! Der Kollege Knöferl ging eines Tages frohgemut, von der Redaktionsleitung herzlich verabschiedet, in den Ruhestand. Seinen verdammten Berg ließ er uns als sein Abschiedsgeschenk zurück. Du kannst dir vorstellen, dass wir uns reichlich dumm vorkamen mit diesem Andenken – und einem angesichts unserer Aufräumarbeit immer wieder mit dieser zynischen Grimasse auftauchenden Chef.

   So hat eben jeder seinen Berg, vor dem er steht, wie der sprichwörtliche Ochs vor dem Berg steht, hat Karl nur kommentiert. Er hat mir noch einen Seitenhieb verabreicht: Selbst die Pointe ist mitunter so ein Berg, was Tom?

   Du hast nach deinem Bier gegriffen.

   Karl hat seine Kaffeetasse genommen und sie am Mund gehalten, als habe er zu trinken vergessen. Dann hat er sie wieder abgestellt, dir auf die Schulter geklopft und gesagt: Weißt du was, Tom, du kommst ganz einfach mit auf eine Tour – sagen wir mal ... Er hat kurz überlegt. Während du noch mit dei­nem Staunen jongliert und noch gar nicht gewusst hast, was du als Ausrede hättest bringen können, hat er schon weitergemacht: Sagen wir mal auf die Kemptener Hütte! Das ist nur ein Spaziergang zum Eingewöhnen."

 

Versuche es doch wieder einmal anders. So die gesunde – he! Gut, probiere es eben schlicht mit deinem Ich. Es war ja zur Genüge im Abseits. Jedenfalls was die Überraschung anbelangt, in die er dich mit seiner Zumutung da versetzt hatte. Wenn du das nun mit dem Berg hier aufs Papier bringen willst! Also beginne mit dem Jammer – oder hole dir erst was zum Trinken, wenn du diesen Berg bezwingen willst. Dann los, du ich:

  "Ich und in die Berge!, hing es mir im Kopf. Wie sich da jetzt rauswinden? Auf einen Berg? – Ja klar, Tag für Tag an den Berg Arbeit auf meinem Schreibtisch ... – Nicht noch so einen matten Joke!, mahnte ich mich und sagte ihm zu. Er nahm es mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis, zückte sein Handy, erteilte jemandem Weisung, ihm zwei Tage frei zu machen. Kurz darauf der Rückruf und dann seine Mitteilung, dass es übermorgen und nur eben da möglich sei. Er zückte seinen Terminplaner blätterte und kritzelte darin herum – gerade so, dass ich immer einen kurzen Blick auf die eng beschriebenen Seiten werfen konnte.

   Also abgemacht!, entschied er. Dann schlenzte er mit einer eleganten Armbewegung eine Wucht von Chronometer unter der Manschette hervor, warf einen Blick darauf und erhob sich. Ich wollte ihm folgen: Okay, wenn's eilt, kam von mir, dann zahlen wir eben an der Theke! Er aber bedeutete mir mit einer lässigen Hand­bewegung, Platz zu behalten.

   Servus, bis bald!

   Einen Klaren, bitte!, als er draußen war. Es wird nicht einfach sein, ganze zwei Tage wegzubleiben. Da sind in der Zeitung neben dem Alltagskram etliche Ver­anstaltungen auf Spalte zu bringen. Mal sehen.

   Zahlen. Karls Zeche selbstredend mit.

  Der kleine Anstieg dann auf dem Weg zur Wohnung. Brachte mich wie immer ins Keuchen. Registrierte es besonders. Heute. Auf einen Gipfel. Ich! Wie die vom Wochenende!, maulte ich vor mich hin. In Blechlawine hin. In Menschenkarawane hinauf. Wenigstens das nicht!, versuchte ich mich zu beruhigen. Mitten in der Woche ... Ließ auch den Aufzug sein. Treppe.

Schon mal trainieren. Mann, die paar Stockwerke. Der Puls. Kann was werden. Mit Karl. Der hatte im Langlauf alle abgehängt. Damals in der Schule. Und überhaupt. Die vielen Pfunde. Die sich immer ansammeln.

   Dann waren da anderntags im Schaufenster die Wanderutensilien. Sonst immer dran vorbei. Heute .... Das muss ich erst richtig hinkriegen. Mit mir. Zur Arbeit wie zu einem Fluchtpunkt. Auf dem Weg dorthin Lamento: Man ist ja von hier und hat bei Föhn die Berge gleich vor der Stadt. Warum dann auch noch hin und hinauf. Bergkult. Man könnte alp(en)träumen – machte ich mir zurecht.

   Ich war jedenfalls im Wort. Was würde Karl auch denken! Da blieb mir nichts anderes übrig, als die notwendigen Vorbereitungen zu treffen. Also Bergschuhe, Rucksack und das ganze Zeug.

   Doch wo würde es denn eigentlich hingehen? Habe ganz zu fragen vergessen. So erwischt hatte er mich. Wecker gestellt.

   In aller Herrgottsfrühe raus aus der Klappe. – Karl hatte am Abend zur Erinnerung anrufen und Wecken per Telefon anbieten lassen. Dankend abgelehnt. Typisch, er lässt arbeiten! – Die neuen Klamotten übergestreift. Vor den Spiegel. Was ist denn das für einer?, fragte ich mich. Sieht aus wie Alpenfreak aus Übersee. Diese knallig roten Kniestrümpfe auch! Der gelackte Laffe im Sportgeschäft hatte mir das angedreht: Dann sieht der Hintermann – oder belieben mit einer Dame? – beim Erklimmen der Wand immer gleich den Vordermann. Es wirke wie ein Signal. Es käme zu weniger Unfällen bei Knallrot. Den Mund gehalten und bezahlt. Als er den ganzen Plunder einpackte, laberte er noch daher, dass sie heute sogar an Jäger Signalfarben verkauften. Tarnung sei nämlich total neandertalerisch. Der moderne Mensch gebe Signal, und zwar überall, wo er gehe und stehe.

   Weiß Gott!, zischte ich Weiß Gott, das tut er, der Mensch!

   Fünf Uhr. Zum Treff. Karl bereits vor Ort. Sah von weitem, dass er am Auto auf und ab ging. Frisch und munter. Ungeduldig. Ich sagte mir, er ist hell wach und strotzt nur so vor Tatkraft. Ist ganz scharf darauf, den Trip durchzuziehen. Hau ab hier, Junge!, kam es über mich. Das wird auftreibend! Konnte mich allerdings nicht durchringen. Stellte mein Vehikel etwas entfernt ab und ging zu ihm. 

   Als er so unter der Straßenlaterne deutlicher zu sehen war, blickte ich spontan an mir hinunter. Diese Kniestrümpfe! Karl dagegen ganz adrett farblich abgestimmt. Zweifellos alles maßgefertigt: Grüner Sportdress. In selbst bei diesen Lichtverhältnissen sichtbarer Qualität.

   Servus, auf geht's!, hörte ich.

   Hallo, Profi!, meine Antwort. Stufte mich still als Berg-Clown ein, in meiner Verkleidung. Wo lassen arbeiten, Herr Berg-Gentleman?, alberte ich in meiner Verlegenheit. Er hatte es überhört und kam gleich zur Sache, beschrieb mir die Route, nannte Namen, redete Alpinistendeutsch ... Was alles an mir so gut wie ganz vorbeiging. Sein Ziel hatte mir bereits genügt: Allgäu. Ich war in Gedanken sofort in diesem grünen Landstrich unterwegs und begegnete Rindvieh und Käse und kehligen Lauten ... Karl faltete die Karte auf der Kühlerhaube zusammen und meinte noch: Eine ganz kleine Tour, nur so zum Einlaufen, um etwas Kondition zu bekommen. Er plane nämlich, in der nächsten Zeit extrem zu klettern. In den Dolomiten. Heute gehe es nur etwas über zweitausend 'Normal Null'.

   Aha!

   Dann also los!

   Etwas über einen Heilbronner Weg hörte ich noch, als wir anfuhren. Ich kramte den ironischen Flachlandtiroler aus meinem Wortschatz. Um mich abzulenken. Dass dieser sich immer gerne ganz weit oben namentlich zu verewigen suche. Im Gipfelbuch, das sie hier manchmal beim Kreuz oben haben sollen. Heilbronn!, wich ich auf die schöne Stadt aus. Es wurde mir unversehens romantisch zumute. Kleists Kätchen tauchte dabei sogar kurz auf. Heilbronn. Städtisch kultiviert! Aber wir steuern ja ganz woanders hin! Hoffentlich wenigstens ordentliche Gipfelgastronomie oben. Das mit dieser Namensgebung lässt jedenfalls hoffen, dass man nicht in so einer Bretterbude nächtigen muss. Wie sie sie sonst auf den Bergen haben und folgerichtig auch Hütte nennen. Positiv denken!, wies ich mich an. Ich wollte im angenehmen Summen von Karls edlem Geländewagen wegtauchen. Vor mich hin dösen. Ein Nickerchen. Kräfte sammeln. Was mir Karl allerdings damit durchkreuzte, mich davon zu unterrichten, dass es bei der angepeilten Höhe aus der Vegetationszone hinausginge. Gleich war er auch bei der großartigen Nacktheit der Felsregion. Er pries den reinen, weiten Klang eines jeden Geräuschs. Egal, ob es von hinabschlagendem Gestein oder dem Pfeifen der Bergdohlen herrühre. Selbst die bisweilen darüber hinweg donnernden militärischen Jagdbomber erschienen ihm schier wie sinfonische Silbervögel. 

   Schreibst du heimlich Gedichte?, wollte ich ihm uzen, ließ es jedoch sein. Jedenfalls war mir, als habe ich seit heute Früh einen ganz anderen Karl neben mir. Mal sehen, was er noch bringt. Vorerst noch mal wegdämmern. Er war allerdings sofort wieder voll drauf. Schlug seinen Schaum von super alpinistischen Unternehmungen. Die Sierra Madre tauchte auf und dann sogar dieser Popocatèpetl. Hier wollte ich mich einbringen: Popocatèpetl. Über dieses Wort hatten wir in der Schule unseren Unsinn getrieben. Der Popo von der Kati Petl – natürlich mit allem heiß erträumten Drumherum bei Kati und ihres geschlechtlichen Gleichen. Ich wollte Karl daran erinnern. Doch bis ich reagierte, bestieg er bereits den Kilimandscharo. Hier beeilte ich mich, mit einem ´Ach ja` wenigstens eine akustische Marke meiner Anwesenheit in seinem Redefluss unterzubringen. Ich setzte nach: Schnee am Kilimandscharo! – Treffer! Wir unterhielten uns über die Verfilmung dieses Romans. Waren uns gleich einig, dass es sich um die gelähmte männliche Entschlusskraft gehandelt habe. Dass beim Manne heutzutage eh so manches in Gefahr sei. Dass sie sogar festgestellt haben wollen, sein allerheiligstes Y-Chromosom werde immer dürftiger.                                                                                                         

   Mir war richtig danach, Karl etwas von einer Gefahr der in Reichtum und Luxus erstickten Fähigkeiten hinzureiben. Passe auf, Karl!, lag mir bereits auf der Zunge, hüte dich ... Wir waren allerdings am Ziel angekommen. 

   Raus aus dem warmen Auto. In den rauen Allgäuer Morgen. Schuhe geschnürt und Rucksack geschultert. Und los. Gottlob, erst Ebene. Im Gehen die Gegend betrachtet. Die Siedlung immer schütterer. Bald hatten wir die Häuser im Rücken. Gepflegtes Grün schluckte allmählich die Liederlichkeit vom Dorfrand. Stacheldrahtbewehrt. Aus den Wiesen wuchsen Schuppen und Scheuern. Die Landschaft war mit großen braunen Warzen übersät, konnte es einem vorkommen.

   Der Körper kam auf Touren. Über den Rücken breitete sich unterm Rucksack angenehm die Wärme aus. Aus dem gedämpften morgendlichen Allerlei hoben sich dann knirschende Tritte heraus. Vielfaches horniges Trippeln kam uns entgegen. Eine Herde. Ein Meer brauner Fleischmassen wogte daher. Die Riesenleiber mit ihren Faden ziehenden Flotzmäulern schnaubten geruchumhaucht an mir vorbei. Leben. Ich aus meiner verstädterten Leute-Hunde-Katzen-Gesellschaft staunte bald wie ein Kind. So etwas Uriges habe ich ganz lange nicht mehr so von Nahem gesehen. Zum Anfassen. War ich je so nah an einem so großen Stück Leben? Diese Gestalt hinterdrein: hutzelig, krumm – doch guter Dinge, wie es schien. Ein in braungrün getöntem Blau steckendes Wesen. Urlaute immer wieder. Nicht ganz auszumachen, ob von Vieh oder seinem Hinterher. Dumpf klatschendes Prügeln ab und zu. Mein, zugegeben überspanntes, Hallo-guter-Mann! Als Antwort ein Brummeln, das nach einer hinterseitigen Aufforderung klang.  

   Vorwärts!

   Der Weg führte in ein Gehölz.

   Tautriefende!, rief ich und wiederholte. Um dann 'Frische haftet am Blatt' anzuhängen. Ich hatte die Absicht, so etwas wie einen Zeilensprung in die Abfolge der Worte zu bekommen.

   Absolut abnorm anhört sich das!, nahm Karl den gleichen Takt auf und fügte hinzu: Wassers Tropfen betauen den Nacken kalt.

   Dieses Klangtrommeln, ganz von vorgestern!, freute ich mich. Wie der Hermes gern in seiner Deutschstunde. Erinnerst du dich?

   Klar doch!, antwortete Karl und war gleich ein paar Schritte weiter. Eigentlich sollte meine Schrulle mit der sprachlichen Verrenkung nebst Denkanstoß Schulzeit zu einer Plauderpause führen. Um ein wenig zu rasten. Um alles hier langsamer angehen zu lassen. Nun stapfte ich aber Karl brav hinterher. 

   Ich streifte einen Ast. Aaa, Schock!, mein Aufschrei. Ich hatte von diesen vorhin bedichteten Tropfen eine ganze Dusche abbekommen. Ich blieb stehen und kramte das Taschentuch heraus. Man könnte noch im Bett liegen!, überfiel es mich dabei. Dann warm duschen, ließ ich den Gedanken weiterlaufen, während ich mir den Nacken wischte.

   Karl war weitermarschiert. Ich musste Tempo zulegen ...

   Eine Steigung. Die Daumen an den Riemen eingehakt. Die Schritte kürzer. Das Luftkriegen geradezu mit Bronchienflattern!, stöhnte ich mir. Da siehst du's: dein Qualmen immer!    

   Dann, Gott sei Dank, beinahe erholsam, auch wieder mal abwärts. Sich von der eigenen Leibesfülle schieben lassen.

   Immer wieder so. Rauf und manchmal ein wenig runter. Da machte sich doch allmählich das Gestell bemerkbar. Fahrgestell nannte man es als Milchbart!, kam mir auch sofort. Den Einfall halten! Um von der Bedrängnis hier abzulenken. Man hatte Fahrgestell natürlich auf Mädchen bezogen. Darin seine spitzen Wünsche untergebracht. Schwerenöter sein. Herrje!, wie seinerzeit: platonisch, nur in der Fantasie und so. Ein paar Bilder durchhuschen lassen: Entrockte, Bebadehoste ... – und etwas abgelenkt sein. Zwischendurch meldete sich allerdings doch das eigene Gestell. Mit all seinem Geplagtsein. Es verscheuchte schließlich die ganzen Zuckerbienen im Hirn. Schweiß auf der Stirn. Kalt in der Morgenfrische. Mit der heißen Hand drüber. Eine sonderbare Wohltat.

   Karl war nicht mehr zu sehen.

   Jetzt ging es in Kehren dahin. Dazu immer steiler. Deswegen dieser Zickzack, aha! Der kurze Atem. Das Ziehen in den Waden. Es begann richtig zu zerren. Stehen bleiben. Verschnaufen. Ich hielt nach Karl Ausschau. Fast Hilfe suchend. Welche denn? Als ich ihn dann weit vor mir ausmachen konnte, wie er federnd und trotz der Steigung so flott voranschritt ... – Ja, Mensch!, da wollte ich die weiße Fahne hissen. Hier warten, bis er wieder zurück ist? He, Karl, wandle ruhig dahin – lustwandle meinetwegen! Ich warte unten auf dich. Verlustiere mich im Gasthaus unten. Gleich am Parkplatz – Ach ja, da unten jetzt sitzen!, packte es mich. Jetzt ist Frühstückzeit, für Spätaufsteher. Nach einer langen Nacht. Etwa nicht solo verbracht. Wohlbehagen. Frische Brötchen und Kaffee. Sich behaglich in den Tag hinein plauschen. Eine Zigarette und die Zeitung und, und ... – Diesem Gelüst noch ein wenig nachgehangen. Das wirkte für Augenblicke wie Ersatzbefriedigung. 

   Ich musste mich schließlich wieder einfangen: Das Weichei werde ich Karl nicht abgeben! Auf geht's!, meine Weisung. Tempo zulegen! Die ersten Marterschritte hinter mich bringen. Den Serpentinen nach. Aufwärts und obendrein herüber und hinüber – herüber, hinüber. Abschalten! Hinauföden. Immer zu. Muss ja mal zu Ende sein ... 

   Das klappte sogar eine ganze Zeit. Ich machte mir sogar so was wie Stress-Trance vor, in die ich gerne eintauchen wollte. Machte mir dann vor, irgendwie so dahinzuschweben. Und war dabei doch voll da. Mit meiner ganzen, in dieser Illusion sogar kaum durch diese Plagen angefochtenen Leibhaftigkeit. Na so was!, wunderte es mich. Nun vielleicht den Hirnkasten ganz abschalten. Nichts denken. Ruhe vor sich selber haben. Wirkte gut. Eine gute Strecke klappte das auch.  Blöderweise überkam es mich dann doch wieder. Ich schaltete mich wieder an mit so etwas wie: Man erfährt erst in der Herausforderung ... Was denn? Weg war jedenfalls die ganze nahezu spukige Entrückung. Es anders versuchen, weiter- und von mir wegzukommen: So schaute ich beim Gehen umher. Betrachtete linker Hand das steil ansteigende Stück Fels. Stellte Schichtungen fest. Hatte sich alles abgesetzt, fiel mir ein, irgendwann gehört zu haben. Alles einmal Meeresboden gewesen. So tief unten wie jetzt oben. Ein Schauder lief mir unterm Rucksack über den Buckel und mündete im Wunsch, jetzt an so einem Meeresstrand zu liegen und mir die Sonne auf die Schwarte brennen zu lassen und das Rauschen des Ozeans zu genießen und nicht im Schweiße meines Angesichts, sondern in den warmen Wellen zu baden ... 

   Um die Kante rechts herum. Wieder links. Da hatte ich Karl im Auge. Weit vorne und ziemlich weit oben war er. Zum eben noch angeträumten Meeresstrand müsste er mich mitnehmen. Nicht nur zu so einer herben Walz hier. Er mit seiner Globetrotterei. Für seine Wellnesstrips hat der Kerl freilich ein anderes Publikum. Habe es nun ganz deutlich ausmachen können: Er war immer noch so elastisch drauf. Sein Vorsprung. Der Bursche hatte die Gerade zwischen den Windungen genommen!, mein Verdacht. Ich brav dem Weg nach mäandert. Stehen geblieben. Was an Kraft gewonnen wird, geht an Weg verloren, heißt es. Und verflixt umgekehrt. Karl hat es. Er kann Power einsetzen!, musste ich ihm doch lassen. Ich dagegen habe mich mühsam hinaufzuschleppen!, gönnte ich mir Mitleid.

Überall. Oh, sogar im ganzen Leben!, legte ich noch drauf. Stopp! Im Leben? Nicht gar so weit ausholen. Vielleicht sogar noch so was wie Bürde-des-Lebens draufpacken? Damit alles noch schwerer wird? Mit meiner ganzen Leibesfülle, die sich mir immer ansammelt hinterm Schreibtisch. Vielleicht sollte ich mich Karl als den Verletzten ... Der ich doch im Grunde auch bin. ... also gar nicht nur vortäuschen! In meinem bedauerlichen Zustand. In den er, ja er, mich getrieben hat. Ihn dafür sozusagen blechen lassen! Mit der baren Münze seiner protzig zur Schau gestellten Energie. Ich würde mich an ihn hängen. Zöge ihn runter. Saugte ihm nachgerade Saft und Kraft aus seinem verdammt durchtrainierten Körper ... Den Hund mache ich fertig!, rutschte mir dazwischen. Ich gönnte mir Wut. Ha! Die gedieh mir zum Kraftstoff. Trieb mich voran. Wuchs sich zu einer richtig fetten Versuchung aus – und ist mit mir eine Weile recht be­schwingt dahingestapft. Ihn fertigmachen. Ihn auf­reiben. Ihn am Boden sehen ... Mit diesem Krümel Nie­dertracht im Hinterkopf ließ es sich tatsächlich besser vorankommen. Wie im richtigen Leben!, erlaubte ich mir dann doch noch. 

   Etwas später allerdings – nun gut. Die Antreibe da vorhin. Die mit dem fertig zu machenden Hund. Hatte an Wirkung verloren. Ich zieh mich der Niedertracht, wand mich heraus und beschloss, mich der Na­tur hier zu widmen. Klar, das Grün betrachten! Man müsste etwas auf Botanik machen! Wenn man darüber was wüsste. Als Asphaltkreatur. Gras, ja. Alles was grün ist. Nun gut, der Ampfer dort. Viel mehr ist doch bei mir nicht drin!, bekannte ich. Aus dieser Wissenslücke ulkte ich mich schleunigst heraus.  Mein Blick war auf eine braun-grüne Flade gefallen: Kuhflatia Alpina, unser Pennälerwitz kam mir: stengelloses Alpengewächs, das beim Hineintreten an der Sohle haftet. Ich hielt eine Weile Ausschau nach Rindvieh. Vielleicht mit der Hand übers Fell streichen. Sich mit der rauen Viehzunge den salzigen Schweiß von Hand und Arm lecken lassen. Müsste wohl tun ... Ein Felsbrocken dann. Stolpern. Ich landete zwar nicht auf dem Boden. War jedoch ganz bei meiner Leiblichkeit: Das Wasser rann mir aus allen Poren. Wie aus lauter Lecks. Das Hemd klebte an der Haut. Ich schleppte mich darauf richtig hechelnd dahin. Immer weiter. Wollte mir nach einer Weile vormachen: Da wirst du durchkommen; es hinter dich bringen; wie ein gestandenes Mannsbild; Charakterstärke. Was für ein Monstrum, dieser Begriff!, packte mich. Und Mannsbild und ... Bis ich wieder wo anstieß und einknickte.

Aufgerappelt. Nach der Ursache gesucht. Ein Holzprügel. Nein, Wurzelstück. Umhergeschaut. Aha, der Baum da. Knorrig, zerzaust. Standfest – gar standhaft? Jedenfalls gezacktblättrig. Ein Ahorn. Einen uralten Burschen nannte ich ihn. Zu ihm hinaufsteigen. Gönnte mir diesen Aufwand, auch wenn es mich ziemlich was an Anstrengung kostete. Lehnte mich brustseits an ihn. Umfing ihn und bettelte: lasse et­was von deiner Kraft in mich fließen. Etwas von deiner Stand­haftigkeit. Eine ganze Weile hing ich so an ihm. Es tat wirklich wohl. Wenn das jemand sähe!, lachte ich mich dann weg. Trennte mich von meiner harten Buhlschaft. 

   Auf den Weg runter und weiter.  Immer hinüber und herüber. Meine zu vielen Pfunde wollten hinaufgeschleppt sein! Sie drückten auf die Sohlen ...

   Karl war um eine Ecke oder war hinter einem Felsvorsprung verschwunden. Ziemlich egal. Bei einem Blick nach rechts – hinunter. Schock. Der Atem stockte. Mensch, da runter! Abwärts da. Wahnsinnig steil. Stehen bleiben. Mal tief durchschnaufen. Das Herz nicht mehr so im Hals fühlen. Dabei die Blicke immer wieder die Steilwand hinabfallen lassen. Was mich dabei so alles anmachte! Peng, platsch. Fleisch auf Fels. Natürlich nicht das eigene! Andres. Pervers! Täter sein! Es trieb mich. Müsste ein dumpfes Geräusch abgeben. Von der Felswand gegenüber womöglich im Echo verdoppelt. Zum dumpfen Trommeln anschwellend. Apokalyptisch ausklingend ...  

   Schließlich den Steilhang hinunter das Wasser abgeschlagen. 

   Dann wieder so ein Start nach dieser abseitigen Einlage. Während es drückte und zerrte, jäh der grelle Blitz: Wenn Karl hier über Bord ginge! Runter und über die Kante! 

   Konnte ihn weit vorne ausmachen. Habe ihn mit dem Auge gepackt und ihn da hinuntergeschmissen ...

   Dieser brutale Trip tat mir gut. Ich holte mich davon zurück und konnte ganz entspannt nach dem doch noch lebendigen Karl sehen. Er setzte freilich noch Schritt vor Schritt. Wie eine Maschine arbeitete er sich im Gleichtakt den Berg hinauf. Dieser Hinaufsteiger. Geht allerdings auch nicht stur dahin!, räum­te ich ihm ein.  Er wendete immer wieder den Kopf, mal nach links, mal nach rechts. War zu vermuten, dass ihm sein Genick zu schaffen machte. Endlich hat er auch ein Handicap!, wollte ich mich freuen. Da leuch­tete mir allerdings ein, dass er natürlich die Gegend betrachtete. Ich raffte mich auf, in seine Nähe zu kommen. Es zehrte freilich zunächst – doch packte mich Ehrgeiz. Allmählich konnte ich seinen Atem hören. Ein tiefes Schnaufen. Ein Japsen fast. Aha, registrierte ich zufrieden, wenigstens das! Auch so ein Vollmann muss um Luft ringen. 

   Die Landschaft hier überall!, keuchte ich ihm zu, als ich dicht hinter ihm war: Lauter Landschaft! Ich blieb stehen. Komisch. Wenn man mal ruht, schnaubte ich. Dann ist das wieder ein ganz anderes Bild. Das man vor Augen hat. Anders als wenn man sich vorwärtsbewegt.

   Da hielt er an.

   Vielleicht geht man an vielen Dingen vorbei, versuchte ich es gescheit. Nämlich wenn man richtig in Bewegung ist. Jedenfalls lauter Bilder hier wie auf den Bildern. Die man in Erinnerung hat. Die man von den ganzen Versuchen überall kennt. Den vielen Fotos, Postern, Pinseleien. Also doch bekannte ... Der Gedanke verlor sich mir. Ich musste eh aufhören mit meinen Ausführungen und um Luftbeschaffung besorgt sein. Nach diesem Aufwand. 

   Ja, ja!, kam von Karl zunächst nur. Nach einer Weile doch noch: Die dünne Luft hier, die bringt vielleicht auch mehr Durchblick. Oder es ist das stärkere Licht in der Höhe.

   Ich schaute ihn an, wartete, ob noch mehr käme. Er soll doch wieder richtig schwadronieren wie heute im Auto, wünschte ich mir. Das pumpte ihn aus. Ich blickte noch mal zu ihm. So was wie einen Fernblick ist in seinen Augen, meinte ich. Er war sicher mit den Ge­danken ganz woanders, ganz weit weg. So etwas Aus­drucksvolles im Blick, so wie Spiegel mit Landschaft drin, billigte ich ihm zu – und ließ es sein.

   Er hatte sich wieder auf den Weg gemacht. Ich folgte ihm. Natürlich, die fiesen ersten Schritte! Könnte man doch umkehren!, war bei mir auch gleich da. – Umkehren, um dann als Spielverderber dazustehen? Nein, das nicht. Sogar einen Zahn zulegen. Um die Sache hier hinter mich zu bringen. Um zu zei­gen, dass da noch Reserven sind. Möglichst in seiner Nähe bleiben. Mal genauer sehen, wie er drauf ist. Mensch! Dass ich da jetzt erst draufkomme: Der Typ wirft bestimmt was ein! Dann hätte ich ihn bis jetzt überschätzt. Der war doch bei den Indios in den Anden. Gut möglich, dass er Koka hat! Ohne Stoff müsste er doch auch einmal einknicken. Wenigstens ein bisschen. – Oder ich helfe da nach!, überfiel es mich wieder. Auf total rohe Weise! Dass er nicht bloß einknickt. Sondern gleich ganz verschwindet!, bewilligte ich mir. Meine Meuchelei da vorhin am Absturz. Ihn verflucht link da hinunterbefördern! Es wenigstens mal planen. Ja, so was will gründlich vorbereitet sein. Sich alles fehlerfrei ausdenken ... 

   Es mir auch nur auszumalen. Tat schon richtig gut. Muss ja nicht gleich sein. Und überhaupt. Man wird sich wohl seinen eigenen Kopfkrimi drehen dürfen!, mei­ne Rechtfertigung. Ich spürte deutlich, wie mich bereits die pure gedankliche Gemeinheit aufgebaut hatte. Das wollte ich mir genehmigen dürfen. Erschöpft, wie ich mich eben fühlte. Da kommt einem schon mal so was. Nachhelfen! Karl da hinunter! Vielleicht auch nur selber stolpern. Kann ja sein. In diesem meinem Zustand des Ausgepowertseins. Bei den Wegen hier obendrein. An ihn stoßen. Ihn nur eben mal anstoßen. Schicksal ...

   Es trieb teuflisch an. Es ging schneller dahin. Es wurde mir sogar etwas leichter.                                                                                       

   Allerdings auch möglich, schlich es sich mir nach einer Weile düsteren Selbstgenusses ein, dass ich mir selber davonlaufen wollte. Um des Anstands willen. Der doch auch immer irgendwo lauert. Das muss man sich ja lassen. Selbst in seinen Anwandlungen der anderen Art. Weglaufen. Aus dieser Schmuddelecke der Seele raus, wandelte es sich mir an ... Seele, du lieber Himmel! 

   Karl blieb allerdings unerbittlich gut drauf. Klar, Karl! Wäre ja auch schade um ihn!, zynelte ich mir. Wie er doch Meter um Meter Höhe des jetzt noch stärker ansteigenden Pfades nahm! Ich wollte weg­sehen. Den Weg im Dahinschreiten unter mir durch­ziehen lassen. Einbildung in Grau baute sich da auf. Die Illusion: Der Weg bewegt sich dahin und du bist drauf und er nimmt dich mit. So wie Laufband in zivilisierten Orten. Eine richtige Geschäftsidee bot sich zum Spielen an: Wäre doch überhaupt was. Nämlich für fußmarode Wanderer auf den Berg. Erst recht für solche, die Horror haben, in Kabinen nach oben geschwebt zu wer­den. Ja, Menschen und Kapital bewegen, Management betreiben – und wer sein und was haben und von allem nicht zu wenig ... Auf Augenhöhe mit Karl. Allerdings entlarvte sich mir das gleich als eine Flause.

Dass das gar nicht so behaglich wäre, sagte ich mir in solchen Kreisen ... Das ließ mir das Dorado von eben aus dem Blick geraten. Besser, sagte ich mir, mich der Wirklichkeit zu widmen: Grüne Matten rechts! Steinbesät, herrje. Matten!, was für ein Wort! Hängematten!, stahl sich sofort herein ... Nein!, nicht wieder Wellness ins Hirn laden! Abschalten!, befahl ich mir. Schluss. Möglichst ganz teilnahmslos weiterlatschen. Mensch! Ohne am eigenen Tun Anteil zu nehmen. Die Lösung überhaupt. Auch für Killer. Runterstoßer ... – Weg aus solchen verzwickten Lagen!, meine Weisung. Links die Wand. Der Weg war schmal geworden. Ein Steig. Ein Saum nur. Wenn mir was passiert!  Richtig, ein Saumpfad, wie sie früher sagten.

Plötzlich doch diese tückische Sache vorhin um Karl wieder: Nur ein kleiner Tritt daneben. Da hätte es sich gehabt mit ihm! Es packte mich jetzt richtig lüstern. Bekäme von mir darauf einige Spalten Nachrufs im Blatt, die ich sogar überregional unterzubringen versuchen würde: Sein fabelhafter Aufstieg, über­all, sein Doktor-Ing, und auf den Kilimandscharo ... Mit dieser Bergwalz hier, untermalt mit seiner karrieristischen Existenz, passte alles zusammen: Aufstieg und Absturz ...  

   Karl war tatsächlich nicht mehr zu sehen. Wahnsinn! Vielleicht ist es wirklich schon passiert. Ohne mich! Da tief runter. Stehen bleiben. Der Aufschlag? Niemand könnte ihm helfen. Armer Teufel – nun ja, in der Hölle. Wo er auch hingehörte!, genehmigte ich mir auch noch. Hilfe? Wäre auch überflüssig.

Nach dem Absturz. Aufsammeln am Ende nur. Zerschlagen.

Kein Knochen mehr heil. Nicht runtersehen! So eine Tiefe zieht an und zieht runter. Wie im Leben. Scheiß Leben immer. Sieh zu, dass du selber oben bleibst!, die Order. An der Wand entlang. Da sollten sie Draht­seile verankert haben. Geradeaus sehen. Dabei dauernd doch das Szenario von vorhin zugelassen, von Karls Abgang, das. Man muss das tun, spekulierte ich noch. Wenn man es wirklich tun will. Da muss man sich erst daran gewöhnen. Als ursprünglich sittsamer Bürger. Ganz irre schmal der Weg. An der Wand entlang getastet. Der kühle Stein tat der aufgequollenen Hand gut. Wenigstens das. Behutsam einen Schritt vor den anderen gesetzt. Ein Stolpern! Hatte mich gerade noch fangen können. Herzklopfen. Anhalten. Und tief durch­atmen. Gleich stellte sich ein gutes Gefühl ein. Entspannte mich. Brachte mich noch einmal auf die Natur: Doch nicht übel hier! Die frische, reine Luft. – Ich fühlte mich gut. Sammelte weiter Eindrücke: Die Ruhe hier. Eigentlich Lautferne. Geräusch verlor sich in der Weite der Landschaftskulisse, ging mir auf. So ähnlich, wie es Karl heute in der Früh beschwärmt hatte. Fernlaute. Wird sich doch nicht etwa doch ge­lohnt haben? Sich hier rauf zu quälen. Auch dieses satte steingesprenkelte Grün: Satte Almen tragen Tiere. – Ha? Ich war ja richtig gut drauf. Unerwartet. Es klappte sogar mit meinen Füßen. Überraschend. Wollte mich jetzt aus dieser guten Lage heraus Feld und Flur widmen, um ihnen schöne Gedanken abzugewinnen. Feld und Flur. Nein, schade. Die beiden sind unten im Tal. Dann eben Tiere: Was da kreucht und fleucht!, war mir noch von irgendwann drin. Da!, drei braune, possierliche Kerlchen. Wie große Hamster, bildete ich mir ein. Riesige Hamster, vielleicht auch schon hier oben genverändert, überkam mich. Ich blieb stehen. Zwei balgten sich, das dritte machte Männchen. Schien Schmiere zu stehen. Drei Murmeltiere? Das müssen Murmeltiere sein!, rief ich. Ein Pfiff. Weg waren sie. Als Stadtidiot beschimpfte ich mich. Darauf bog ich um die Ecke. Herrgott! Da war gleich ein Rauschen. Was Nasses. Frisches. Nasse Ei­le!, sprudelte mir im Kopf zusammen. Es wurde mir vom Hören allein so angenehm. Als ob da was Kühles, Feuchtes, Belebendes über mich gerieselt wäre. Jetzt konnte ich es bereits sehen. Wasser! Hier oben. Ein munterer Quell, du meine Güte, strömt übers Gestein!, jubelte ich. Karl stand da. Ich erschrak. Schlechtes Gewissen?, wollte es mir kommen. Wegen des mörderischen Gelüsts vorhin? Ich verscheuchte das und sah ihn an: Tatsächlich, dieses feixende Gespenst, überkam es mich. Karl mit immer noch seinem Gesicht, strahlend und bergverzückt. Ich rannte an Karl vorbei auf das quellende Nass zu. Noch ein paar Schritte entfernt, da tauchte ich bereits ein in den kühlen Hauch des Wassers. Was für ein Genuss. Tief Luft geholt. Ein sagenhaft belebendes Gefühl. Niedergekniet. Den Bergquell über den heißen Kopf rieseln lassen. Menschenskind! Wann fühlt man seinen Schädel so? Wasser übers Haupt. Da lädt sich einem Wasser mythisch auf. Taufe. Wahnsinn! Noch einen tiefen Schluck aus der hohlen Hand. Noch einen. Karl sah mir wohl zu. Ich blickte auf. Wie er da an der zerzausten Latsche lehnte! Noch einmal Wasser geschöpft. Karl im Auge, frischwärts wie Coca-Cola, leuchtete mir die alte Anpreisung auf. Wie Karl auch da stand. In der guten Konfektion dieses Bündel gute Kondition ... 

   Wegsehen! Dem Puls noch Frische gönnen und dem Hals.

   Karl bestärkte mich in meinem Geplantsche. Denn bald gebe es kaum Nass, wenn kein Gletscherwasser zu haben sei. Jedenfalls vorerst nichts zu sehen von Firn, geschweige denn von Gletscher. Alles weggeschmolzen. Nun ja, das Klima.

   Mein Vorschlag dann, ein wenig Pause einzulegen. Denn es sei ja bereits reichlich gegen Mittag. Er stimmte zu. Wir hätten keinen Rückstand gegenüber seiner Planung. Wir ließen uns nieder und kramten Brot aus dem Rucksack. Beim Kauen die Blicke umherwandern lassen. Da und dort länger verweilt.

Die ganzen Schönheiten entdecken, Felsformation wie Skulpturen; Töne des Grün, aus dem vereinzelt gelbe und rote Farbtupfen von Blütenwerk leuchteten ...

   Ach ja, das Plätschern hier neben uns!, kam es da von Karl. Es ging nicht gleich weiter. Es hatte jedoch so geklungen, als hätte es mit mehr zu tun. Die Fort­setzung ließ nicht lange auf sich warten: Vor einigen Monaten sei ihnen bei der Party spät am Abend der Whisky ausgegangen ...

   Ich war überrascht, dass er nun offenbar eine Sto­ry liefern wollte. Hätte jetzt gar keinen Bock auf ei­nen Whisky!, ließ ich ihn wissen. So ein scharfes Zeug. 

   Gewöhnlich habe man sich in so einem Fall etwas anliefern lassen. Ausgerechnet damals versteifte sich die ganze Schar darauf, beim Nachbarn vorzusprechen, diesen am besten samt seinen Vorräten gleich mitzubringen. Das bedeutete natürlich nicht etwa nur, mal nebenan zu klopfen! Sie hätten sich seinerzeit am See aufgehalten und waren sich natürlich bewusst, dass der nächste Landlord erst ein paar Hektar entfernt zu finden sein würde – seien sich jedoch gewiss gewesen, dass dieser sich in seiner zwar erholsamen, doch immerhin Einsamkeit über ihren Besuch mächtig freuen würde ... Etliche hundert Meter am Ufer entlang – eben dieses Plätschern, wie hier ... 

   Nicht, dass es mir wichtig gewesen wäre. Ich meldete Karl trotzdem meinen Zweifel an, dass die akustische Vernehmbarkeit des Wassers am Ufer eines Sees so klinge wie das starke Murmeln des Baches hier.

   Er nahm seinen Faden wieder auf: Das muss irgendwer machen, habe die Clique keine Ruhe gegeben. Karl, wie wäre es mit dir? Doch er müsse es in dieser Dunkelheit nicht ganz alleine machen ... Selbst wenn man vorher telefonierte, hätten alle hinterhältig beteuert, könne man höchstens auf Schleichwegen von der Seeseite kommen. Denn einen Schritt auf die Terrasse würde man hier von gut bewaffneten Nach­barn in Zeiten einer kriminellisierten Neidhammelgesellschaft gerade noch erwarten können. Man könne ja per Telefon Klopfzeichen vereinbaren, ein Losungswort auch ...  Die Verschwörung sei in vollem Gange gewesen. Er habe das natürlich nicht übersehen. Gelegentlich sei es eben besonders reizvoll, beteuerte er und wendete sich dabei mir zu, mitzuspielen und sich in Situationen schieben, ziehen, hineinmanövrieren zu lassen ...      

   Mir kam es vor, als wollte er mir damit einen Rat erteilen. Ich murmelte nur ein Jaja. 

   Also los, zu Fuß, und irgendwer musste mit, aber wer nur? Na klar, Grit, sozusagen eine Amazone – eine moderate Amazone, habe einer hinterhältig ergänzt ...

   Grit, das ist doch diese Penunzenprinzessin, die gelegentlich in unseren Klatschspalten auftauchte, erinnerte ich mich. Ich wendete mich wieder der Berg­welt zu: Umherblicken; den Lauten folgen; deren Ursache oder Urheber zu erspähen suchen; Klangfarben ausmachen. Da, ein Krächzen. Den Kopf in die Richtung gerissen. Au! ... Als ich darauf wieder mit dem Stich im Nacken ganz bei Karls Erzählung war, schritt der mit seiner Begleitung durchs Dunkel der Nacht. Ich hörte ihn darstellen, seiner sozusagen trockenen Art auch dabei getreu, dass es bei dieser Unternehmung tatsächlich wie aus einer Gebrauchsanleitung für Liebesnächte romantisch gesinnter Ge­müter gewesen sei. Eine föhnig laue Mondnacht habe alles verzaubert. Rechter Hand, malte er aus, rollten unermüdlich kleine, schaumbekrönte Wellen auf der Kiesbank aus. Ihre schlichte Melodie mischte die Nacht ins tiefe Rauschen der alten Baumkronen zur Linken. Er wollte das Mädchen an seiner Seite flüstern und Worte hauchen gehört haben und die lieblichste Stimmlage aufbieten, bis hin gar zu einem katzenhaften Schnurren ...

   Karl bremste seinen Erguss. Er schien diese anrührende Aktion nur in Gedanken weiterlaufen lassen zu wollen. Ich war es eigentlich zufrieden. Er erhob sich, machte sich auf den Weg, merkte nur noch an, dass er mir ein andermal weitererzählen würde.

   Unser steiniger Weg führte steil nach oben. In Ge­danken ging ich zunächst etwas seinem romantischen Nacht­werk nach. Dann überkam es mich, dass ich da ja bei unserer Rast eigentlich meine Schuhe hätte ausziehen können. Die Füße unters kühle Wasser halten! ... Am liebsten hätte ich aufgeschrien bei dem Gedanken. Wagte gar nicht mehr, mir die Wonne auszumalen. Plötzlich waren mir die Beine wieder so vorhanden. Um meine Marter zu überspielen, wollte ich Karl was vormachen. Wollte seine literarische Einlage vom Halt beim Bachgeplätscher ausweiten: Naturlob!, japste ich zunächst nur und ergänzte: grüne Mat­ten, satte – oder so. Steinsaat. Luftfrisch ... Der Dampf war mir weg, fühlte ich deutlich. Ich hielt den Mund.

   Klar doch, Bergkamerad, das ist ja so!, bemerkte Karl – spöttisch, wie mir scheinen wollte. Er war auch gleich wieder weg und ich mit Abstand hinterher. 

   Diese pappige Zunge allmählich. Schon wieder dieser Durst. Ich verordnete mir: Jetzt nicht trinken; immer gleichmäßig durch die Nase atmen. Schont die Mundschleimhaut vor Austrocknung! 

   Knirschen der Tritte auf steilem, steinigem Pfad ... Es schreitet sich vielleicht leichter bei so was im Kopf. Überall nahm der Stein überhand, hier oben. Zunächst noch grün schattiert, mit Moos und Flechten angepolstert. Nach oben zu immer blanker und grau getönt.

   Ein langanhaltendes Dröhnen irgendwo. Das vielfach gebrochene Echo. Ein talwärts stürzender Brocken. Ein größeres Exemplar, wenigstens dem Gepolter nach. Das entsetzlich tiefe Hinab hier immer. Diese Beklommenheit nun. Die Vorstellung von Losgelöstsein und Fallen. Bodenlosem Sturz. Der kleinste Fehltritt. – Mensch, Fehltritt! Da war es wieder. Meine kriminelle Wallung! Denn warum sollte denn ich hier abgehen? Nein, nicht ich! In Karls Nähe kommen. Ein kleiner Schubs genügte ja. Ihn vielleicht nicht mal berühren. Sondern nur erschrecken. Dass er stolpert – und runter geht's mit ihm ... 

   Auch wenn ich es noch eine Weile durchspielte. Es mir sozusagen wie einen Krimi abspulte. Nachdem ich mich einige Zeit damit beschäftigt hatte, fand ich diesen Schurken für mich, den Halunken, den Meuchelmörder doch auch irgendwie reizvoll. Ja, richtig wohltuend unspießerlich, einen auf Verbrecher zu machen. So wollte ich den Absturz dieses in diesen Augenblicken sozusagen entkarlten Subjekts da vor mir auch weiterhin nicht ausschließen. War sogar irgendwie beglückt darüber, erkannt zu haben, dass man als Erfolg anstrebender Täter sein Opfer erst zum Gegenstand entpersönlichen müsse.

   Ein Schrei von ganz weit her! Ein Unglück? Das Echo. Jemand abgestürzt? Passte ja zu meiner etwas abseitigen Lust eben. Vielleicht ist es Karl! Jetzt noch so ein ... Es klang jedoch eher fidel. Von weit oben. Wurde etliche Male wiederholt. Klar, es sind älplerische Jubelklänge! Da freut sich einer. Jodeln. Der hat es vielleicht auf den Berg geschafft. Mit den Augen dem Klang gefolgt. Von da oben war es gekom­men. War das eine Aussicht, da zum Himmel hinauf! Firmament!, überkam mich. Dieses Wort formte sich zum Begriff und packte mich und führte mich zu je­ner farblosen Unendlichkeit über dem sichtbaren Blau. Zu diesem Himmel der Prediger. Für einen Augenblick nur, doch immerhin. Ich wollte mich heute doch lieber mit dem strahlend blauen Himmel begnügen. Warum auch der Sprung darüber hinweg? Da tut es schon ein Gipfelkreuz, weiter muss man nicht. Mit den Augen über die Höhen geflogen. Nirgends war eines auszuma­chen. Da tollte es mich plötzlich an: Wenn da Bergfreunde mit Migrationshintergrund auch mal einen Halbmond hinaufpflanzten! Ich erschrak über mich selber. Floh diesem Flop geradezu – was immerhin meine Schritte beschleunigte. Dazwischen funkte es immer wieder herein. Mit so etwas die berüchtigte Luft­hoheit über den Stammtischen zu erringen, kam mir. Irre. Doch beflügelnd.

Auch der Gedanke, in besagter Runde bei einem Bier zu sitzen. Ich wollte hier wenigstens Rast einlegen: Sitzen, was trinken, was essen. Wenn ich mich jetzt aber setzte, mein Einwand, dann quellen mir die Pfoten. Weiter. Ich kramte im Gehen doch eine Büchse Bier aus dem Rucksack, riss sie auf. Alles im Gehen. Aus Bange vor Ballonfüßen. Leerte die Dose auf einen Zug. Diese Wohltat! Den dünnwandigen Hohlkörper mit Wut und Wonne zerknüllt. Gut tat es, die Kraft in den aufgequollenen Händen zu fühlen. Das Blechknäuel wollte ich eigentlich den Berg hinunter schleudern. – Wenn ich schon von Karl lasse ..., wollte es sich wieder einschleichen. Ich habe es aber verscheucht und auch das Blech im Rucksack verschwinden lassen. Anständig bleiben!, philisterte ich mir vor.

   Beharrlich voran. Vor mich hin auf den Weg geglotzt. Erst nach einiger Zeit flüchtig aufgeblickt: Im Lichte der sinkenden Sonne ... – widerfuhr mir sofort. Vielleicht ist ein Gedicht in mir, das raus will, witzelte ich mir. Probierte es abzuwürgen. Schaute eine Weile in die Gegend. Ließ mich dann doch noch auf einen zweiten Anlauf mit dieser Zeile vorhin ein: Im sanften Strahl der sinkenden Sonne ... Ich sah umher und entdeckte dabei Karl. Er saß auf einem Felsbrocken. Wird doch nicht etwa Anwandlung bekommen und auf mich gewartet haben? Da rutschte mir der Vers heraus: Im sanften Schimmer sinkender Sonne sitzt Karl auf einem Stein.

   Ich solle mir meinen Geschmack besser nicht mit altdeutschem Kitsch verhunzen, ermahnte mich Karl. Er hatte dazu mit einem Anflug von Freundlichkeit gegrinst. Fügte aus dieser Grimasse heraus an: Verderbe dir, Freund, feinen Geschmack nicht an süßlichem Seim.

   Ich klatschte Beifall und bescheinigte ihm, damit recht zu haben. Denn ein jeglicher Schwulst, schwang ich mich auf, sei allemal nur Schlagrahm auf einem ordinären Wortschwall. Dabei ging mein Blick den Berg hinauf. Ich zuckte richtig zusammen und hob mit einem zwar nur kleinen, dennoch Freudensprung ab und schrie: Du lieber Himmel! Endlich diese verdammte Hütte, dieses Bretterbuden-Bergherberge-Ziel!

   An Karl vorbei. Dann noch die paar hundert Meter. Beinahe leichtfüßig, vom Trost getragen.

   Schuhe runter. Diese Wohltat. Einen Eimer. Die Füße ins Wasser. Wonne! 

   Ich saß lange da und habe sinnlich doof vor mich oder sonst wohin geglotzt. Am Ende kippte ich mir das Wasser über den Kopf.

   In der Hütte dann waren schon Leute. Scharen strömten noch herein. 

   Über meiner Suppe wurde es draußen dunkel. Drinnen Wärme. Geborgenheit. Die Stimmen vermischten sich mir allmählich zu einem wabernden Durcheinander. Tuchfühlung. Die Luft bald zum Schneiden. Geborgenheit. Das Brot. Der Speck. Ein Bier und noch eins. Aufgeräumtsein. Und die Füße waren weg. 

   Da hinein schwappte der Hüttenzauber: Der Wirt blies Mundharmonika (den einer als Fotzhobel bezeichnete), jemand füllte mit Gesang auf. Sofort stimmten noch ein paar ein und der Funke sprang schnell über und bald war der ganze Raum in Laune: Bergfreiheit, Kameradschaft, Liebe der Heimat, Treue der Maid, ... vorgesterte es sich lautstark. Ich bemühte mich, nach jedem Bissen meinen Beitrag dazu zu leisten. Dann wurde auch der Schütze Jennerwein gesanglich wieder gemeuchelt, vom feigen Jäger und gemeinerweise von hinten her ... Weit in die Nacht hinein ging es. Selbst Karl summte an einigen Stellen mit. Ich hing doch bald dumpf über meinem Bierkrug. Aus meinem Dunst heraus versuchte ich trotzdem beim zweiten Mord am Schützen, mit meinen Hervorbringungen wieder den Chor zu erreichen. Der war mir allerdings immer ein bisschen voraus. Das bekam ich doch noch mit, konnte jedoch nicht taktfassen. Habe es schließlich sein lassen. Eitel Eintracht. Bis die Gesangesbrüder und -schwestern er­mattet waren und ihre Mühe hatten und allmählich einer nach dem anderen abtauchten. Der Raum leerte sich. Ich sagte mir, dass ich eigentlich auch auf die Matratze sollte. Doch ich fühlte, dass ich zum Schlafen von der Anstrengung her zu aufgezogen war. Es würde nur zum Dösen reichen. Da zeigten sich einige jüngere Wanderfreunde noch unermüdlich. Stellten die alte gesanggefasste Behauptung auf, dass das Zigeunerleben so lustig sei. Einer tauschte dann beim zwei­ten Ansatz dazu das Zigeunerdasein gegen ein job-loses Leben und dass man da der Steuer kein Geld zu geben brauche. Er trat damit allerdings sofort einen Wort­wechsel los. Als habe Karl Sorge, ich könnte dazu meinen Beitrag leisten wollen, erteilte er mir den Auftrag, Speise, Trank und Unterkunft zu bezahlen. Sein Zimmer, meinen Platz auf dem Matratzenlager. Ich befolgte seine Weisung wortlos und rappelte mich auf. Ich stand wie auf Schwämmen. Wollte mich wieder auf die Bank fallen lassen. Doch durchgestanden! Ein paar Sekunden, bis es sich ausgependelt hatte. 

   Als ich dann wieder zurück war und mich schwer schnaufend auf die Bank hatte sinken lassen, hörte ich Karl reden. Eigenartig, so wie vor sich hin. Schenkte dem erst keine Aufmerksamkeit. Fetzen des Disputs schwappten noch von der andren Ecke herüber und überdeckten immer wieder Karls Aussendung – wenn es denn überhaupt eine solche war und nicht nur ein Selbstgespräch. Allerdings tauchte da ein mir be­reits bekannter Name auf. Grit. Ich ahnte, dass er mit seiner Girly-Geschichte weitermachte. Dann wurde Karl doch vernehmlicher: Diese Grit habe doch einen geschlagenen Monat lang versucht, bei ihm zu landen.

   Ich echote: Landen!. Ich wollte es mit Humor nehmen: Grit sei ja eine Goldfee und als eine solche lande sie nicht, sondern schwebe heran. Ich behielt es jedoch für mich und ließ ihn an seinem Text: In ihren Aktivitäten soll sie nicht engspurig gewesen sein, hörte ich. Ich konnte erfahren, dass Grit alle Register weiblicher Werbetechnik gezogen hatte, von einer die Figur unterstreichenden Garderobe bis hin zu nachgerade ausgebufften Mitteln – die ihm, Karl, jedoch seine Kavalierspflicht zu verschweigen gebiete –, bevor sie, besagte Grit, zur Attacke für das letzte Gefecht angesetzt hatte.

   Karl beteuerte, dass auf diese Weise und in dieser Situation selbst das simple Wort zu so einer Liebesbeschwörung gedeihe, der man als Mann auszuweichen, wenn auch mitunter Willens, so doch nicht so leicht in der Lage sei.

   Er nippte noch einmal an seiner schalen Neige.

   Mensch, Karl!, dachte ich mir, wann machst du Sendeschluss? Der Schädel war mir so schwer. Stützte ihn auf beide Hände.

   Dann wollte mir Karl weismachen, zu dieser Grit trotz allem nur höflich gewesen zu sein.

   Ich raffte mich noch einmal auf, um mich Karl zuzuwenden und ihn fragend anzuschauen und bei mir etwas Unwirsches wenigstens in die Miene zu kriegen.

   Er ließ sich davon nicht beeindrucken. War gleich bei dem Punkt, an dem seine meinetwegen schöne und of­fenbar verknallte Begleiterin in ihrem Bedürfnis nach Hautkontakt seine Hand suchte.

   Mit Hänsel und Gretel im finsteren Walde, habe ich mich auf Heiterkeit versucht. Doch auch das zog bei ihm nicht. 

   Als Grit wegen eines Geräusches, das aus dem Dun­kel der Bäume gekommen sei, heftig erschrak, habe sie sich an ihn gedrückt und umschlungen. Er wollte sie nur in einer väter- oder brüderlichen Art beruhigt haben. Er gab vor, nach einer Weile Streichelns dar­auf gedrungen zu haben zu versuchen, das vereinbar­te Ziel zu erreichen. Nämlich der Pflicht genügend. Selbst wenn es sich lediglich um Whisky handelte und eine Party.

   Karl leerte sein Glas mit dieser nun schon urinig aussehenden Flüssigkeit und bekräftigte, dass er tatsächlich sogar in dieser doch zugegeben eher gemütsbefrachteten Situation den Begriff Pflicht verwendete. Er hielt drauf einen Augenblick den Mund.    

   Prima, dann werden wir uns wohl endlich aufs Ohr hauen.

Als ich ihn dann anschaute, fiel mir allerdings auf, dass er so ein eigenartiges Schmunzeln draufhatte. Da kommt noch was! Ich wollte trotzdem vorschlagen aufzubrechen. Da war er auch wieder auf Ansage – und hat immer noch dieses heitere Gesicht: Als er mit Grit und dem Whisky wieder durch die Landschaft zog und das Wasser nun links seine Geräusche machte und die Bäume logischerweise rechts rauschten. Da musste es Grit plötzlich sehr heiß geworden sein. Sie habe sich flugs enthüllt und sei nackt wie Eva im Pa­ra­dies vor ihm gestanden und himmelte ihn mit großen Nachtaugen in seine Verwunderung hinein an und sei dann weg und in den See hinein gelaufen. Wozu Letzterem er, Karl, als guter Nicht-Spielverderber eilig nachzuahmen gezwungen gewesen sei. Ein paar tolle Delfin-Schmetterer und auf sie zu, mit ihr dann herumgeplantscht und gelacht und getobt und sich gehascht und gefasst und am Ende in Nähe des Ufers, noch ganz außer Atem, gleichwohl von Tollheit getragen, getrieben, aufgeheizt ... – Ob ich schon mal im Wasser ..., stehend? – Wunderbar! Allein mit wunderbar nicht annähernd treffend zu umschreiben! Sie, vom Wasser getragen, leicht wie eine Feder und gelenkig wie eine malaiische Tempeltänzerin  ... Unsre heiße Laune – bis zum Hals im kühlen Nass ... und Grits Schenkel um meine Hüften geschlungen ..., hat sich Karl – in meinen Augen für seine Verhältnisse überraschend heftig – in diesen Erinnerungsschemen fallen lassen ...

   O Mann!, jammerte ich in mich hinein. Die Füße waren mir wieder da. Ich führte das leere Glas müde zum Mund, so nur als Geste oder Ritual der Verlegenheit oder sonst was – und hoffte, dass mit dieser Rumschleimerei da im Wasser nun alles sein Bewenden habe. Ein Wenn-sie-nicht-gestorben-Sind wollte ich ihm eigentlich als Finale bieten.

   Ich werde Grit in ein paar Wochen heiraten!, ertönte es neben mir. So was von trocken war das rü­bergekommen! Mensch, dieser stressige Tag, diese üppige Story, diese dürre Anzeige. Es verwirbelte sich alles in meinem Kopf. Drüber kreiste die Frage, warum er gerade mir das alles zumutete? Das setzte mir wohl den Schlusspunkt. Ich musste richtig wegtaucht sein. Vermutlich schleppte mich Karl zum Ma­tratzenlager und ließ mich in der Dunkelheit dort ir­gendwo fallen – oder hat ... lassen. Bevor er sich auf sein Zimmer begab.

   Rumpeln, Umherhuschen ..., mein Brummkopf ... Noch stockdunkel – es musste jedoch Morgen sein. Also hervor unter der Decke und angerüstet ... bei jedem Auftreten ... Rucksack geschultert, Aufbruch. Die ersten hundert Meter waren die Schritte auszubalancieren. Die Steine auf dem Weg. Immer wieder ein Umknicken. Dann das Reißen ums Gerippe. Ich war obendrein in Gesellschaft eines Typen, der gestern zu später Stunde mit seiner Liebes-Vita sozusagen vor meinen Augen abgestürzt war. Über einen großen Felsbrocken führte der Weg jetzt. Oben kurz angehalten. Du lieber Himmel! Karl und seine Wonneaktion. Der Kerl besteigt doch alles! Demnächst erklimmt er auch einen Monetenberg beträchtlicher Höhe ... 

   Beim Abstieg begann es zu schieben. Das brachte mich zunächst von Karl ab. Andere Muskelpartien waren heute dran. Eine eindringliche Lektion in Anatomie ... Trotzdem schrillte mir Karls bizarre Romanze immer wieder auf. Gewissermaßen als grelle Zwischenmusik. 

   In dieses Konzert hinein dröhnte hinter mir ein Paukenschlag: Du kommst zu meiner Hochzeit! Mit einem Nichtwahr?, das er nachschob ein wenig abgedämpft, aber immerhin.

   Ich war baff. Vermutlich habe ich nur etwas irgendwie bejahend Klingendes gemurmelt. Ich unter diesen gefirnissten Leuten! Wie sich kleiden, wie überhaupt auftreten – und ein Präsent? In diesen Wirrwarr von Verlegenheiten setzte Karl die Weisung: Dass er davon ausgehe, dass über sein Happening in meiner Zeitung eine ganze Seite zu sehen sein werde. Er behielte sich selbstredend das Plazet vor.     

   Noch beschäftigte mich zwar auch meine bedrängte Körperlichkeit. Allerdings wurden meine Kopftöne immer harmonischer. Denn ich entdeckte das Labsal, gefragt zu sein. Spielte mir da sogar hinein, dass sich die ganze Plackerei hier gelohnt haben könnte. Es gehe Karl doch nicht etwa nur um ein einfaches öffentliches Aufsehen, war ich mir gewiss. Freund Karl hat mehr vor – wie stets. Nun sogar mit mir. Bei diesem Einfluss dieser Großinserenten und dieser Anteilseigner, mit denen er verbunden sein wird ...

   Nachdem ich mich bis ins allmählich wieder richtig üppig werdende Allgäuer Grün über die Umstände meiner Wanderung und mich selber ausreichend gewundert hatte, sickerte mir etwas mit aller Deutlichkeit ins Bewusstsein: War ich auch beim Aufstieg Karl zugegebenermaßen etwas nachgestanden, so durfte ich mich jetzt wohl, wenn auch nicht gerade oben-, so doch ebenauf fühlen. Diese Erkenntnis wurde von mir sofort noch damit umrahmt, dass ich gewiss auch ein paar Pfunde von meiner Körperfülle hatte abtragen können. So war ich mir sicher, dass mein Le­ben in jeder Hinsicht bald leichter sein würde. 

   Wo ist eigentlich ein Gipfelkreuz?, überkam es mich am Ende noch einmal. Es durchrieselte mich angenehm: In gewissen Lagen des Lebens könnte man ja dem Himmel dankbar sein.

Den Blick nach oben, suchend, schritt ich aus – bis ich mit dem Fuß an einen Stein stieß, strauchelte und beinahe ..."

 

   Es ist jetzt Nacht geworden über deinen Notizen. Diese Anstrengung. Du holst dir was zum Essen. Willst es fast sozusagen hochstilisieren als Gipfelschmaus: Bergheil sagt man da und setzt sich und futtert was. Dieses schwere Ich hast du da mitge­schleppt, kommt es dir nun vor ... Aber weg davon, mache den Abstieg alleine!

   Du hattest ja am Ende dieser Tour damals nur noch den Gedanken gehabt, die Sache mit den Nackedeifotos abzuschließen. Indem du von dieser Hoch­zeit berichten würdest. Das war bei dir sofort da, dass du daraus was manchen würdest. Im Endeffekt würde dadurch diese Erzählung von Karl einen gutbürgerlichen Schlusspunkt erhalten, war dir eingefallen. Mit Pläneschmieden hattest du dich damals über deine Schmerzen an deinem Fahrgestell hinweg einigermaßen bei Laune gehalten. Den Parkplatz bereits im Blickfeld, ließ dich den Vorsatz festzurren, dass dein Bericht durchaus angemessen sein sollte, nämlich üppig, dabei vollkommen bürgerlich anständig, und zwar mit jeglichem Verzicht auf jedweden bissigen gesellschaftskritischen Seitenhieb. Karls Hochzeit sollte stark herauskommen. – Und ist es dann freilich auch. – Du könntest sogar versuchen, diesen Vorgang zum Er­eignis des Jahres hochzustilisieren. Du wärst das dem ehemaligen Schulkameraden geradezu schuldig, klar, Ehrensache. Andererseits kämst du damit auch diesen Kreisen und letztendlich der darauf gie­rigen Öffentlichkeit entgegen. Obendrein hättest du dich mit einer noblen Geste aus diesem Fall verabschiedet – damit ja gleichfalls von diesem Kerl, der immerhin einmal Charly und Charles gewesen war. Und schier ein Halbgott. 

   Im Übrigen hattest du auch durchaus glauben dürfen, dass nach dir gefragt werden würde, wenn du das mit dem gesellschaftlichen Ereignis um Karls Hochzeit als Rakete zustande brächtest. Dass du damit etwas Wesentliches für dich selber getan hättest und du fürderhin in solchen Angelegenheiten gefragt sein könntest, von wem auch immer! Wie Recht hast du gehabt, sagst du dir jetzt – und nimmst einen kräftigen Schluck ...

 

 

 

 

 

Schau den Tatsachen ins Auge, sonst gehst du dir selber auf den Leim

 

   Ein paar Tage hast du die Schreiberei sein lassen. Du hast dich ausgeruht in der Vorstellung, dass die­ses Schreiben ein Ordnungmachen ist. Auch wenn dir immer der letzte Durchblick fehlt. Wer hat den aber schon, bevor eine Sache ganz zu Ende ist? Was wiederum einer selber nicht erleben kann – wie du es dir bereits ausgedacht hattest, nämlich als den Kalauer des Lebens: dass ja keiner sein Ende erlebt.

   Du bist für diese Weile zur anderen Seite gewech­selt und liest. Frischs 'Stiller' in der Hand. Du liegst auf dem Bett. Das Buch sinkt dir immer wieder herab ...

   Dann musst du wohl richtig eingeschlafen sein. Wenigstens für ein paar Minuten.       

  Von der Türklingel bist du wach geworden.

   Du nimmst den 'Stiller' und legst ihn zur Seite – ach ja, diese Stelle, wo im Postskriptum notiert wird: 'Ich habe keine Sprache für die Wirklichkeit ...', erinnerst du. Anatol Stiller hätte es auch nicht in deinem Job geschafft, denkst du noch, während du dich in Richtung Tür aufmachst. Du hast ja selber keinen Ton für ein Publikum, haust du dir um die Ohren.

   Du schlurfst verpennt und in deinem lappigen Pyjama zum Eingang.

   Wer denn hat eine Sprache für die Wirklichkeit, die im Grunde unaussprechliche?

   Du passierst den großen Spiegel. Da klingelt es noch mal. Dir ist es egal.

   Das Badezimmer mit dem Thron drin hast du die letzte Zeit nur noch aufgesucht, um etwas abzuschlagen. Die Mutter – wo kommt die jetzt in deinen Kopf? Zum Kotzen musst du aussehen. Ach, Junge, hätte die Mutter gesagt, wie siehst du denn aus? Ach Junge!

   Durch den Spion entdeckst du eine Uniform. Sei wachsam, hast du dir die letzten Tage dauernd gesagt. Dein Schiss. Weil dich die Gangster linken könnten, verkleidet und sonst irgendwie. Du nimmst trotzdem die Kette weg und machst auf, und der Mensch starrt dich an, von oben bis unten, fährt mit seinen Blicken ein paar Mal an dir rauf und runter.

   Du nimmst die Hände vorne zusammen wie ein Kicker beim Strafstoß. Und versuchst einen zornigen Ausdruck ins Gesicht zu kriegen. Abwehr geht dir durch den Kopf: Ein Würstchen dir gegenüber, siehst du auf den ersten Blick. Auch von Statur. Du wirst dich wehren. Den haust du glatt über den Hau­fen, wenn es einer von den Banditen ist. In der Presse dann: Journalist schlägt Gangster nieder.

   Während du dich noch deinen Blödheiten hingibst, wedelt der Mensch ungeduldig mit einer Post. Einschreiben, sagt er barsch.

   Du greifst danach.

   Der Kerl zieht jedoch den Wisch weg, dass du ins Leere greifst.

   Das stinkt dir. Du müsstest erst ein Autogramm geben, fordert er.

   Er hält dir den Stift mit einer gnädigen Geste hin und schaut dabei irgendwie wissend drein.

   Das stinkt dir noch mehr als das vorhin. So einem steht so eine Nummer nicht zu, regst du dich auf. Behältst es aber für dich. Strafst ihn nur mit Blicken. Man muss über den Dingen stehen, sagst du dir, während du deinen Namen hinkritzelst. Ein uniformierter Beamtentyp, denkst du, gleich zwei Charaktermängel. Er hat so eine Bewegung gemacht, als wolle er den Stift abwischen, bevor er ihn wieder wegsteckte. Du trittst grußlos den Rückzug an und knallst das Loch hinter dir mit dem Fuß zu.

   Musst du verpupt aussehen. Vielleicht war es das? Wieder am Spiegel vorbei, ohne hineinzuschauen.

   Drinnen erst liest du: Personalabteilung. Das schockt. Personalabteilung. Das geht dir durch und durch. Du bist wie angewurzelt stehen geblieben. Personalabteilung! Deswegen dieser Blick von dem. Personalabteilung! Dieser Absender! Das kann ja eigentlich nur eines heißen!

   Es krampft richtig in der Brust. Die vielen Zigaretten immer. Du denkst bereits wieder dran, dir eine anzustecken. Jetzt in dem Stress. Du bist am Tisch stehen geblieben. Und weißt nicht genau. Nur Personal ... Nicht etwa Betriebsleitung. Bist du denn nur Personal? In deiner Position muss es Betriebsleitung heißen, wenn es denn so sein sollte, wie du befürchtest. Nämlich dein Aus.

   Du bist zu feige zum Aufmachen.

   Das Kuvert auf den Tisch. Du hast den Wisch nur mit zwei Fingern angefasst. Du weißt erst nicht genau warum. Da fällt dir Briefbombe ein. Sofort stürzt du dich auf diesen Einfall: Weiß man es? Wenn sie dich beseitigen wollen, samt deinem Wis­sen um die Vorgänge da bei Karls Brand. Dann gehen sie freilich in die Totale. Wie du sie jetzt einschätzt mit ihren Verbrechern, die sie auf dich gehetzt haben. Wenn du überflüssig bist für sie, bist du eben Abfall für sie. Die entsorgen dich nach Belieben ...

   Du hast jetzt doch nach dem Messer gegriffen. Zum Aufschlitzen. Du siehst auf die Schneide – und auf deine Pulsadern ... Aber du lässt es sein – und auch diesen überraschenden Gedanken. Du legst das Messer weg. Du legst das Kuvert mitten auf den Tisch. Ganz herausfordernd gegenwärtig. Um dich selber für deine Feigheit zu strafen. Nicht aufgemacht zu haben – und sonst was. 

   Diesem Briefausträger – und dem anderen beamteten Pack im Staatsfilz – könnte das nicht passieren. Rausschmiss. Der größten Flasche nicht.

   Du hättest ja den Postboten fragen können. Er hätte es dir sagen können, was er da expediert hat. Ein Postbote reibt den Brief ein paar Mal zwischen Daumen und Zeigefinger und weiß dann, was da drinnen steht, bist du überzeugt.

    Du gehst aufgeregt in deiner Bude auf und ab. Laberst laut vor dich hin.

Der täuscht sich gewaltig, wenn er glaubt, er wüsste es. Da kann er noch so schlau dreinschauen. Nicht mit dir! In deiner Position. Wenn schon Raus­schmiss, dann Rausschmiss erster Klasse und gefälligst vom Chefbüro und gefälligst mit Handschlag und was drin in der Hand! Du hast ein Recht auf den Tritt ins Hinterteil mit einem gewichsten Stie­fel.

   Eine Zigarette. Du bist wieder etwas ruhiger geworden. 

   Ist es denn wirklich so, fragst du dich unvorsichtigerweise.

Gleich drauf kommt dir der 'Stiller' wieder mit seinem Problem der Selbstverlorenheit. Ist das denn deine Wirklichkeit?

   Man weiß es nie so richtig. Jedenfalls hast du dir jetzt mit der Frage nach der Wirklichkeit selber Respekt eingeflößt. Dummerweise vor der Erbarmungslosigkeit des Ungewissen. Du lachst laut. Du musst dich ablenken. Du schaust umher – und du wunderst dich, dass ein so leeres Zimmer so unaufgeräumt sein kann. Dann musst du irgendwann ein­genickt sein. Du hast auch wieder geträumt, erinnerst du jetzt: Du wolltest einen auf Vogel machen. Du wolltest immerfort fliegen. Da waren auch Zuschauer. Aber du konntest die Gesichter nicht erkennen. Du gabst dir alle Mühe zu fliegen. Hättest auch gerne die Gesichter gesehen. Das waren jedoch lauter visagelose Gestalten, die dich da sogar in deinen Bemühungen ermutigen wollten. Dann bist du wirklich geflogen! Wie ein Vogel. Mit nackten Armen. Auch kamst du ein ganzes Stückchen nach oben. Die Leute waren jetzt weit unter dir. Du hast es immer wieder unternommen. Und zwar unter dem Zuruf der Leute. Die da auch aus ihrer Mundlosigkeit zu dir Laute ausstießen. – Dieses Sprechen ohne Mund, vielleicht war es das ...

   Da liegt der Brief noch immer! Wenn vielleicht auch keine Briefbombe, so doch jedenfalls eine Zeitbombe. Die längst hochgegangen ist. Ganz absurd in der Allmählichkeit einer Zeitlupe.

   Dieser Papierfleck hat sich nach der kurzen Zeit bereits hier richtig eingenistet. Hier in deinem Loch – oder überhaupt in deinem Hirn. Er wertet sich je­denfalls mit jedem Blick auf, den du draufwirfst: Das Ding hat sich längst mit dem Staub auf dem Tisch verbündet, dehnt sich aus, überzieht alles, quillt auf in deinem Bewusstsein.  

   Als du wieder hinsiehst, hat sich die Tischplatte mit dem Graupapier und dem Staubschleier verbündet. Alles gegen dich! Da beginnt es sich zu dre­hen in deinem Kopf und zu mischen – und mischt dich auf.

   Und steht wieder still.

   Du greifst dir an den Kopf. So etwas Verrücktes. Als du wieder einen Blick darauf wagst, entsteht gleich so etwas wie Harmonie vor deinen Augen. Schier ein Stillleben wird daraus. So ein Zusammenklang. Ein Vanitasbild, hat man gelernt – ja klar: Kult der Vergänglichkeit, Kult der Vergeblichkeit ...

   Nun muss auch der Rest zu Papier. Die ganze Sache da mit diesem Bastard von Mentenheim. Bevor du draufgehst. Wenn sie wieder Typen schicken, die dich vielleicht doch allemachen sollen. Oder wenn du vor dem Finale für dich noch mehr Schiss kriegst. Lauter solche Gedanken kommen, hier in deinem Alleinsein. Wo du mit deinen Verrücktheiten haust. Diesen quirligen Stallgefährten.

   Man soll das finden, wenn der Kratzfuß gemacht ist. Man soll sich seinen Reim darauf machen, auf das alles, sagst du dir. Man soll die Ermittlungen aufnehmen gegen die Verbrecher da ...

   Aber erst etwas futtern, vielleicht kommen solche Gedanken auch vom leeren Magen. Tische dir doch endlich deine paar Tröstlichkeiten auf! Die dich wieder zurückholen ...

   "Man ist ja schließlich wer:

   Nach all dem Zauber da auf der Hütte hoch droben, nach der ganzen Plackerei um Aufstieg und Abstieg, ist nicht daran zu denken gewesen, so etwas wie einen Kontakt zu Karl aufrechtzuerhalten. Du hast bei dir nicht einmal den Bedarf ausmachen können, zu Karl eine lose Verbindung aufzunehmen. Nicht nach diesem von ihm in der Berghütte vollzogenen Outing. Karl hatte jedenfalls selber das schöne Bild von sich durch diese unsägliche Ausbreitung seiner Liebesgeschichte zerstört. Eine Vorstellung im Übrigen, diese Sache da mit dem Bild von sich, die dich freilich hie und da auch wieder in eine Frage verwickelt hat: Zeichnet Karl denn für sein Bild, das du von ihm hattest, wirklich verantwortlich? (Diesen Konflikt bist du Karl schuldig gewesen, besonders in Anbetracht der deine Karriere betreffenden Behilflichkeit von Karl, wovon hier noch die Rede sein wird.) Ob deine Anschauung von Karl nicht auch nur deine eigene Angelegenheit war? Jeder Mensch ist ja sozusagen sein Gestalter, malt sich sozusagen sein Weltbild selber aus, samt der ganzen sich darin befindlichen Menagerie. Er kommt in seinen Abbildungen jedoch selten über ein Hobbyniveau hinaus, hast du dir in einem deiner formulierfreudigen Augenblicke gesagt (einer Berufskrankheit, wenn man so will, mit der man sich nachgerade aufheizen kann und am Ende selber glaubt, was man sich da zusammengebastelt hat). Bisweilen in so etwas wie Gewissensbisse verfallend, hast du dir Vorwürfe gemacht, dass es eventuell nicht so fair sei, jemandes Wesen in einem Abbild zu verdinglichen, das du am Ende natürlich zu benützen, nämlich zu ge- und verbrauchen trachtest.

   Beruflich war es dir allmählich leichter geworden (vermutlich – wie angedeutet – dank Karls Protektion). Zwar hast du mehr aufgebürdet bekommen, sogar Verantwortung (nämlich für die Qualität, sprich Griffigkeit des Stoffs, und dass man in Konflikten rechtlich stets ungeschoren davonkam). Dabei hat es sich um eine für dein, zugegeben, Selbstwertempfinden einigermaßen bedeutende eigene Sparte gehandelt, die sie dir aufgebürdet hatten (da focht es dich dann nicht so sehr an, dass es dabei im Grunde lediglich darauf angekommen ist, platten Gesellschaftsklatsch zu produzieren, respektive zu verbreiten). Du hast nun arbeiten lassen können, und zwar von einem richtigen, zwar kleinen, aber immerhin Stab. An diesem wiederum ist eine ganze Traube von Pflastertretern gehangen und Zuträgern. (Betrieblicherseits hat man diese Quelle der Information gepflegt und hatte eine eigene Kasse sozusagen als Fond für Eventualitäten eingerichtet.) Hervorzuheben, da sie in der Regel kostenlos gearbeitet und nicht selten große Nummern gebracht haben, sind jene Informanten, deren Motive auch einmal im Bereich der schieren Eitelkeit, der Rachsucht oder auch nur der Wichtigtuerei gelegen haben mögen. Du hast sie Idealisten genannt. Alle deine schreibenden Zuarbeiter sind von dir mit Regeln konfrontiert worden, die du dir setzen und selbstredend in deinem Büro gerahmt aus­hängen hast lassen ..."

 

   Du musst einmal sehen, ob du etwas von diesem Gebilde noch erinnern kannst. So etwas mit Satzbau war es, Kommas ... Gehe möglichst .... Es ist ja eigenartig, dass man es, obwohl man es selber verfasst hatte, jetzt gar nicht mehr richtig zusammenbringt. Obendrein hing es – ja ... Menschenskind! ‘Hing’! Ob es da noch hängt, jetzt, wo du nicht mehr dort bist? Ob es dein potenzieller Nachfolger ... deine Vertretung ...

   Schrecklich, diese Gedanken! Du musst dich ablenken!

   Du musst ja hier irgendwo noch einen Schmierzettel davon haben. Irgendwo in einer Schublade hier.

   Das ist die Besonderheit der liederlichen Leute, dass sie nichts wegschmeißen. Dass alles erhalten wird, wo immer es anfällt.

   Du gehst in diesem Vertrauen zu dir und kramst in deinem Wust herum. Doch das ist nichts weiter als ein Herumwühlen. In der Vergangenheit. Diesem Abfallhaufen! Mensch, eine Strumpfhose! In deinem Kram ein solches Requisit? Du und so ein Ding. Du ein Travestit, Fetischist ...

   Was für Sachen sie dir angedichtet hätten, wenn die Polizisten deine Bude gefilzt hätten ... Kann nur von Elsbeth sein, das Ding. Du wunderst dich, dass so etwas zum Vorschein kam.

Dann wunderst du dich, dass Elsbeth überhaupt so etwas hatte – was du an ihr gar nicht erinnern kannst. Wo sie doch Wollenes bevorzugte in ihren ewigen Sandalen.

   Ach ja, Elsbeth, die Gute!

   Hätte Elsbeth dir zugeraten oder hätte sie dir abgeraten, so ein Plakat mit solchen Ergüssen auszuhängen? Sie war Realistin, immerhin. Hätte dich ausgelacht. Bestimmt. Es läuft dir kalt über den Buckel bei dem Gedanken, wie du dann wieder dagestanden hättest, ihr gegenüber. Mit ihrer ganzen Überlegenheit ...

   Hier! Jetzt hast du doch so ein Teil tatsächlich hervorgekramt!

   Ob Elsbeth verstanden hätte, dass dir das ein Instrument war?

   War?

   Ein Werkzeug der Macht, sozusagen:

  " - Gehe möglichst über ein Komma in deinen Sätzen nicht hinaus, geschweige denn, dass du Schachtelsätze baust.

    - Versage dir jeden Anflug von Elaboriertheit und vermeide bereits geschraubte Begriffe wie diesen selbst. Unterlasse es nämlich, deine Bildung herauszukehren.   

    - Verfalle nicht der Verhauptwortung, denn kleingeschriebene Wortarten wirken, in ihrer Unschuld belassen, wesentlich aktiver.

     - Die Konjunk- und Genitive lasse den blaunäsigen, literarischen Schreibern.

      -  Riskiere kleine Lapsus, damit solidarisierst du dich mit der Masse. Selbst den Bildungsbürger befriedigst du, weil dieser sich immer dann überlegen und damit wohlfühlt, wenn er jemandes vermeintlichen Bildungsmangel aufdecken, markieren und zensieren kann.

        - Stilistisch halte dich auf Niveau der Schlagzeile. Es muss dir gelingen, die im Aufmacher angeschlagene Tonart beizubehalten. Nur auf diese Weise kannst du deinen eiligen Diagonalleser auch auf Zeile halten.

         -  Würze die Information gut dosiert mit Klatsch, um Lesefreude zu stiften.

gez. ...

in Vertretung deines Freundes, des Anteilseigners"

 

Ja, man muss sich auch einmal etwas Bizarres gönnen dürfen im platten Alltag!, schäkerst du in dich hinein und schreibst weiter: 

  "Natürlich haben sich die Profis nichts aufdrücken lassen, und die Amateure sind (das hast du dir gleich vor Augen gehalten) damit bestimmt überfordert gewesen.

   Vermutlich ist dieses Unterfangen gelegentlich belächelt, möglicherweise selten ganz gelesen worden. Diese Gebotstafel an der Wand hat allerdings seine Dienste getan, zum Beispiel um den Anfängern die Texte (begründet!) gehörig röten zu können. In einem Fall erhielt dieses Werk quasi die Krönung dadurch, dass es der Personalleitung zur Abwendung der gerichtlich angeordneten Rücknahme einer Kündigung dienen konnte. Sie hatten den Göllner wegen fachlichen Versagens oder so etwas rausgeschmissen. Mit deinem Register konnte die Betriebsleitung immerhin nachweisen, dass fachliche Spezifika als Forderungskatalog stets gegenwärtig waren. (Sie haben jedenfalls bei Gericht im Verfahren, welches der fortgeschickte Göllner angestrengt hatte, darauf zurückgegriffen. Du hast deine Tafel allerdings vom Chef mit der doch immerhin rüden Bemerkung zurückbekommen, deine Schöpfung ruhig wieder auszuhängen, aber nicht etwa fortgesetzt solchen Schwachsinn zu produzieren, der einen ganzen Gerichtssaal wieder in Hohngelächter ausbrechen lassen würde.)

   Du hattest immerhin das Erbe eines auf Intervention von außen hin zu Fall gekommenen Vorgängers angetreten. Aufgrund dessen und des eben aufgezeichneten, im Grunde ja wohlmeinenden Rates bist du auf Vorsicht getrimmt gewesen. So hat es unter deiner Regie unerbittlich professionell zugehen müssen. Dir hat nichts entgehen dürfen, weder in deinem Laden (was wird wo gehandelt; wer mit wem oder gegen wen; wo wird gerade und mit welchem Mittel gesägt ...). Auch auf deinem außerbetrieblichen, quasi makrokosmischen Beobachtungsterrain hat dir natürlich nichts entgehen dürfen (grundsätzlich unter den Gesichtspunkten, die auch für deinen Mikrokosmos Geltung gehabt haben). Es ist dein Ehrgeiz gewesen, vor Ort führend zu sein – und es auch zu bleiben. Zugegeben, du hast in diesem deinem Geschäft und bei den hohen Ansprüchen in der Sache, die du an dich und deine Mitarbeiter gestellt hast, gelegentlich auch in die Kloake greifen bzw. greifen lassen müssen und hast bei Botschaften nicht gerade auf reine Him­melsgeister als Übermittler setzen dürfen.

   Das ist jetzt Ihr Ressort, hatte der Alte zur Einführung geknurrt. Aber wenn Sie stolpern, Mann, dann kriegen Sie einen Tritt von mir höchst persönlich, und zwar noch bevor Sie wegen ihres Versagens richtig am Boden liegen! Da fallen Sie noch, darauf können Sie Gift nehmen, da spüren Sie schon meinen Stiefel am Hinterteil! Er hatte nach dem verbal getretenen Gesäß ein paar Mal genüsslich an seiner Zigarre gesogen.

   Damit Sie gleich ordentlich wissen, hat er noch eins draufgelegt, woran Sie bei mir sind: Die beiden Sätze habe ich verflucht ernst gemeint. Aber ich habe sie nie gesprochen, wenn mich jemand danach fragen sollte. Und ich schwöre darauf auch vor jedem Gericht jeden Eid, dass das so ist!

   Die Zigarre war ganz breitgekaut, und der braune Sabber hatte dem Alten in den Mundwinkeln geklebt. Du hattest dich dafür insgeheim gerächt: Was gewöhnlich als Mund bezeichnet wird, sieht bei diesem Barbaren aus wie eine vergammelte Kloschüssel.

   So etwas wie deinem Vorgänger würde dir nicht passieren, ist einer deiner geheimen Leitsätze gewesen. Du warst lange genug ein kleines Würstchen, und sie hatten dich in deinen eigenen Senf getunkt, und zwar wann und so tief sie wollten, und sie haben abgebissen von dir, was sie wollten. Nicht nur der große Alte, auch die kleinen und ganz kleinen Alten. Jetzt aber musst du zu einer Kondition auflaufen, hast du dir dauernd gesagt, dass einer wohl seine Schnauze so weit aufreißen muss, dass es ihm den Kiefer aushängt, wenn er wieder beißen will.

    In der neuen Position hast du Aufträge zugeteilt, Themen ausgewählt, im Wesentlichen nur noch Ergebnisse stilisiert (um Begriffe wie das Redigieren und das Rewriting zu vermeiden, unter denen man selber so gelitten hatte). Aber immerhin. Man ist gewichtig in seinem Sessel (dunkles Leder mit hoher Lehne) gesessen, ist nicht mehr so abgehetzt und auch nicht mehr so hin- und hergerissen gewesen – zwischen den Polen seiner lästigen, im Grunde doch stets undefinierbaren Innerlichkeit. Was sind auch seit deinem Karriereschritt die Extreme gewesen? Doch nicht etwa diese kindlichen Gegenfüßler Gut und Böse. Nichts steht still, auch das Werteempfinden der Gesellschaft nicht, hast du dir mit deiner humanistischen Bildung vor Augen halten können (denn auch die Moral hat ihr Verfallsdatum, da kann sie beispielsweise im Schoße der Kirche noch so gut konserviert sein). Zwischen Recht und dessen Verletzung hast du allerdings ab und zu geschickt auspendeln müssen. Ob man das Küsschen-und-Mehr der Prinzessin, das sie einem anderen als dem Ehemann geschenkt hatte, herausposaunen hat dürfen oder nicht. Ob man das liederliche Verhältnis eines Ministers hat publik machen dürfen. Die immer üppiger werdenden Schmiergeldgeschichten bei öffentlichen Bauaufträgen ... Jedoch sind die Grenzen der gesegneten freien Meinungsäußerung bekanntermaßen ziemlich unscharf gezogen – unbeschadet dessen an manchen Stellen vermint. Aber man bekommt mit der Zeit Übung als Grenzgänger. Man gehört vor allem einer Elite an, die dem rechtlichen, moralischen und so weiter Wandlungsprozess nicht lediglich Rechnung tragen kann, hast du dir beteuert, sondern die sich nicht scheuen darf, diesem mitunter gestaltend, entwickelnd und sonst was vorauszueilen, respektive ihn voranzutreiben.

   Erfolg ist eigentlich so ziemlich alles. Man hat dich von oben sehr deutlich wissen lassen, dass besonders der wirtschaftliche Erfolg Herrschaftsinstrument sei. 

   Wenn man bei seiner Arbeit unachtsam gewesen ist, hat es einem freilich teuer zu stehen kommen können (der Hinweis da mit dem Tritt fiel bei dir natürlich nicht der Vergessenheit anheim). Selbstverständlich hat man gut sein müssen, aber nicht in verstaubter moralischer Auslegung dieses Begriffes. Man hat ganz cool den meist sehr engen Raum der Sachlichkeit überschossen – und ist auf diese Weise in ein Universum gelangt, in dem das Sein oder Nichtsein schlichtweg eine Frage der Fähigkeit der Vermarktbarkeit gewesen ist: Das berufliche (und vielleicht sogar das sonstige) Sein auf die Erörterung von Verwendbarkeiten gebracht. Eine Erleichterung, fürwahr!

   Allerdings hat es da Augenblicke gegeben, wo aus irgendeiner Ecke so eine zwar nur symbolische, aber immerhin moralische Sau gegrunzt hat. Wenn man z. B. gelegentlich eine prominente Figur outen musste. Kiffender Starkoch, ehebrecherischer Minister, pinkelnder Aristokrat. Ausrutscher in Wort und Tat, die den Charakter entblößen, sind da immer eine große Versuchung für einen gewesen, der man mitunter (allerdings letztlich nur dem Leser zuliebe) erlegen ist. (Vor Offenlegung war auf jeden Fall peinlich genau zu ermitteln, ob die aufs Korn genommene Person zum Ab-, wenigstens zum Anschuss freigegeben war.)

   Im Großen und Ganzen hast du jedoch bezüglich deiner Gebrauchsmoral gewiss von Erleichterung sprechen dürfen, welche die Wirksamkeit der eingesetzten Arbeit bei gleichzeitig ruhigem Gewissen wesentlich steigerte.

   Die Grundlage zum Aufschwung in deinem Status hast du dir natürlich (des Gerüchts um Karls Protektion ungeachtet) weitgehend selber gelegt, nämlich seinerzeit mit deiner nüchternen, sachlichen Handhabung der Angelegenheit um Dittls Bildmaterial, das Grüppchen um Karl betreffend. Der originelle Abschluss mit der Inszenierung von Karls Hochzeit im Blatt: Sonderbeilage mit Anzeigenkollektiv, damit die Kasse auch gehörig klingelte. Das hat es deinen Auftraggebern mit Sicherheit angetan. Wenn dich auch kein direktes Lob erreichte: Daran zu glauben, dass sie sich ein solches mindestens gedacht haben, ist für dich heute noch eine Frage von nichts weniger als des Selbstwertgefühls. Deine Art, verantwortungsvoll und betriebsopportun mit Informationen scheinbar harmlosen Charakters umzugehen, ist mit Sicherheit zur Kenntnis genommen worden. Der Alte hat es dir jedenfalls ein paar Tage nach seiner Fußtrittsdrohung zwar nicht so direkt gesagt, wie er jene ausgesprochen hatte, ist sich aber doch wenigstens nicht zu schade gewesen, es anzudeuten. Deine Fähigkeit, Brisanzen zu erahnen, nichtsdestoweniger hinzulangen und richtig zu verwerten, muss erkannt worden sein. Das hat ja wohl bedeutet, dass sie dein selektiver Intellekt aufgespürt und an dir zu schätzen begonnen haben, dass du in der Lage gewesen bist, Informationen entweder verwertend für den Betrieb zu versilbern, andernfalls in der Schublade oder gleich im Papierkorb verschwinden zu lassen."

 

   Du überliest deinen Eintrag noch einmal. Aber immer wieder zieht es deinen Blick zum Tisch hinüber. Wo dieser verdammte Brief noch liegt. Das grauschleierige Vanitasbild, das du dir vorhin entstehen hast lassen. Deine Schmutzgeister im Raum treiben damit im sonnendurchflirrten Zigarettenqualm ihr Wesen. Ein Schleier von flimmernden, flitternden Partikelchen schwebt über dem fremdbekannten Etwas und überdeckt es so spärlich, dass seine geil-öden Konturen dich bei jedem Blick anspringen – willst du dir ausgedacht sein lassen. Aber du wagst es am Ende nicht, diese üppige Zubereitung zu dulden und dann womöglich auch noch mit dir als deine Kummerlyrik herumzuschleppen. 

   So lässt du es sein. Du versuchst es doch wieder mit dem Zurückliegenden, wenn das Gegenwärtige noch nicht zu bewältigen ist.

 

   "Du bekennst zunächst – womit du dich sehr wohl gegen die vermutete Botschaft dort auf dem Tisch zu verteidigen in der Lage bist, und zwar notwendiger Weise zunächst vor dir selber: Noch bevor es sich endgültig erweisen hat können, dass Karl dich in deinem Werdegang unterstützte, hast du dich ihm gegenüber bereits erkenntlich gezeigt. In vorauseilender Dankbarkeit, gewissermaßen. Auf eine stille, doch darum nicht minder effektvolle Art und Weise. So hat er sich doch stets gewiss sein können, dass Meldungen aus seinem Hause prompt wiedergegeben und Informationen über sein Haus einer Bearbeitung in seinem Sinne unterzogen werden würden."

 

   Wo wäre dann dein Fehler zu suchen?, springt es dich jetzt wieder beim erneuten Blick auf das verteufelte Kuvert da drüben an. Hast du nicht alles getan, was einer tun muss, der sich an die Oberfläche – man will ja nicht gleich von Höhe sprechen – gearbeitet hat und sich dort auch zu halten trachtet? Mit jedem Recht, das der Mensch hat, sich selber zu erhalten!

   "Du hattest dich überwunden, deiner Karriere einen Schub mit der Energie aus einer Ressource zu geben, die gar nicht in deinem Bereich lag. Als nämlich, wie bereits erwähnt, die von dir hochverehrte 'twen' Ende der 60er daran gescheitert war, hattest du dir geschworen, mit Politik nicht ausdrücklich etwas am Hut haben zu wollen (wenn es sich in deinem Job nur einigermaßen bewerkstelligen lassen würde!). Ohne diesen Schwur zurücknehmen zu müssen, hast du es aber fertiggebracht, in deinem Laden für den Ruf zu sorgen, über politische Richtung zu verfügen. Dabei ist dir natürlich zustattengekommen, dass auch in der Redaktion politisch eindeutig Richtung gehalten hat werden können. Die stabilen politischen Verhältnisse im Umfeld ließen das zu, ja forderten es geradezu heraus, nicht zuletzt des wirtschaftlichen Erfolges wegen. Dass man Tendenzblatt sei, hat man getrost von sich weisen können. Denn andere Meinungen sind ebenfalls, wenn überhaupt wahrnehmbar, zur Geltung gekommen. Mit dieser gesunden Mischung aus eindeutiger Richtung und Duldsamkeit im Hinterkopf ist man vorzüglich gerüstet gewesen, die Meinung der andersdenkenden Minderheit einzufangen und für den Leser entsprechend kenntlich zu machen. 

   Eine weitere Tatsache hat jedem in unserem Laden sehr bald eingeleuchtet: Dass es nämlich in einem marktwirtschaftlichen Unternehmen, das seine Erzeugnisse an den Mann bringen muss, lebenswichtig ist, Käuferinteressen gebührend zu berücksichtigen. Mehr oder minder dezente Hinweise darauf durch die Betriebseigner sind zwar gelegentlich erfolgt, wären allerdings nicht erforderlich gewesen; man hat das po­litische Stimmungsbarometer zwar nicht unbedingt benötigt, trotzdem immer rechtzeitig abzulesen und richtig zu interpretieren gewusst. Die Essenz dieser Auslegung ist bis in den letzten Winkel gedrungen, sogar bis ins Feuilleton. 

   Im Allgemeinen ist man sich darin einig gewesen, dass diese Grundeinstellung selbstredend rein gar nichts mit Abhängigkeit und Afterdienerei zu tun gehabt hat. Bei den Sitzungen der Redaktion hat niemand wegen seiner inneren Richtung Blähungen kriegen müssen (auch die Zeiten der Minirevolten wegen ein paar entblößter weiblicher Oberkörper sind ja längst vorbei gewesen): Wer sich konform fühlte, wenn ein Gesinnungsthema aufs Tapet gebracht worden ist, und wer Lust verspürte, etwas Konformes rauszulassen, der hat sich entsprechend geäußert – und ist damit, wenn er diesen Schritt gelegentlich wiederholt hat, gewissermaßen dem Club beigetreten, ohne dass er es (etwa mit einem Parteibuch) hätte zu dokumentieren brauchen. (Man muss als Journalist wenigstens nach außen hin unabhängig bleiben, hast du dir gesagt, will man sich die Zukunft nicht verbauen. Das hat man am besten praktiziert, indem man hie und da oder da und dort, aber auf jeden Fall vorsichtig auslotend, dann jedoch beherzt Partei ergriffen hat. Das ist durchaus gelegentlich – wie etwa in deinem Fall – honoriert worden. Man hat eben in unserem Hause auch ohne Redaktionsstatut mitarbeiterfreundlich gedacht, ist dir bald aufgegangen). Wer jedoch anderer Meinung gewesen ist, der hat am besten geschwiegen; was durchaus auch Opposition, nämlich eine der angenehmen Art verkörperte. So hat für dich (wie du schon bald nach deinem Karriereschritt erkannt hast) alles seine Rich­tigkeit in diesem deinem Betrieb gehabt, der auf seine Weise, aber ganz offensichtlich freiheitlich-demokratischen Grundsätzen verpflichtet gewesen ist. (Solche Attacken wie früher hat es im Grunde nie mehr gegeben, nachdem sich die Crew meist durch persönliche Reifung und zum Teil durch Kündigung gereinigt hatte).

   Du bist zwar hinreichend mit Aufgaben bedacht gewesen, Karl Mentenheim hast du nichtsdestoweniger im Blickfeld behalten wollen. Schon besagter, wenn auch zunächst nur vermuteter Erkenntlichkeit wegen. Karl hat dir das ohne Zweifel wert sein müssen. Als Prominenter hat er ohnedies zur Klientel einer Redaktion wie der deinen gehört.

   So hast du zunächst einen Mitarbeiter, einen Anfänger, beauftragt, sein Augenmerk auf Karl zu richten. Das zeitigte dann allerdings leider entsprechend dürftige Ergebnisse: Die Mentenheims zögen alle paar Jahre in ein etwas größeres Domizil oder ließen erweitern. Das erwecke den Anschein, die private Expansion stehe in einer Beziehung zum Wachstum der Firma. Das Greenhorn protzte geradezu mit dieser Interpretation. Du hast dem Jungen darauf natürlich die Flügel ein wenig stutzen müssen: Eine harmlose Information, hast du ihn aufgeklärt, die fürs Publikum selbst dann noch nichts hergeben würde, veröffentlichte man sie mit der Jahresbilanz von Karls Firmengruppe – jedermann wusste ohnehin, dass sich diese bereits zum Wirtschaftsimperium entwickelt hatte. Der Neid habe heute ein ganz anderes Gesicht als zu Großvaters Zeiten, hast du dem Knaben zu verdeutlichen versucht. So müsse man in unserem Fall die Rechnung völlig anders aufmachen. Der Zeitgenosse begegne Auswüchsen des Wohlstandes (wenn man diese Ausdrucksweise überhaupt noch strapazieren wolle) mit viel mehr Nachsicht. Und zwar im deutlichen Gegensatz zu früher, wo noch manchmal echte Not geherrscht haben mag. Wir lebten doch in einer Epoche, in der sich selbst ein Arbeiter einen dicken Benz, wenn auch vorerst nur aus zweiter Hand, als Spielzeug und Fortbewegungsmittel leisten könne. Was die Leute allerdings heutzutage auf die Palme bringe, hast du dem jungen Mann stecken wollen, ist allenfalls das Ärgernis, dass sie für die Erfüllung ihrer Wünsche in aller Regel länger arbeiten müssen als die Paradiesvögel unserer Gesellschaft. Es ärgere besonders die jungen Leute – insgeheim, verstehe sich –, dass sie sofort arbeiten müssten. Nachdem sie sich so lange in Schulen abgemüht hatten. Die Zeit – und vorwiegend sie – solle er endlich, hast du ihm empfohlen, als eine die Gemüter bewegende Tatsache erkennen! Die breite Masse, hast du ihm zu denken gegeben, erblicke heutzutage den Stein des Anstoßes doch beinahe ausschließlich in der großen Menge Zeit, die ihr durch die Lohn-Arbeit von der wichtigen, notwendigen und sonst was Freizeit-Beschäftigung verloren gehe. Ja viele, besonders die jungen Menschen haben immer häufiger das Empfinden, dass ihnen auf diese Weise die Freiheit, die sie als Freizeit sehen, richtiggehend gestohlen werden würde. (Da das durchaus als etwas übertrieben hätte ausgelegt werden können, hattest du spätestens an der Stelle versucht, den Schelm ins Gesicht zu bekommen.) Der Arbeitgeber spuke heute als Freizeitdieb in den Köpfen der jungen Leute herum! Das Ringen um freie Zeit treibt die Leute zumindest innerlich auf die Barrikaden. Alle anderen Dinge, für die sich die Urgroßväter die Schädel haben blutig hauen lassen, seien ja längst in den gesellschaftlichen Besitzstand übergegangen, auf dem man sich getrost ausruhen dürfe.

   Du hast damit nur erreichen wollen, dass er dir nichts Kleinkariertes mehr bringt. Denn nichts schadet dem eigenen und dem Charakter eines Blattes mehr als dieses. Es drückt ganz einfach hinunter, macht mies und popelig. Die Leute wollen auch gar keine grauen Alltäglichkeiten konsumieren, wenn schon, dann müssen sie flockig, peppig, sonst wie aufregend oder einfach nur aus Königshäusern sein. (Diese Wendung, zugegeben ins Parterre, hast du versöhnlich mit einem trockenen Lachen bedacht.) Wenn die Leute sich in dieser Zeit der äußerst bequemen elektronischen Medien der Mühe unterziehen zu lesen, dann muss man ihnen etwas Besonderes servieren, und zwar vor allem gut zubereitet, gut gewürzt und auf jeden Fall mundgerecht. Appetitliche Häppchen! Die Leute sind diesbezüglich sehr geschmäcklerisch. Das zu glauben, gebietet der Respekt vor seinem Leserpublikum, ohne den man unweigerlich zum Scheitern verurteilt wäre. 

   Aber der junge Mann hatte vermutlich überhaupt nichts begriffen, denn bald nach dieser Lehrstunde hat er dir so eine Beobachtung angebracht: Wenn Grit Mentenheim erkranke, solidarisiere sich ihr Gatte Karl Mentenheim jeweils dergestalt mit ihr, dass er sich ebenfalls unter einem gesundheitlichen Vorwand in Behandlung begebe.

   Du lieber Gott! Es musste ja ganz lustig anzusehen gewesen sein, wie das Haus Mentenheim in diesen Fällen Kopf stand und die Leibärzte sich die Klinke in die Hand gaben. Du hast Karl das auch ohne weiteres zugetraut nach den letzten Eindrücken von ihm. Da hat auch seine Show mit seiner Kondition auf dem Bergmarsch nichts aufpolieren können. Der Mann hatte ganz einfach seinen Zuschnitt verloren. Old Hemingway und sein 'Schnee am Kilimandscharo' ist da wieder in der Erinnerung an die Anfahrt zur Bergwanderung aufgetaucht. Diese Romanfigur, die sich sein Selbst hatte abkaufen lassen. So etwas ist ja dem wirklichen Leben entnommen, wie du an Karl bestätigt sehen hast können.

   Vielleicht wäre aus dem Krankengeschichtchen sogar etwas zu machen gewesen. Allerdings hätte man daran gehörig drehen müssen. Das Verhalten des Paares hätte zum Beispiel in so etwas wie den Zusammenhang gebracht werden müssen, dass die Krankheit in der Hand von Frau Grit Mentenheim als ein Steuerungselement für die Arbeitswütigkeit ihres Gatten Karl erschienen wäre. So einer wie Karl hätte sich in deiner Spalte als Workaholic bestimmt ganz gut verkaufen lassen. Gleichfalls die liebende, treusorgende und um das Wohl des Gatten besorgte Ehefrau, die man in so einem Styling dann endlich einmal in diesen wohlhabenden Kreisen nachgewiesen hätte. Du bist von diesen deinen Gedanken selber überrascht gewesen – und du hast sie in Erinnerung behalten wollen! Vielleicht könnte man es irgendwann gebrauchen. Sei es als Stoff für eine Seifenoper – oder hehrer: Man wäre mit dergleichen in der Lage, eine Solidarität der fühlenden Weiblichkeit zu stiften, und zwar über die sozialen Schranken, den Neid und die Vorurteile hinweg, die heute so häufig wie ehedem das Miteinander in der Gesellschaft vergiften. Das würde sich zu gegebener Zeit gut ausnehmen, bist du überzeugt gewesen, da es einen eminent positiven Charakter beinhaltete und Werte stiftete oder eben nur stärkte, wo sie bereits vorhanden sind.

   Es war dir zu dieser Zeit immerhin bereits gelungen, deine Kolumne in so eine Position zwischen gemäßigt süßlichem Klatsch à la Regenbogenpresse und ein wenig Gesellschaftssatire zu manövrieren. Bloß keine schiere Ironie! Nichts irritiert das breite Publikum so sehr wie gerade diese. Es ist so, hast du dir immer gesagt: Die Leute mit ihrem Leute-Verstand (welch selbigen Ausdruck du von Thomas Mann erinnerst) haben immer Angst, dass sie einen Spott übersehen, der ja gegen sie gerichtet sein könnte. So intelligent, elegant und voll Esprit sich der feine Spott zwischen den Zeilen auch ausnehmen mag, so tödlich kann er auch für eine Zeitung sein. Die Printmedien müssen den Leser leider mit den Buchstaben und den auf den ersten Blick leeren Raum zwischen den Zeilen alleine lassen. Du hast etwas darauf gegeben, dass die Texte für zwar durchaus auch einmal kritisch mit gelegentlich einem Schuss Intellektualität und Bildung versehen gewesen sind. Sie haben jedoch als gegenüber allen Seiten offengehalten werden müssen. Vor allem das Niveau betreffend. (Die heißen Eisen, vor deren vernichtender Eigenschaft du eindringlich gewarnt worden warst, hast du ja unverzüglich weiter- und zu anderen Abteilungen geschoben. Du bist immer gleich entsorgt gewesen davon – und du hast dir durch dein Verschuben sogar das Verdienst erworben, kollegial zu sein und den anderen auch etwas zukommen zu lassen.)

   Aber diese Sache da um die Krankheiten bei den Mentenheims hat dich immer wieder einmal umgetrieben. Besonders an dem Bild von der treusorgenden Ehefrau bist du dann doch hängen geblieben. Denn du hast dir gesagt, dass das doch in einer eventuellen Veröffentlichung, Karl betreffend zu kleinbürgerlich rüberkäme und daher unglaubhaft wirkte. Du hast das nicht so sehr als Problem der Mentenheims gesehen als vielmehr des Niveaus deiner Spalte. Der Plan ist dann in dir tatsächlich gereift, daraus ein Lehrbeispiel für deine Leute zu machen: Treu sorgend hat Lieschen Müller zu sein. Die Upperclass-Frau hingegen ist in den Augen der Leute emanzipiert, ein wenig verrucht. Sie sieht jedenfalls sehr konzentriert auf sich selber. Sie anders aufzuzeigen würde mit der Vorstellung der Leserschaft kollidieren und wäre demnach kontraproduktiv. Treusorgend, du lieber Himmel, das ist doch das undankbare Geschäft des alltäglichen Mütterchens – noch dazu alten Stils. Der Leser gibt doch kein Geld aus, um seine eigene Banalität verherrlicht zu sehen. Er sucht in seinem Blatt Nahrung für seine Fantasie, für das ersehnte Mehr an Leben, an Sex und sonst was Viehisches, was er dauernd entbehren, weil er im Grunde immer zu Hause bleiben muss. Jedenfalls hast du zunächst dem Greenhorn eine ordentliche Zigarre verpasst – dir nichtsdestoweniger die Sache gemerkt, insgeheim vorgemerkt im o. a. Sinne – und die Krankengeschichte der Mentenheims demonstrativ in den Papierkorb geworfen.

   Was du also an Beobachtungen und Textvorschlägen in Sachen Karl vorgelegt bekommen hast, taugte zu nichts. Karl ist dir für eine größere Ergiebigkeit gestanden, trotz oder gerade wegen aller Erfahrungen mit ihm aus letzter Zeit. Du wirst vielleicht etwas warten müssen, doch das wird sich mit einiger Sicherheit lohnen ... Richtig ansitzen, dein Plan, dann kommt irgendwann das kapitale Stück aus dem Dickicht ins Visier! So etwas wie Jagdfieber ist bei dir aufgekommen.

   So hast du dich, deiner sonstigen und nicht unerheblichen Belastung ungeachtet, der Angelegenheit selber angenommen. Karl Mentenheim damit zur Chefsache gemacht. (Zudem würde das nicht gerade der eigenen Kondition schaden, denn man hatte bereits vielleicht zum Körperlichen auch geistig etwas Fett angesetzt.)

   Nach einiger Zeit hast du das Ergebnis deiner Recherchen sichten können: Karl war ziemlich wohlhabend geworden, mittels Heirat. Dann war es ihm allerdings mit viel Geschick gelungen, sich aus der Rolle des Prinzgemahls herauszuarbeiten. Er verfügte wohl über ein kaufmännisches Naturtalent ..."

 

   Ja, Karl. Die Sache da von damals in der Schule, nämlich über so etwas wie das angeborene Händlerische, das angeblich Jüdische. Das schießt dir da in die Gedanken.

Du machst wieder etwas Pause und lehnst dich zurück.

   Man kann es nicht lassen. Da ist auch die Erinnerung an diese Auseinandersetzung vor langer Zeit im Internat, wo Karl, wie du notiert hattest, gegen den Ägidius aufgestanden ist. Da ging es doch um die 'nackten Neger' in der Rede des Ägidius und Karls Rassismusklage. Dass man da nachher spekuliert hatte, ob Karl auch irgendwie rassisch nicht ganz sauber sei und seine Familie deswegen bei den Nazis Schwierigkeiten gehabt haben könnte.

   Dieser verfluchte Ausdruck da: rassisch nicht ganz sauber.

   Wie in der Viehzucht! Aber man kann es nun mal nicht lassen.

    Oder mit den ganzen Ausländern, die man heute hat. Worüber sich die Leute aufregen. Dann so schleimig: Man habe ja gar nichts gegen die, aber ... Aber was? Du weißt es selber nicht.

   So lange man mit diesen Menschen gut ist, so lange ist der mögliche Jude oder heute der Türke in ihnen gut. Aber wenn man Ärger hat, dann ... Was dann?

   Du machst dir ein Brot und fragst dich, während du die Leberwurst darauf verstreichst, warum du dir das alles antust – worauf du wie so oft keine richtige Antwort weißt – und nun wenigstens den körperlichen Teil deiner Leere mit einem Biss ins Wurstbrot beseitigst ...

  "Jedenfalls ist Karl bald im Ruf eines beachtlichen Sanierers gestanden. Er kaufte marode Betriebe auf, gleichgültig, ob sie Feinbleche, Werkzeugmaschinen, Chemikalien oder sonst etwas herstellten. Entscheidend war, dass die Eigner kurz vor dem Ruin standen. Karl brachte die Unternehmen in verhältnismäßig kurzer Zeit wieder in die Höhe. Wie einer seiner Kritiker einmal gesagt haben soll, sei dabei seine Methode ganz einfach zu durchschauen gewesen: Mentenheim sei auf mittlere Familienbetriebe spezialisiert gewesen, man könne auch sagen auf Traditions-Betriebe. Die litten sowieso sehr häufig unter demselben Siechtum: Sie seien vor lauter Altväterlichkeit in der Betriebsleitung und Patronisierungssucht im Umgang mit dem Personal wie von einem Stahlkorsett umschlossen und würden obendrein von Hand aufhaltenden, nicht Hand anlegenden Apanagen-Prinzen ausgeplündert. Den Ausdruck Missmanagement wage man gar nicht in den Mund zu nehmen, da von Management gar keine Rede sein könne. Karl sei stets aufgetreten wie der wachküssende Prinz im Märchen, so mit Gewalt durch die Dornen und dann ran an die Braut. Aber Karls Liebe habe, wie dieser das nun mal zu Eigen ist, immer auch ein bisschen wehgetan – wenigstens fürs Erste. Er habe jeweils die mörderische Hülle mit radikalen Einschnitten geöffnet (in der Regel begleitet vom Wehgeschrei der Gewerkschaft und des Betriebsrates). Er habe grundsätzlich die Betriebsleitung gefeuert und den Sumpf der korrumpierenden Gewohnheiten trockengelegt. Es soll immer ein reinigender, wenn auch mitunter eiskalter Wind der Sachlichkeit durch die Büros und Werkhallen gefegt sein. Nach einiger Zeit habe sich die Entwicklung (nach oben) stets schier von selber getragen. Ein Tausendsassa, dieser Mentenheim, war gelegentlich zu hören gewesen – klar von welcher Seite!"

 

   Du machst Pause mit deiner Erinnerung.

   Das Wurstbrot hat nicht vergeben. Zur Kochnische, um dir eine Büchse für Mittag heiß zu machen. Jetzt am Herd wirfst du dir vor, dass du dir Mentenheims Praktiken hättest näher erklären lassen sollen. Wie man eine Firma ausweidet, um Platz zu schaffen, um sich dann reinzusetzen. Um sie so leicht zu machen, dass sie abhebt zu einem Höhenflug. Mensch, das wäre doch eine Sache. Eines von diesen dahinvegetierenden kleinen Provinzblättchen über so eine Sanierung wieder hochzukriegen! 

   Du mampfst deinen Fraß. Ob man das nicht aufmotzen könnte, überkommt dich. Ein Ei drüber. Oder mehr Würze. Oder beides ... Unversehens springt dir dein feinschmeckerischer Eifer auf das Schreiben. Du hast auch gleich den Knüppel in der Hand, den du dir zwischen die Beine schmeißen könntest: das ganze Peppigmachen fader Ereignisse; der viele Senf zum wurschtigen Tagesding ... Deine Ravioli rutschen auch unzerkaut die Gurgel runter. Ein komisches Gefühl. Man schmeckt nicht so viel von dem Zeug. 

   Du behältst besagten Knüppel nur erst in der Hand und machst dich weiter an deine Arbeit. 

 

   "Karl hatte tatsächlich häufiger die Wohnung gewechselt. Wenn man bei ihm überhaupt von Wohnung im üblichen Sinne noch sprechen konnte, was ja heißen müsste: Der Ort, an dem man sich schwerpunktmäßig aufhält. Der Lebensmittelpunkt eben. Ein Ort auch, der demnach einen persönlichen Charakter trägt. Wo alle Dinge einen individuellen Anlass haben ... und dergleichen bürgerliche Überlegungen. Bei Karl hat es sich doch eher nur um so etwas wie den statistischen Schwerpunkt seiner verschiedenen Aufenthalte gehandelt. Um einen Ort also, wo die Mehrzahl seiner Anzüge aufbewahrt worden ist, wo die Gattin am häufigsten anzutreffen gewesen ist und so weiter. Ein Ort allerdings mit einer Distanz zu den Dingen der Ausstattung, die aufträglich von Designern und Innenarchitekten hindekoriert worden waren. Dein Informationsküken hatte natürlich Recht gehabt mit der Annahme, dass Karl mit jeder wesentlichen Mehrung seines Kapitals diesen Standort wechselte. Unter dem Personal kursierte der Joke, der Chef fliehe immer vor den Leichen, die den Weg seines wirtschaftlichen Aufstiegs säumten. Indes vermuteten Bewunderer Karls hinter diesen Aufbrüchen eine neue Finte. Es handelte sich nämlich nicht um Umzüge im üblichen Sinne, wo man ein- und woanders wieder auspackt. Bei den Mentenheims wurde richtiggehend aufgelöst – oder besser, man ließ auflösen. Man ließ bisweilen versteigern, so dass sogar der Eindruck entstehen konnte, es habe die Mentenheims nun auch (endlich) kalt erwischt. Du warst bei so einer Show dabei, und die Aktion gestaltete sich da nicht nur als Auktion im üblichen, von Sachlichkeit geprägten Sinne, sondern als so etwas wie eine schwarze Party in einer absolut geilen Untergangsstimmung. Man war maskiert erschienen, und zwar der Stilepoche entsprechend, derer man bei der Versteigerung sozusagen gegenständlich habhaft zu werden geplant hatte. Nicht etwa über die Maßen auffällig war diese Maskierung. O nein, irgendwie Geschmack hatte man ja – oder gute Berater. Eben mal eine Biedermeierfrisur, eine Rokokoperücke die Damen, einen Vatermörderkragen die Herren oder dergleichen. So eine Art Diner der Köpfe. Jedenfalls waren gleich beim Entree Grüppchen entstanden, die in einer geradezu diabolischen Mischung aus Amüsement und Begierlichkeit gegeneinander antraten – auf Kosten der Nerven des Auktionators, aber sich selber zum Pläsier ...

Auch sonst, wenn Karl Mentenheim und Gemahlin sich die Ehre gaben, ist eine Veranstaltung immer zu einem rauschenden Fest aufgelaufen. Du hast dich geärgert, dass du das nicht längst gewusst und genutzt hast und mehr oder weniger durch Zufall, nämlich erst durch die Tapsigkeit eines Anfängers draufgekommen bist. Jedenfalls hat dir das eine munter sprudelnde und vor allem nicht so bald versiegende Quelle der Information verheißen. Gut so, hast du dir gedacht, in diese Feste sind ganz offenbar die Body-Partys von ehedem gemündet. Ein Teil der allerdings bereits etwas patinierten oder angeknitterten Teilnehmer von damals ist deiner Beobachtung nach immer noch mit von der Partie gewesen. Es hat natürlich wieder oder immer noch Exklusivität geherrscht. Die Akteure und -innen haben sich jetzt allerdings auf eine ganz andere Weise entblößt. Eine Art, die förmlich auf Öffentlichkeit zielte. Weil die körperlichen Blößen wegen ihres angewelkten Zustandes zwar nicht mehr von öffentlichem Interesse, aber deren überaus wertvolle Verhüllungen sehr wohl für fremde Augen gedacht gewesen sind. Es hat sich (mit dir!) nur jemand finden müssen, der sich der Sache auf ge­konnte und gleichermaßen freundliche Weise annehmen würde.

   Die Society soll dem jeweiligen Ereignis ihre ganze Aufmerksamkeit geschenkt haben, hast du von verschiedenem Hauspersonal erfahren können. Es bedeutete offenbar so etwas wie gesellschaftlicher Aufstieg bedeutet, zumindest Anerkennung, wenn die Einladung der Mentenheims ins Haus geflattert war. Oder man düste sofort weit weg, wenn man ausgespart geblieben war, um so zu tun, als ob man verhindert gewesen wäre.

   Du hast dich zuweilen der Spekulation hingegeben, was die Leute erregt haben mag, auf so einer Party mit den anderen VIPs herumwesen zu dürfen. Du hast es, musst du dir jetzt eingestehen, nie ganz ergründen können. Denn du hast ja nicht dazugehört, bist eher, auf deine Weise natürlich, zu den bedienenden Randfiguren, zu den Domestiken zu rechnen gewesen. 

   Doch du hast dich früher oder später einer Interpretation stellen müssen. Wie hättest du sonst mit dem stets für den Erfolg erforderlichen Tiefgang arbeiten können? So bist du zunächst darauf gekommen, dass sich diese Leute dort nicht etwa nur zum Zeitvertreib eingefunden haben. Nein, es hat mehr sein müssen! Es hat etwas von der Größenordnung sein müssen, sich bei der Veranstaltung in nichts weniger als in eine Grafik des Aufstieges gezeichnet fühlen und sich in der Fieberkurve des Erfolges befindlich wähnen zu dürfen.

   Karrieren werden wohl in den Köpfen der Karrieristen geformt und irgendwann durch Berufungen und Ernennungen ihren realen Anfang nehmen. Hingegen sind nennenswerte Aufstiege nur in einer solchen Aura, wie sie stets Karls Veranstaltung innewohnte, erst richtig mit Leben behaucht worden. Auf diese Weise, nämlich durch so einen Schöpfungsakt in diesem irdischen Paradies, hat eine Laufbahn von Bedeutung erst richtig Seele bekommen (nachdem sie zunächst lediglich als so ein zwar der Schöpfungsgeschichte nach bereits geformtes, aber immer noch Häufchen Dreck dagelegen war). Diese Seele war als Ebenbild dessen anzusehen, was sich so anlässlich der Gelegenheiten, wie sie Karls Feste erzeugten, zusammengeballt hat. Die Odemspender haben sich meist der Gewissheit hingeben können, ein Ebenbild ihrer illustren Gesellschaft erschaffen zu haben. Die so beseelten Kreaturen sind demnach durch die Teilhabe an solchen Ereignissen erst so richtig lebensfähig geworden: Sie sind alsdann jedoch hellhörig gewesen, haben sich in der Lage befunden, Zwischentöne zu erfassen (für private Accessoires bei Geschäften); sie haben alsdann über besondere Sensibilität verfügt (für geheime Regungen ihrer Klienten, Partner, Kontrahenten); haben vor allem die ganz ordinäre, doch überlebenswichtige Fähigkeit er­langt, dicke Schleimspuren nachzuziehen, die sie selber voran-, Verfolger aber zu Fall gebracht haben.

   Du hast stolz sein können, dass du bald herausgehabt hast, was da scheinbar nebenher, jedoch in Wirklichkeit primär gelaufen ist."

 

   Du weißt jetzt: Das alles gesehen und durchschaut, sich aber nicht in Ekel abgewendet, sondern dafür auch noch ein mehr oder minder tiefes Verständnis, ja annähernd Bewunderung aufgebracht zu haben, ist ein Charaktermerkmal, das der näheren Beschreibung sicher nicht bedarf. Dazu stehst du jetzt noch. Ja es tut dir ausgesprochen wohl, das auch noch zu vertreten in dieser Zeit deiner Bedrohung mutmaßlich sogar aus diesen Kreisen. 

  Wie war das aber mit diesem Ereignis damals?

   "Die Umstände bei der Erkundung sind dir (wohl nicht zuletzt wegen deiner damals im Grunde positiven Einstellung zu den Dingen um dich herum) günstig gewesen. So hast du dein bereits erwähntes, allmählich fetter werdendes Hinterteil aus deinem weichen Ledersessel gehoben und hast dich wieder mal auf die Pirsch begeben. Du bist dann an der Peripherie anlässlich der soundsovielten Vermählung einer bekannten Dame umhergestrichen. (Nie direkt rangehen. So mit Presseausweis und Bestelltsein, hast du dir – und anderen, besonders den Jungen – immer wieder gesagt. Direkt ran ist dilettantisch. Da kriegst du nur das Präparierte, das Glattgestrichene. Hingegen sind gerade die Krümel von Aussagekraft, die bei so einer Gelegenheit wie der besagten Hochzeit unter den Tisch fallen. Die haben für unsereinen mitunter einigen Nährwert. Insgeheim darf man sich durchaus bewusst sein, dass man einer Spezies angehört, die sich vom Abfall nährt. Man hat allerdings hie und da – der Selbstachtung wegen – gegen den Eindruck von sich selber anzukämpfen, einer Gattung von Ungeziefer anzugehören.) Die Dame, die da ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten war, ist ein Prachtstück von dem Kaliber gewesen wie jene, die man erst vor kurzem in den Blätterwald gezerrt hatte. Denn sie hatte mit einem politverankerten Bank-Vorbeter getechtelmechtelt und nebenzu einem abgeschmierten Fressketten-König die Bruchstücke seines Imperiums abgeluchst gehabt. Die frisch geschleierte Fee war allerdings eine ausgesprochene Heiratsspezialistin. Sie hatte sich mit vergleichsweise harmlosen, wenn auch ausnahmslos ziemlich ergiebigen Eheverträgen ein sattes persönliches Vermögen angehäuft. Eine delikate Nummer der heutigen Veranstaltung ist es gewesen, dass das nicht mehr ganz taufrische Mädchen nach etwa einem halben Dutzend schieren Zivilehen es nun auch christkatholisch versuchen und vor den Traualtar treten hat wollen. Dass die Hochzeitsgesellschaft dem üppigen bayrischen Kirchenbarock durch das eigene Outfit weidlich Rechnung getragen hat, hast du selbstverständlich fotografisch festhalten lassen. (Es ist erst September gewesen, und man hat dann bei der Auswahl der Bilder aufpassen müssen, dass das Ereignis nicht etwa als verfrühter Fasching rüberkommen würde, denn immer mehr Leser geben auf und wechseln ins Lager der Glotzer, die nicht mal mehr die Bilduntertitel zur Kenntnis nehmen.) Du hast dir dann einen Kasten mit Weinflaschen gegriffen und dich als Lieferant an den Kontrollen vorbei in die Küche vorgearbeitet. Dann bist du an die Pinnwand gegangen, um das Menü der Gala zu erkunden (womit sich der hungrige Leser immer noch sättigen lässt, wenn es sonst nichts gibt). Du hast einen Blick auf die Gästeliste geworfen, die dort ausgehangen ist. Natürlich, da sind sie wieder gewesen, die du ja alle bereits in der Kirche gesehen hast: ein paar Figuren aus der Politik (allerdings nur mittlere Chargen), ein Waffenschmied, mehrere Baufabrikanten, einige uniformierte Lamettaträger (die sich im Übrigen un­ter den anderen Masken für das Auge sogar ausgesprochen beruhigend ausgenommen haben), Prälaten, Geldverleiher ... Eben lauter Staatserhaltende – und vielleicht auch das eine oder andere Mal durch den Staat etwas Gehaltene (dass Letzteres selbstredend seine Bedeutung und obendrein seinen Scharm besitzt, hast du nachgerade als deine Aufgaben betrachtet, dem Leser zu vermitteln). Sieh mal an, da stand Dr. Ing. Karl Mentenheim nebst Gattin! Klar, dass die auch bei so etwas mit von der Partie sind, denn da tut sich etwas, da werden Geschäfte eingefädelt, wenn nicht gleich abgewickelt und lauter solche Sachen. Das hättest du dir eigentlich gleich denken können. Aber Karl, der alte Heide, hatte doch tatsächlich die Kirche geschwänzt. Wie dem auch sei, da sind diese Namen also wieder gewesen, diesmal allerdings mit einer Rubrik versehen von Hinweisen auf Leber-, Magen- und sonstige Leiden und daraus zu folgernde Diätverordnungen. Interessant, hast du dir gedacht und notiert, interessant alle Mal, zu wissen, wie siech und in welcher Weise angegriffen die Spitze der Gesellschaft ist. Du hast dir gedacht, dass dir so manche vielleicht sogar weltbewegende Entscheidung aus der fetten Leber, dem krebsigen Magen, dem kranken Sonstwas des Entscheidungsträgers zu verstehen sein wird.

   Eine weitere Spalte des Aushangs hat die Essensgewohnheiten aufgezeigt, zum Beispiel dass Karl sein Steak beinahe roh bevorzugen würde, seine Frau Ge­mahlin jedoch gar. Mein lieber Schwan, hast du laut vor dich hin gesagt, das ist alles ungemein wichtig.

   Da müssen Sie sich bei dem Geschmeiß nicht gleich einmachen, hast du hinter dir gehört.

   Du hast dich umgedreht.

   Vor dir ist einer in einem etwas fleckigen Weiß und mit dicken Schweißperlen auf der Stirn gestanden.

   Sind Sie von der Zeitung?, hat er wissen wollen.

   Also, dass Sie Koch sind, hätte ich gesehen ...

   Küchenmeister, mein Lieber!, hat er dich korrigiert, und der Chef hier obendrein, und eigentlich sollte man mich kennen!

   Klar, Verzeihung!, hast du dich beeilt. Küchenchef! Ist ja bedeutender als Beamter, hast du geschleimt, ein hoher Beamter, sagen wir mal sogar bedeutender als Ministerialrat.

   Kommt mir irgendwie bekannt vor!, hat er gelacht.

   Du drauf: Das ist vom roten Saarland-Oskar. Damit ist ja immerhin bewiesen, dass man sich heute auf nichts mehr verlassen kann. Man muss sich das vorstellen, diese Hungerleiderpartei hält sich Chefköche wie andere Leute Rassehunde.

   Den Hund nehme ich Ihnen übel, Sie Bastard!, hat er gemault und ist weg und gleich bei seinen Töpfen gewesen, hat dort wie ein Wilder gewerkt, seine Leute angeschrien, deren Hervorbringungen beurteilend abgeschmeckt. Während er nebenzu etwas auf einem Teller garniert – die Farben, die Formen der Zutaten – besser: komponiert hat, hat er wieder zu schreien angefangen, dass die anderen ihre Pfanne hektischer schubsten, die Gurke schneller scheibten, die Kessel energischer durchrührten ... Du hast noch gedacht, wie jemand, der etwas so Schönes macht, so schrill und unsensibel sein kann. So ein kleines Gebilde auf ei­nem unverhältnismäßig großen Teller. Das sieht irr wenig, aber irr fabelhaft aus. So ein pervers verführerischer Gaumenkitzel. Ein geiles Etwas. Du bist durch deine Betrachtung von dem Gebrüll völlig abgelenkt gewesen. Du hättest um das faszinierende Ge­bilde da direkt auch betteln können. Ob das wirklich so schmeckt, wie es aussieht?, hättest du liebend gerne gewusst und hast gierig draufgestarrt.

   Verstehen Sie denn nicht?, hast du jetzt neben dir gehört.

   War eben alles ein bisschen untergegangen im Töpfeklappern hier, hast du geschwindelt. Du hast wieder auf diesen ungemein kunstvollen Tupfen da auf dem Teller gegiert.

   Soll ich Ihnen was sagen über die Bande da?, er hat dabei auf die Gästeliste an der Pinnwand gedeutet.

   Ja, meinetwegen, hast du gesagt, wenn es Ihnen ein Bedürfnis ist!

   Er hat noch mal auf die Liste gezeigt: Das ist mein Publikum! Gut, man lebt davon. Das ist eine Saubande, sage ich Ihnen ...

   Wenn du dich langsam ..., hast du dir gedacht, so während er quatscht ..., wenn man sich auf dieses wunderbare Objekt dort drüben einfach ...

   Lassen Sie mich schätzen: Zirka ein halbes Tausend Leute da, ist er immer noch eifrig gewesen. Die vielen Tritt­brettfahrer und Ehehälften mal gnädig abgezogen ...

   Wenn er sich umdreht, hast du weiter spekuliert, dann einfach hingelangt ...

   ... so bleiben hier ungefähr zweihundert ...

    So einfach, wie man es früher bei der Mutter gemacht hatte: Schwups, und weg war das Bonbon ...

   Glauben Sie mir – hören sie mir eigentlich zu?! – da sind drei- bis fünfhundert Jahre Knast versammelt. Schieber, Betrüger, Steuerhinterzieher und Co. Es gibt so viele solche Gesellschaften in diesem gesegneten Lande hier, dass man die gute alte Republik mit Zuchthäusern zubauen müsste, gäbe es Gerechtigkeit. Diese vielen Gefängnisse, die man bauen müsste! Womit wieder die Bauganoven ihren Reibach machen könnten!

   Der Koch ist von seinem Einfall selber so überrascht gewesen, dass er sich mit der flachen Hand auf den Schenkel gehauen hat, dass es geklatscht hat und sei­ne Leute wie auf Kommando hergesehen haben – in der Meinung, dass er wieder einen Befehl absetzen wollte. Er aber hat eine lässige Handbewegung zu seinen Leuten hin gemacht, so wie: weitermachen! Er hat drauf resigniert vor sich hingesagt: Ein wahnsinnig ergiebiges Land hier, das wir da bevölkern – und das unsereiner mit seiner Kunst verwöhnt ...

   Das mit Ihren versammelten Knastjahren da im Saal, hast du dann gesagt, habe ich auch schon mal wo gehört.

   Nicht wahr, ist er gleich eingestiegen, ich habe doch so Unrecht nicht? Das sehen andere ebenfalls so!

   Überhaupt den ganzen Strafvollzug privatisieren!, ist ihm noch eingefallen. Aufgepasst! Sofort legt der Staat ein Programm für sozialen Knastbau auf ...

   Ein Künstler, hast du dir gedacht, der bringt schon wieder so ein buntes Gebilde hervor, wie das da drüben zum Fressen ist ...

   Jetzt noch mal aufgepasst, guter Mann! Jetzt kommt nämlich die Pointe: Mit diesem Geld aus dem Programm des Staates für den sozialen Knastbau, da baut sich dann tatsächlich jeder Knacki sein Knast-Appartement selber.

   Wenn einer ein Künstler ist, ging dir durch den Kopf, dann ist er es überall und auf allen Gebieten, und er sollte vielleicht in die Politik gehen, um sein geniales freies, demokratisches Gedankengut auf kunstvolle Weise einzubringen.

   Ach, du lieber Himmel, was hat man doch den falschen Beruf, hat er geklagt. In die Baubranche müsste man wechseln ...

    Du hast gegrinst und genickt. Du wolltest ihn schon fragen, ob er dir sein Kunstwerk zum Fressen vermacht, denn er ist so gut drauf, dass er vielleicht sogar in Spenderlaune ...

    Die hier so friedlich versammelten und vor allem die so total unbehelligten Salon-Kriminellen, ist er wieder in Fahrt gewesen, die sind nicht etwa vom Gewissen geplagt, nein, höchstens von Gallensteinen und so etwas!

   Gallensteine ..., hast du in deiner Gier auf die appetitlichen Sprenkel doch noch mitbekommen. Oh, hast du gesagt, Gallensteine hatte mein Vater auch. Du hast bereits loslegen wollen, von Mutters Berichten über Vaters ...

   Er ist aber wieder bei den Töpfen und Pfannen gewesen und hat seine zwei Dutzend Leute gescheucht. Du bist immer noch nicht wenigstens in der Nähe dieses exzellenten Desserts gewesen, weil da einer aus der Küchenmannschaft zwischen dir und dem Objekt deiner Begierde geschafft und tatsächlich ähnliche Werke hervorgebracht hat.

   Da ist der Kerl bereits wieder neben dir gestanden: Vergessen Sie alles, was ich Ihnen bis jetzt gesagt habe, war nämlich alles Bullshit, denn an Gerechtigkeit zu glauben ist tatsächlich kindisch!

   Ja, gerne, wenn Sie wünschen, bist du ganz verdattert gewesen.

   Aber eines verrate ich Ihnen noch, hat er gezischt und dich am Arm gepackt. Wissen Sie, warum ich diese Leute, für die ich das Futter mache, so hasse?

   Natürlich nicht, hast du antworten wollen, bist jedoch gar nicht dazu gekommen.

   Da liege ich in der Nacht wach und überlege mir, wie ich ein Menü und noch eines und noch eines verbessern könnte. Hole mir den zweiten Michelin-Stern. Drei Bücher über gute Speisen habe ich bereits geschrieben, Fressbücher gewissermaßen ...

   Haben wir doch sicher besprochen!, hast du dich beeilt.

   Er hat jetzt deinen Arm losgelassen und sich an die Stirn getippt und dabei immer wieder 'gute Speisen' gesagt. Du hast ihn angesehen und gewartet und dir gedacht, dass er jetzt durchgedreht ist. Verdammt, das fehlte noch, weg hier, hau ab!

    Da ist er aber bereits wieder bei dir gestanden: Herrgott, dass man das noch nicht bedachte! Da ist mir doch was eingefallen! Ich werde mir überlegen, guter Mann! Ich werde darüber nachdenken, ob nicht so ein Fressbuch zu machen ist. Also eines, das man liest und nachher richtiggehend auffressen kann. Verstehen Sie? Richtig kochen, würzen, auftischen, fressen!

   Spitze, mal etwas vollkommen Neues!, bist du eingestiegen, da bringe ich was in der Zeitung! Das garantiere ich Ihnen, das kommt dann ganz groß raus in unserem Blatt!

   Okay, hat er gemeint, aber die Sache muss über Agenturen gehen, am besten dpa. Das darf nicht bei Euch hängen bleiben!

   Lässt sich machen, da habe ich so meine Beziehungen!, hast du angegeben. Du hast ihm die Hand hingehalten, und er hat eingeschlagen. Dabei drängte es dich, das mit deiner Lust auf sein buntes Kunstwerk anzubringen. Aber er ist gleich wieder ganz anders auf Mitteilung gewesen: Das müssen Sie sich vorstellen, ich denke intensiv nach, wie ich die Menüs zusam­menstelle und wie ich das alles immerfort verbessern könnte, schaue durchs Loch, um zu sehen, was am besten ankommt, veranstalte Probeessen und so weiter. Dann stehe ich da und quäle mir was ab. Stelle Dir vor, dann frisst diese heikle, verwöhnte, affektierte Drecksbande gerade mal ein paar Happen. Stochert in der schönsten, besten, gelungensten Kreation herzlos rum wie so einer von der Gewerbeaufsicht. Der Rest, ja eigentlich doch das meiste, das jedoch vom Aussehen her mit deiner Arbeit nichts mehr gemein hat, wandert – ja, heute nicht mal mehr in den Schweinekübel, den man früher hatte. Der Rest wandert in die Kloake – und wohlgemerkt nicht auf dem natürlichen Weg, wenn Du A... – er bremst sich doch aus und lenkt um: Armleuchter verstehst, was ich meine ...

   Das bringe ich auch, hast du ihn beruhigen wollen, das ist ein Sittenbild unserer Tage!, beteuerst du.

   Was willst Du bringen?!, hat er dich plötzlich angefahren.

   Ein Sittenbild?!, und ist ausgerastet, Du hast doch nicht alle Tassen im Schrank! Jetzt hau ab hier, von wegen fremde Person in der Küche, he, verpiss' Dich schnell! Die Gewerbeaufsicht! Du verfluchter potenzieller Ausscheider! Ist ja irre, Sittenbild! Salmonellen im Pott ...

   Er hat mit den Armen wild herumgefuchtelt, ohne weiterzureden. Du hast dir für einen Moment gedacht, dass er dich womöglich anfallen könnte. Doch er ist zu einem Herd gerannt, hat sich ein Stück Fleisch gegriffen und es in Scheiben geschnitten und weiter geschrien: Du komischer Pressefuzzy! Kriechst denen ja ins miefe Hinterteil, um an ihr Hirn zu kommen! Nichts sonst! Weil du so blöde bist und glaubst, dass da in diesen Köpfen überhaupt und für dich was drin ist ...

   Du bist wie angewurzelt stehen geblieben und hast ihm fasziniert zugehört und zugesehen, wie er in und mit seinem Wahnsinn hantierte. Toll, ein Künstler und ein Genie und der Wahnsinn ... und dieses von dir immer noch angegeierte kleine, bunte Gaumenmärchen dort, das dich auch noch verrückt machen wird ...

   Am liebsten hättest du ihn damit beruhigt, dass es mit deinen Kreationen – zwar nur in Druckerschwärze – auch nicht anders ist als mit seinen Gaumenfreuden. Sie wanderten ja ebenso im Grunde ungenossen und nur zerfleddert – und nicht mal wie früher zu hinterlistigen Zwecken zerkleinert, sondern gleich in die sozusagen Kloake, ins Altpapier ...

   Doch du hast es für dich behalten, und er hat ja auch bereits zu seinem Schlussgedanken angesetzt und dabei das große Messer geschwungen, dass du unwillkürlich einen Schritt zurückgesprungen bist: Das hasse ich, dass die feine Gesellschaft auf ihren Tellern so herumstochert, als wäre das auch nur so ein idiotisches Statussymbol. Die kleinen Leute, die lobe ich mir, die fressen wenigstens ihren Teller leer. Wie wenig Mühe kostet es einen, in der Vorstadt den guten Ruf zu kriegen, große Schnitzel für wenig Geld zu machen!"

 

   Bereits während du das mit diesem Koch aufgeschrieben hast, ist es dir flau geworden im Magen. Vielleicht solltest du doch einmal richtig speisen gehen. Wenn es dieses Kochlöffelgenie noch gibt, gehst du mal zu ihm. So eine kantige Figur mit bi­zarren Launen. Vielleicht zu ihm und dir dieses Gedicht von Dessert wirklich einmal auftischen lassen. Soll es ruhig einen Braunen kosten.

   Mit deinem Saufraß da immer und deinem Pfadfindertrick mit der eingedellerten Dose, bis die Beule im Feuer rauspufft.

   Aber dieses Kunstwerk von damals ist nur zum Träumen. Da kommst du nicht ran. Wer kommt schon an seine Träume ran? Mensch, dein Kunstwerk da auf dem Tisch! Zum Anfassen! Aber du Feigling kneifst.

   Nimm doch das graue Papier, das dich so fies an­macht, und schmeiß es zum Fenster hinaus. Klar, dazu raffst du dich sofort auf. Weg mit dem Dreck! Du nimmst den Brief und schmeißt ihn hinaus. Wie er schön segelt. Gleich eine Drehung um die eigene Achse. Flickflack? Oder wie sagt man? Dort noch einen. Kindlich amüsant. Er bekommt etwas Aufwind und segelt fast waagrecht zum Spielplatz hinüber. Drauf eine Spirale. Schon landet der Fetzen auf dem Rasen ...

   Der Küchenbulle hat dich rausgeschmissen, einfach so ...

   Aber seine Show ist ja auch zu Ende gewesen. Du hast eigentlich auch genügend Material gehabt. Dann bist du doch noch zu dieser Veranstaltung gegangen, wie man es immer gemacht hat. Man ist in die Nähe der Leute – ja was denn? Gekrochen? Oder wie der Küchenheini gesagt hatte: aftergekrochen ...

   Dir ist plötzlich gekommen, was mit Karl und dir war. Aber eben jetzt erst. Dafür allerdings ganz klar und unwiderlegbar. 

   Das muss zu Papier!

 

 

Gib den Anderen keine Macht über dich, indem du (zu sehr) auf sie eingehst

    "Um es gleich zu notieren: Karl hat dich benützt!    Immer üppiger hat die Quelle der Pressemitteilungen aus dem Hause Mentenheim gesprudelt und sich über deinen Schreibtisch ergossen. Man hat ganz vornehm per Boten überstellen lassen. Diese Flut hat dich er­staunt. Das können eigentlich nur die Folgen deiner Be­richterstattung über die Hochzeit von diesem al­ten Mädchen sein, warst du, zugegeben ein wenig stolz überzeugt. Es ist ja sonderbar, diese Arbeit in diesem Spektakel hattest du mit einigem Widerwillen erledigt. Das Ergebnis war dann textlich eher knapp ausgefallen, allerdings üppig mit Bildmaterial unterlegt. Damit konntest du offenbar einen Volltreffer landen.

   Nun eine der Folgen, per Boten überbracht: 'Karl Mentenheim für acht Tage nach Taiwan', vorgefertigter Text dazu. Was fängst du damit an?, hast du dich gefragt – und dich ans Telefon gehängt.

   In den fernen Osten. Geschäftlich ist das gemeint, dessen können Sie gewiss sein, konntest du erfahren (und du hast dir dabei diese Quelle blond vorgestellt, mit Dauerwelle und mittleren Alters). Bestimmt nicht etwa zum Vergnügen!, hat dich die etwas grelle Frauenstimme weiter in Kenntnis gesetzt (steckt in einem Kostüm dieser dem Tonfall und der Akzentuierung nach dürre Leib, in gedeckten Farben, Grau- oder Braunton). Alle Welt rede nur noch vom Vergnügen!, setzte sie noch ein Ausrufezeichen.

   Oh, gewiss doch!, hast du wieder ins Gespräch zu kommen versucht ...

   Wenn harte Arbeit und Geschäfte für den Herrn Doktor Mentenheim nicht überhaupt und grundsätzlich Vergnügen sind!, ist die Vorzimmerstimme (bis oben zugeknöpft und von Frau Grit Mentenheim persönlich ausgesucht) auf ihre Alle-Welt von vorhin ein­geschwenkt – und hat mit ihren Worten sozusagen mit dem Finger auf dich gezeigt: Wenn Sie Vergnügen schon ins Spiel gebracht haben wollen, Herr Redakteur! 

   Bei Gott, nicht dass ich meinem Schulfreund etwas Schlimmes unterstellte!, wieder dein Startversuch ...

   Sie hatte sich offenbar in ihre Schlechte-Welt-Kritik verbissen (da hatte auch der ihr hingeworfene fette Brocken 'Schulfreund' nicht besänftigen können): Vergnügen, ohne das es ja heutzutage offenbar gar nicht mehr geht ... (eine Ausgabe von Elsbeth, in Einsachtzig und Kostüm, wolltest du dir weiter einbilden). Sie muss doch wieder einmal Luft holen, hast du geglaubt und wieder einsteigen wollen. Aber zu spät: Ein Rückfall, sage ich Ihnen, mein Herr, ein Rück­fall in das Kindergartenalter und ins Lustprinzip, Herr Redakteur! (So eine Wächterin als Abschreckung ins Vorzimmer setzen, mag sich Grit bei der Auswahl gesagt haben, so eine ist wie ein Liebestöter. Denn wenn du schon fremdgehen musst, lieber Karl, wie eben alle Männer deiner Ausstaffierung, dann auf deinen Geschäftsreisen und weit weg. Ich will nämlich meine Hörner nicht auch noch in meiner Nähe aufgesetzt bekommen. – Sagt man bei einer Frau eigentlich Hörner?, hat dich während des Vortrages am anderen Ende der Leitung beschäftigt.)

   Sind Sie eigentlich noch da?, hat es am anderen Ende gekreischt. Gleich der Ansatz, ihr Thema von vorhin fortzusetzen: Wissen Sie, das ist sehr gefährlich ... Sie hat den Gedanken nicht ausgeführt, sondern liefert einen Schluss wie ein Absturz:  Ich fordere Sie auf, etwas zu sagen! Ich höre Sie atmen!, hat es geschrillt, so als habe sie da einen fernmündlichen Sittenstrolch am anderen Ende der Leitung hängen. – Sagen Sie etwas, oder ich lege auf!

   Oh, hast du dich heimlich gefreut, das gönnt man Karl, ein weiblicher Zerberus bewacht das Allerheiligste – und dich dann doch wieder gemeldet: Aber Gnädigste, wer wird denn da so obszön von Vergnügen reden wollen, da wir doch alle nur unsere Pflicht tun! Sie jedenfalls unbestritten!

   Diese Botschaft musste bei ihr angekommen sein. Du wolltest doch noch wissen, wenn auch der Inhalt der Geschäfte da in Taiwan nicht direkt zu erfahren sein würde, ob und wenn ja in welcher Begleitung der Herr Doktor denn zu reisen beliebte. Zu deiner Überraschung gab sie prompt ein paar Namen preis und erwähnte sogar, dass die Herrschaften erst in Athen zusammenträfen, um die Reise gemeinsam fortzusetzen.

   Du hast dich bedankt und ihr avisiert, dich gelegentlich mit einem Strauß Blumen persönlich melden zu wollen.

   Es hat dir dann keine allzu große Mühe bereitet, diese Athener Gesellschaft gewissen heiklen, von Frie­denskämpfern sogar als unmoralisch bezeichneten Exporten zuzuordnen, in denen die Bundesrepublik im­merhin mit an vorderster Stelle gestanden ist.

   Doch, was tun? Etwa bemäntelnd schreiben, dass da drei Manager in der Welt umherreisten, um letztlich deutsche Arbeitsplätze zu sichern, indem sie sich bemühten, diese bundesrepublikanische Welthandelsstellung noch weiter auszubauen?   

   Eine verdammt komplexe Angelegenheit, war dir sofort klar.

Im Grunde ist so eine Meldung auch gar nicht deine Sache, leuchtete dir ein. Aber kommen muss etwas, Karls wegen, Ehrensache, das! So könntest du deine Infos ja weiterschieben – wie andere knifflige Sachen sonst auch. Zu den Kollegen von der Wirtschafts-Redaktion. Doch wie die einzuschätzen waren, hätten die sich die Finger auch nicht verbrennen wollen. 

   Du hast dann doch selber aus der Mitteilung ein paar Zeilen gemacht, die besagt haben, dass Karl da gereist ist (sich ... begeben hat), um Handelsbeziehungen in Fernost auszuloten und nach Handelspartnern Ausschau zu halten ... Da laut Firmenstatement und sattsam bekannten Klagen aus Wirtschaftskreisen der fernöstliche Markt ungemein vernachlässigt worden, aber wegen der enormen demographischen und gleichfalls bedeutenden ökonomischen Entwicklung von höchstem Interesse sei. (Diese Aussage allerdings in deiner Weise formal abgespeckt!) Du durftest es nicht versäumen, diesen brisanten Zeilen doch noch über das Formale hinaus auch inhaltlich deinen Stempel aufzudrücken. So hast du den Herrn Doktor Mentenheim zweireihig in Konferenzblau reisen lassen. Du hast die Vermutung geäußert, dass bereits im Flugzeug eine Besprechung mit Geschäftspartnern anberaumt sei. Dass nämlich in diesem zwar Champagner-Havanna-Ambiente erster Klasse doch nur hart gearbeitet werden würde. Am Ende den ganzen Sermon noch aufgespeckt mit einem (freilich fiktiven) Zitat Dr. Meintenheims: Unsereiner kann sich zwar die Businessclass leisten, nicht aber das bloße Herumzusitzen.

   Dass du damit selbstredend (trotz deiner Boulevardgirlande) deine Kompetenz im Hause doch erheblich überschritten hattest, bist du dir zum einen bewusst, zum anderen jedoch auch bereit gewesen, (mit dem getrost einzukalkulierenden Beistand Karls) durchzustehen."

 

   Es ist dir jetzt etwas besser zumute. Nicht mehr so nach Selbstverletzung. – Menschenskind! Welch ein Begriff hat dich da heimgesucht? So ein Monster: Selbstver...

Du greifst dir, sozusagen selbsterschreckt den Whisky ...

 

   Der Bote für die Mitteilungen aus dem Hause Mentenheim, Karls Fahrer, Diener, einfach sein Faktotum. Er sollte dir ein paar Zeilen wert sein, sagst du dir dann.

   Was würde er sich denken, wenn er dich in deinem abgerissenen Zustand zu sehen bekäme? Deine verkommene Bude. In der er ja auch schon war. Allerdings zu einer Zeit, da sie sich noch in einem einigermaßen aufgeräumten Zustand befand. Wenigstens einmal in der Woche war die Putzfrau hier am Werken gewesen ... 

 

 

Wenn du sagst, was du willst, kriegst du selten, was du brauchst

   "Der Diener Johann, mit richtigem Namen Konrad: Der gute Mann (Ende vierzig, etwa einsfünfundsechzig, leicht untersetzt) begegnete dir als ein bayrisch geprägtes Original (Trachtenjanker, pech-schwarzer Schnauzbart). Gleich bei euerem ersten Meeting of­fenbarte er ungeniert seinen Hang zu gutem schottischem Whisky. 'Pure malt', darunter ist mit ihm nichts zu machen gewesen. Ging man jedoch darauf ein, zeig­te er sich in vielen Dingen ungemein erkenntlich. Dass du zu der Zeit (bevor dir der Arzt das über deine Leberwerte steckte) selber einen ausgeprägten Hang zu diesem Gebräu hattest, ist dir ihm gegenüber zustattengekommen. Du fühltest dich diesem Burschen bald irgendwie herzlich verbunden. Du konntest (von geschmierter Zunge) so manches erfahren, woran man sonst nicht so leicht kommt. Du hast Konrad, der im Dienst von den Mentenheims tatsächlich John genannt worden ist, zum Lohn für seine Offenheit mit kleinen Schulgeschichten bedient. In diesen Schnurren spielte sein Chef Karl Mentenheim immer seine bekanntermaßen herausgehobene Rolle.      

   John/Konrad konnte schließlich gar nicht genug davon bekommen. Natürlich war diese Decke nicht lang genug, und du musstest da mitunter gewaltig anfabulieren. Dabei konnte es gar nicht ausbleiben, dass du dich auch eingebracht hast.

   Es ist dir im Übrigen gelungen, ihn davon zu überzeugen, dass es doch als ein Vorzug anzusehen sei, dass man ihm den alten Johann als Diener nicht angetan und ihn stattdessen modern John nannte. Du allerdings wolltest nicht so direkt auf diese Benennung zurückgreifen, sondern hast ihn gebeten, ihn mit beiden Namen ansprechen zu dürfen. Allerdings (durch eure Trinkfreude in gehobener Stimmung) wolltest du ihm den Bindestrich auch nicht zumuten und ihm ver­sichert, dass du tatsächlich einen Teilungsstrich ver­wenden würdest, also John/Konrad, solltest du je in die Verlegenheit geraten, seinen Namen schreiben zu müssen.

   Wir haben uns gerne mit unserem flüssigen Freund in gute Laune begeben. Auch hat das Getränk – wie allgemein bekannt – als Schmierstoff, gewirkt, das jemandes Zunge zu lösen im Stande ist. So durftest du die Erklärung dafür erhalten, warum John/Konrad für deine Shortstorys aus der Schulzeit so ein lebhaftes Interesse gezeigt hat. Er hatte seinem Bekunden nach eine höhere Schule besucht, diese jedoch nach ein paar Jahren verlassen müssen. In seiner Begründung ist es um den früh verstorbenen Vater gegangen, um die kranke Mutter und um die Nachkriegszeiten, die seine Familie besonders hart getroffen habe. Du bist da nahe dran gewesen, hier mittels Einbringung deines Loses daraus ein Duett werden zu lassen. Du wolltest dich jedoch nicht ganz auf seine Ebene herablassen. Mithalten hättest du ohne weiteres können, wie du es dir selber damals schriftlich dargelegt hattest. Du hast ihm jedoch empfohlen, sich die Story gut auszubauen, um sie gegebenenfalls vor Gericht einzubringen, sollte ihn das Schicksal einmal – was Gott verhüten möge – vor dessen Schranken zerren.

   Man einigte sich in der Anrede bald auf ein Dscheke – mit einer Klangschleife zwischen dem E und dem K, so etwa: Dsche-i-ke. Denn deinen John/Konrad hat er doch irgendwie bescheuert gefunden – im Originalton: So blöd wie einem Preißn sein Friedrich-Bindestrich-Wilhelm oder die allerweil mehrer werdenden Bindestrich-Weiber, die wo heutzutag rumlaufn, wenn's überhaupt noch heiratn und nicht bloß irgendso g'schlampert zusammenlebn.

   Die Aufträge, die Freund Dscheke vom Hause Mentenheim überbrachte, sind natürlich bisweilen eine Zumutung gewesen: Da sollte beispielsweise ein Beitrag anlässlich Schwiegermutters Fünfundsiebzigstem erscheinen. Da es doch ein wenig unter deinem Niveau gewesen wäre, so etwas selber zu erledigen, hast du einen Volontär damit beauftragt. Du hast ihm allerdings die Weisung erteilt, ein bisschen von den Golden Twenties hineinzuzaubern. Das ist dem Jungen tatsächlich einigermaßen gelungen: Er hat die al­te Haubitze gekonnt vom quirligen freisittigen Kniefrei-Bubikopf der End-Zwanziger zur 'Grande Dame' der Hautevolee der Landeshauptstadt mutieren lassen. Er schlug eine geradezu wundersame, eine ausgesprochen literarische Brücke. Er ließ die alte Madame über diese Brücke, auf den Strom der Zeiten hinabblickend, schreiten. Er ließ sie diesen ihren Weg von allem (bis natürlich auf das allmähliche Dahinwelken) unbehelligt zurücklegen. Der Junge verstand sogar die Heimsuchung von Herrn Doktor Alzheimer bei der al­ten Dame, als eine scharmante Geste des Schicksals zu deuten, der dieser obendrein die geistige Teilhabe erspart hatte an ihrem Umzug in eine Seniorenresidenz. Der Text strotzte nur so vor Anspielungen, war jedoch so voll Esprit, und damit erschien die Gesellschafts- und sonstige Kritik, deren sich die Jugend nun einmal nicht enthalten kann, eher als versöhnliches Lächeln. Mit deinem Korrektureintrag machte das Artikelchen enorm was her. Freilich mit der Folge, dass etliche VIP-Sippen ebenfalls ihre Wracks auf diese (im Übrigen gar nicht mehr zu wiederholende) Weise zu Denkmälern umarbeiten und auch auf einen Sockel haben hieven lassen wollen."

 

   Wo du dich all dieses Positiven entledigst, überkommt es dich wieder ...

Du überfliegst die Sache noch einmal. Erkennst, dass das ja ganz anders ist als deine Gefühlslage jetzt. Ganz entgegengesetzt. Irgendwie bejahend, wenn auch auf deine zerbrechliche Weise. Sattelfest. Zukunftoffen ... Damals?

   Das ist jetzt raus. Und auf Papier. Weg ist es, das spürst du ganz deutlich. Es fehlt dir jedoch irgendwie, fühlst du. Diese Leere breitet sich wieder aus. Dann schaust du dich an. Dein Äußeres. Wenn man so abgerissen aussieht, folgerst du, dann braucht man eigentlich auch kein Obdach mehr. Hier diese Höhle. Der Penner steckt in einem, kommt es dich wieder an. Frage immer nur, wann er bei dir raus will oder kann. Wollen tut er es schon immer. Das weißt du ja. Diese Statistik damals im Blatt über das Ausbrechen aus der Gesellschaft und Zum-Penner-Werden. So in der Mitte des Lebens kann es einen erwischen. So mitten in seiner fettleibigen Bürgerlichkeit. Irgendwas mit den Bindungen hat es zu tun. Aber wie war das genau? Du kommst nicht mehr drauf. Es ist allerdings egal, wenn einer abhaut. Diese Statistiken. Als ob das so oder so immer pralle Leben in eine Schublade passte.

   Aber wenn du so überlegst, da musst du gar nicht lange ... Du bist doch ungebunden. Jetzt allemal. So ungebunden, wie es sich ja gar nicht mehr steigern lässt. Was hält dich denn noch? Vielleicht deine Schreiberei. Die irre Ordnung damit oder sonst was. Oder du klammerst dich mit deiner Schreiberei am Vergangenen fest. Weil du nicht in dein Jetzt rutschen willst. Obwohl du weißt, dass immer längst schon drinnen bist. Das Schreiben als etwas, das einem Halt bietet – einen papierenen. Ob das auf Dauer reicht?

   Ein neuer Gedanke vielleicht. Wenn es nicht gleich wieder so ganz ...

   Die Sätze brechen dir ja im Kopf ab.

   Da bringe sie eben weiter aufs Papier. Dass du was vor Augen hast!

   "Und ein paar Schritte weiter:

   Die Angelegenheit mit deiner dreisten Kompetenzüberschreitung hat keinerlei negative Folgen gehabt (allerdings klopfte dir auch niemand auf die Schulter). So hättest du ruhig wieder einmal einen Schritt über deine Grenze hinaus tun zu können. Nach Rückkehr aus Fernost verfolgte Karl nämlich die Absicht (und ließ dich das auf seine Art wissen), in einem seiner Werke ein paar Abteilungen wegzurationalisieren. Es sind Entlassungen an- und ihm sicherlich ärgerliche Szenen ins Haus gestanden. Die Sache ist dir allerdings doch zu aufwändig gewesen. Du hättest dich auf wirtschaftskundlichem und möglicherweise sogar auf sozialpolitischem Gebiet kundig machen und vermutlich Stellung beziehen müssen. Da beriefst du dich dann doch vorsichtshalber auf deine Nichtzuständigkeit. Du hast an die Wirtschafts-Redaktion weitergeleitet, bei der Karls Anliegen vermutlich in guten Hän­den war. (Womit du Karl immerhin die Soft-Marxisten von der Sozial-Redaktion erspart hast)."

 

   Warum machst du es nicht einmal. Weg. Raus hier. Weg von allem hier. Eine quasi Kompetenzüberschreitung deiner Alltäglichkeit. Nur so zur Probe. Von allem weg. Abhauen. Auf die Straße. Wo dich hier gar nichts hält. Was soll die Einbildung mit dem Texten hier. Die vielen Luftballons, die du da immer noch aufbläst?

   Einmal auf Trebe gehen und unter die Brücke.

   Dem Jahr ist auch fast die Luft raus. Du musst sehen, dass du einen guten Mantel hast.

   Einen Mantel, der es auch in der Nacht tut. Dass du dir nichts abfrierst.

   Da hängt doch noch das alte wadenlange Ding im Schrank. Wadenlang ... Hin zum Schrank und das Ding rausgeholt ... Zum Spiegel. Übergezogen. Das ist noch nicht so, wie man sich diese Burschen von der Landstraße vorstellt. Kann aber bald so werden. Sowas passt sich den tiefen Wünschen an ...

   Da leuchtet dir ein, dass das die reine Maskerade ist. Unecht. Dazu bist du noch nicht so weit ... Der brave Schreiberling in dir.

   Du arbeitest eben das, wie du es immer gemacht hast, wenn du dir entkommen wolltest:

   "Wenn J/K seinen Auftrag überbracht und so seine dienstliche Pflicht erfüllt hatte, ist er meistens – wie bereits angeführt – zu einem guten Tropfen zu über­reden gewesen. Er rächte sich dann häufig, während er ein Glas nach dem anderen von dem braunen Saft in sich hineinlaufen ließ, an dem Teil seines Schicksals, wo es sich anbot, tüchtig gegen seine Brotgeber vom Leder zu ziehen. Da sind zwar viele Zwischentöne herauszuhören gewesen, die zur Polsterung guter Storys von dir zu gebrauchen gewesen wären. Hingegen konntest du dich bei etlichen Passagen des Eindrucks nicht erwehren, dass J/K sich einer ausgesprochen sozialistischen Redeweise befleißigte, die mit Enteignung und Gleichschaltung nur so gespickt war. Das, obwohl er, wo es sich nur immer anbot, auf dieses gerade im Osten wohl in seinen letzten Atemzügen liegende politische Monster aus vollem Herzen schimpfte. Wenn das Karl Marx wüsste, was seine Bastarde treiben!, ist eine gerne von ihm benutzte Formel gewesen. (Gerade an solchen Stellen hast du ihm ordentlich nachgeschenkt, damit er wieder von der verkorksten Weltrevolution weg- und auf andere Gedanken komme.) Das Repertoire von J/K's Randbemerkungen war jedoch doppelschichtig. Sichtbar, wenn er sich zu markigen Auslassungen über Rasse, Lebensraum und Führerschaft herbeiließ. Beides gelegentlich auch in einem Gedankengang. Du wärst allerdings nie auf die Idee gekommen, das alles nach außen, sprich ins Haus Mentenheim dringen zu lassen. Du wolltest es bei einem erstaunten Kopfschütteln belassen. Gönntest dir allerdings den klamaukigen Einfall, dir deinen nach allen Seiten offenen Gast mit grauer Marxmähne und schwarzer Rotzbremse unter der Nase vorzustellen."  

   Wo mag er sein, Karls Laufbursche? Mit J/K hätte es Spaß gemacht. Auf der Straße. So durchs Land zu ziehen. Er hatte so einen trockenen Witz. Mit seiner nach allen Seiten offenen Art hätten wir überall landen können. Cool, wie man sagt. Hat ge­quatscht und auch zugehört. Ein richtiger Kumpel eigentlich. So mit einer angelebten Bildung des Her­zens – du meine Fresse, dieser Ausdruck! Jedenfalls nichts Angelerntes. Und der Suff.  Bloß die teuren Sachen, die hätte er sich dann allerdings abschminken müssen. Es sei denn, die Einnahmen von den Bettlern sind tatsächlich so satt, wie die Leute immer behaupten. Doch was hätten die teuren Sachen dann noch für einen Stellenwert? Wenn man einen auf Abgerissen macht ...

 

   "Dass J/K jetzt nach dem Fall der Mauer häufiger seinen famosen Chef in den aufgeknackten Osten kutschieren musste, hast du zunächst als ganz gewöhnlichen Vorgang registriert. Du konntest dem Fi­nanztourismus der kleinen Leute von Ost nach West und jenem der größeren Nummern in umgekehrter Richtung nichts Besonderes beimessen. Es hätte dich eher gewundert, wenn Karl dort drüben nicht mit von der Partie gewesen wäre. Es ist besser, warst du überzeugt, solche doch noch irgendwie gesellschaftlich zu kontrollierenden Zeitgenossen machen es. Es wäre nicht so vorteilhaft, wenn da mafiotische Halunken aus der ganzen Welt dort aufkreuzten und vor Anker gingen und unsere gebeutelten Brüder und Schwestern (nicht die der Prediger 'im Herrn', sondern jene aus den verklungenen Sonntagsreden salbadernder Politiker) noch mehr aussaugten."

 

   Mit J/K auf der Trebe? Alles immer wieder hinter sich lassen. Raus, wenn du mal wo drin warst. Immer die Türe wieder zu, wenn sich da eine aufgetan haben sollte. J/K war hingegen bestimmt bis ins Mark vermiest. Dem Gehabe da immer, dem er stets ausgeliefert war in der fetten Umgebung seines Arbeitsplatzes. Erst recht, wenn er als Chauffeur auf engstem Raum dem überhaupt nicht ausweichen konnte und es richtig im Genick hatte. Wenn er das Monetenpack kutschierte. Alles immer um die Penunzen. Und Einfluss. Und Macht. Da bleibt auch was hängen bei dem, den es eigentlich davor graut. Es kommt dem dann bestimmt immer mal in irgendeiner Verkleidung hoch. Irre, so zwischen seinem ganzen Nazimarxismus. Das würdest du dann nicht ertragen. Wenn man weggeht aus seiner alten Welt, da muss man die Türe hinter sich richtig zumachen ...

 

   "Bald bist du mit einer unangenehmen Besonderheit im Gefolge von Karls Ansinnen konfrontiert gewesen.

Eigentümlicherweise hat nämlich auch jeweils die Kon­kurrenz mit diesen Infos aufgemacht, die sich Karl scheinbar nur von dir veröffentlicht wünschte. Das nagte etwas, wenn auch nicht gerade gleich an deinem Selbstwertgefühl, so doch an deinem Vertrauen zu dem alten Schulfreund, dem du doch stets artig zu

Dien­sten gewesen bist. Genaugenommen hättest du ja von Treulosigkeit sprechen können. Zwar hast du zu Hause vor Wut darüber einen Küchenstuhl zertrüm­mert. Doch damit ist die Sau rausgewesen. Du hast es dir in der Folgezeit angelegen sein lassen, ei­nen kühlen Kopf zu bewahren – und darüber nachzudenken, wie du die Konkurrenz parieren könntest. Du bist zunächst sogar dazu bereit gewesen, die anderen damit zu linken, ihnen hie und da eine Ente unterzuschieben. Doch davon nahmst du Abstand (offen gestanden weniger aus ethischen Erwägungen heraus, denn diesen Aufwand mussten dir diese Trittbrettfahrer nicht wert sein, sondern einfach deswegen, weil sie dich im Falle einer Aufdeckung ordentlich am Arsch gehabt hätten). Es gelang dir schließlich auf ganz einfache und einigermaßen unverfängliche Art, den anderen immer um eine Nasenlänge voraus zu sein. Das polierte dir obendrein in deinem Laden das Ansehen gehörig auf. Du konntest dir daher des zwar unausgesprochenen, aber doch unumgänglichen Lobes der Betriebsleitung einigermaßen gewiss sein. Denn es gibt wohl auf dem Informationsmarkt neben der Qualität nichts Wichtigeres als die Geschwindigkeit, respektive die ständige Verkürzung des Abstandes zwischen Geschehnis und dessen Kundmachung. Du willst allerdings hier auch festhalten, dass dir bei deiner Aktion J/K's, des trinkfreudigen Boten, Erzähl­freudigkeit einigermaßen zustattenkam. Er steckte dir nämlich regelmäßig, wo er ebenfalls ein Kuvert ab­zugeben habe. Es ließ sich mit etwas Bakschisch, zum größten Teil in flüssiger Form, so richten, dass K/J den jeweiligen Auftrag mit einer angemessenen zeitlichen Verzögerung zu erledigen bereit gewesen ist."

 

   Verschnaufen! Schreibe kurz weg! Der Einbildung etwas nachgegangen, während der Qualm kleine Wölkchen macht. Da überkommt es dich: Die edelsten Erfolge sind jene, will dir einleuchten, an die man sich ihrer kurzen Dauer wegen im Gemüt erst gar nicht gewöhnen kann. Genau, ein guter Spruch. Den man ebenso aufs Verlieren anwenden könnte. Solche Sprüche klopfen! Mit so was auf die Straße – wenig Gepäck, alles beidseitig tragbar ... 

  "Deine Informationsquelle versiegte leider allmählich. War bald versickert und dann einfach weg. Du hast dich gelegentlich über dich selber gewundert, dass du dem nicht nachgegangen, geschweige denn irgendwie nachgehangen bist. Im Gegenteil. Alles was man zu lange gebraucht, das verbraucht sich auch allmählich, bist du damit zu deiner eigenen Überraschung eiskalt umgegangen. (Auch wenn dir der Kerl da vorhin wieder im Kopf stand. Du protokollierst es an dieser Stelle, dass er dir Episode bleibt!)

    Dass Karl eines Tages ein Schloss erworben hatte, erfuhrst du jedenfalls nicht mehr von K/J."

 

   Was dich heute hier so alles überkommt. Das mit der Straße ist schon wieder da. Jetzt allerdings ohne Begleitung. Es ist ja auch kein Wunder mit deiner Verhocktheit zurzeit. Die eine schiere Versessenheit ist.

   Du solltest doch endlich hinschmeißen. Aufstehen und gehen. So wie die Burschen, die sagen, dass sie sich nur Zigaretten holen gehen. Sich selbst nur in Hausschuhen auf den Weg machen. Und nie mehr wiederkommen ....

   Man müsste jedoch seine vier Buchstaben erst mal hochkriegen ...

   Natürlich treibt es dich um. Jetzt auch noch als Vorwurf, dass es bei dir nicht einmal dazu reicht. Einfach ... – Es mag dann eine Schachtel Zigaretten gedauert haben, bis da etwas einigermaßen Tröstliches heraufzog: So etwas, das gleichsam als ein Ersatz herhalten könnte für das immer wieder mal angedachte Anders-Handling deines ... – ja was denn? Deines Lebens? Gleich so viel? Bleibe bei dieser Frage nicht hängen!, bestimmst du dir. Gib dir einen Ruck und versuche wenigstens eine andere Schreibe. Lasse dir die Geschichte um Karls Schloss ein gefundenes Fressen sein und noch einmal durch den Kopf gehen. Mache doch etwas anderes daraus als nur so eine Notiz wieder.

(Damit nach Wochen die Erfüllung deines schreiberischen Selbstauftrages. Du gönnst dir hier wieder eine ganz andere Rollensicht – nämlich deine eigene und seit einiger Zeit ja fremde.)

 

   "So eine heiße Pracht: 

   Es mochte Ende der Neunziger gewesen sein, da hatte endlich einer dieses Schloss erworben. Es lag immerhin inmitten herrlicher Natur und obendrein in Großstadtnähe. Allerdings halste sich der Käufer damit eine Ruine auf. 

   Nachdem sich das Erstaunen darüber gelegt und sich herumgesprochen hatte, um wen es sich bei dem neuen Schlossherren handelte, wurde in der Zeitung eine kulturelle und heimatpflegerische Tat der Familie dieses Industriellen daraus. Dies geschah sozusagen auf Vorschuss, der Zustand des alten Gemäuers ließ jedoch gar keinen anderen Schluss zu, als dass zumindest bauliche Erhaltungsmaßnahmen ergriffen würden. 

   Kein Museum sollte daraus entstehen, das war schnell klar.

   Es sollte neben der Möglichkeit zur Repräsentation auch Wohnlichkeit hergestellt werden. Die Pläne dazu lagen bald auf dem Tisch – gefolgt von den Bedenken des Denkmalschutzes. Mit Anwälten und Fachgutachten war jedoch Paroli zu bieten. Als sich am Ende doch noch das Bauamt an den geplanten sanitären und sonstigen Installationen als erheblichem Stilbruch festbiss – und dies mit möglichem Erfolg, kam der Prozess ins Stocken. Jedenfalls vertagte sich der Bauausschuss, ohne einen Beschluss fassen zu wollen. Darauf nahm die Presse einen tiefen Atemzug von der Luft über den Stammtischen und brachte einen Leserbrief: 

 'Da will ein zwar gewiss nicht mittelloser Mitbürger sein Geld immerhin in das erhebliche Risiko des Erhaltes eines altehrwürdigen Gemäuers stecken. Er plant das unter Opfern und Mühen, anstatt sich problemlos etwas Neues hinstellen zu lassen. Da ist dieser Heimatfreund und Kunstkenner unter Zurückstellung von Eigeninteressen bereit, der Öffentlichkeit ein Stückchen örtlicher Vertrautheit und baulicher Kultur zu bewahren. 

Gerade staatliche Stellen hätten bei ihrer chronischen Geldknappheit dankbar sein müssen, dass ein privater Investor für eine im Grunde öffentliche Aufgabe die Geldbörse öffnet. 

Es leuchtet aber einigen Köpfen in der Kreisverwaltungsbehörde nicht ein, dass sich ein Mensch unserer Zeit kaum nur mit Wessobrunner Stuck und Marmorsäulen begnügen kann und dass er auf Ausstattungsstandards gar nicht verzichten kann. Jedes Bauernhaus hat heute elektrischen Strom und fließend Wasser. 

Es ist kaum nachvollziehbar, dass behördliche Stellen wieder ihr Knüppel-zwischen-die-Beine-Spiel betreiben und den Fortgang der Restauration des Bauwerkes mit Behördenkram behindern. 

Tatsächlich vernichtet das kleinkarierte, kurzsichtige Paragrafenreitertum ein großherziges Konzept zum Erhalt des unwiederbringlichen Kleinods. Man muss mit größtem Bedauern feststellen, dass dieses Stück Heimat nun wohl dem endgültigen Verfall preisgegeben ist. 

Auch wird die heimische Wirtschaft das Nachsehen haben. Dass sich auf einen Investor dieses Kalibers mit Sicherheit bereits andere Gemeindesäckel freuen, ist abzusehen.

(Name der Redaktion bekannt)'

 

   Das hätte wirken und den Bauausschuss in eine positive Entschlusslaune versetzen können. Es war indessen durchgesickert, dass sogar ein Golfplatz und ein kleiner Flugplatz geplant seien. Gleich stürzten sich die Naturfreunde darauf. Ihr Kampf um den Er­halt 'des idyllischen Fleckchens Erde' begann mit Leserbriefen. Die Heimatzeitung hat sich, wenn auch mit gehörigen Kürzungen eingreifend, dem nicht ganz verschließen können, war jedoch sozusagen zwischen zwei Stühlen platziert. Denn einerseits haben die Öko­kämpfer mit ihrer Angriffslust das Meinungssediment aufgemischt und somit gewiss Lesebereitschaft mobilisiert, andererseits hat man sich der Stammleserschaft verpflichtet fühlen müssen, die so einen Wirbel immer als störend und unerquicklich ablehnte. 

   Die Schwierigkeiten des Schlossherren mit den Behörden wurden dann im Wege mehrerer Zugeständnisse beseitigt und die ökologischen Einwände, da sie po­litisch dort hineintransportiert worden waren, vom Kreistag niedergestimmt. Die Mandatsträger waren offenbar überzeugt worden, dass sie nur die Wahl hatten zu entscheiden, ob das heruntergekommene Gemäuer im Rokokostandard ganz verfallen oder aber auf modernen Level gebracht, nämlich mit elektrischem Strom, Heizung, fließend Wasser und zeitgemäßer Infrastruktur ausgestattet, überleben sollte. 

   Lediglich der 'Indoor-Swimmingpool', der in der Schlosskapelle hätte eingerichtet werden sollen, hat sich nicht durchsetzen lassen. 

   Schließlich stand die Einweihungsparty an. Von der Presse wurde alles gründlich vorbereitet, so dass auch das gemeine Volk darin schwelgen können würde. 

   Als es so weit war, fuhren die Erwählten auf, entschwebten oder entkrochen dem Fond der großen Limousinen, deren Türen gemeinhin von Chauffeuren geöffnet worden waren. Große Abendrobe, schwarz-weiß – schimmernd, glänzend, gleißend die Damen, nach außen gekehrte Safes. Zwischen den Pinguinen auch mal ein blauer Frack oder jemand mit einem Halstuch statt des Binders. Mit ein paar Zupfübungen wurde die üppige Kleidung zurechtgerückt, natürlich ohne die mühsam erzeugten Lässigkeiten in spießige Ordnung zu bringen. Dann schritt man und trippelte frau, locker untergehakt, zuweilen gnädig lächelnd, von rokokolivrierten, fackeltragenden Lakaien geleitet, ins strahlende Palais. 

   Auch die Presse hatte sich etwas fein gemacht, wenigstens obenrum. Ihr Vertreter erschien mit Krawatte und dunklem Jackett. Untenherum musste der ausgebeulte Pumpwurm genügen. 

 

   (Es ist zwar anstrengend – jetzt schon. Aber du wirst noch einen draufsetzen! Du wirst jetzt versuchen, ein Spielchen mit dir selber zu treiben und sogar zu wagen, in dein Ich zu schlüpfen – um dich dir fernzuhalten.) 

 

    Dieser in der eben beschriebenen Kleidung steckende Zeitungsmann soll von nun an aus seiner Sicht Bericht erstatten, da er ja bei dem Event zugegen war. Er war seit längerem mit der Angelegenheit befasst gewesen. Es war sogar schon gemunkelt worden, dass er diesen zitierten Leserbrief fingiert hatte. Sein Na­me braucht allerdings nicht erwähnt zu werden – was gerade in einem solchen wie dem darzulegenden Fall durchaus ratsam ist. Er wird also persönlich weiterprotokollieren. 

 

   Nun gut: Ich drängte mich dann – nämlich nach dem vorhin geschilderten theatralischen Aufzug – in einem Pulk bestellter Zuschauer und abgestellter Dienstboten zum Eingang und erzeugte mit den anderen Fotografen Blitzlichtgewitter.    

   Am Portal machten die Livrierten Halt, warteten ein wenig, bis die Herrschaften in die von Lüstern erhellte, mit Musik ausgeschallte Freundlichkeit weggetaucht waren. 

   Nachdem das Hauptkontingent der Gäste eingezogen war, wurde das Spalier aufgelöst. Die Dorfbewohner, die meisten in Tracht, bekamen etwas abseits eine Kleinigkeit zu essen, origineller Weise in ein weißblaues Tuch gebunden. Vergelt‘s Gott!, hörte man immer wieder. 

   Eigentlich wäre es das jetzt auch für mich gewesen, denn ich hatte Fotos und wusste, wer alles aufgekreuzt war. Aber ich wollte das Feld noch nicht räumen, auch deswegen nicht, weil mir der Magen knurrte und ich Atzung witterte. Es wäre zwar möglich gewesen, mit Presseausweis den Haupteingang zu benutzen. Ich hätte dann aber wegen meiner Kamera dauernd ihre Schöngesichter sozusagen auf dem Hals gehabt. So drückte ich mich durch den Lieferanteneingang ins Innere. 

   In der Halle gelang es mir, auf der Galerie hinter einem Säulenpaar Stellung zu beziehen. Zwischen den Säulen hindurch konnte ich gut beobachten und sogar fotografieren. Vor mir spielte sich nämlich alles wie auf einer Bühne ab, nur eben tiefer gelegen. Ein ausgezeichneter Platz. Es rührte sich üppig da unten. Hier oben ist sonst keiner. Es ist hier richtig angenehm. 

   Man könnte einduseln, war ich versucht. In dieser Position, mit diesem Überblick oder besser sogar Einblick – auch in die Balkone der tief ausgeschnittenen Damen. Vielleicht was zum Futtern mausen. Was Flüssiges auch. Dann einfach nichts tun. Irgendwann gibt es womöglich etwas mit der Kamera einzufangen. Wie auf einem Ansitz fühlte ich mich, auf einem Jägerstand. Sie waren noch bei der Begrüßung, konnte ich sehen, immer wieder offene Arme, Bussi. 

   Dieser vielstimmige Chor im Parkett. Geräuschkollektiv der Beauty Peoples. Doch immer noch reichlich verhalten. Sie sind noch nicht auf Touren. So eine Gedämpftheit ist nicht ihre Art. Bei so einer Fete wie hier jedenfalls nicht. Allenfalls bei der Abwicklung ihrer Geschäfte. Wenn es etwas unter der Decke zu halten gilt. 

   Ab und zu lösten sich doch ein paar Gesprächsfetzen: ... wie in der heiligen Wieskirche kommt man sich hier vor, nur mit lauter ungetauften Geistern dort über einem an der Decke um diese Jagdgöttin ..., lästerte einer, ... sozusagen weit über uns getauften Heiden hier unten!, lachte er seinem Einfall nach. Ich folgte seinen Worten nach oben. Eigentlich hatte er Recht: Der rankende Stuck; die bunten, mit Natur und schwebenden Gestalten gefüllten Fresken – die Decke schien zu schwingen. ... exzellent, diesem Hausherrn seine Buchhaltung möchte man mal durchstöbern ..., hörte ich noch. 

   Gute Akustik hier, war ich überzeugt. 

... und dem seine Konten in der Schweiz. Man muss ja zusehen, dass man sein Geld am Finanzminister vorbeibekommt, wenn man es nicht hier mit ein paar Subventionskröten staatlicherseits alimentiert unterbringen kann. Unsere Politik ist mit dem neuen Osten so meschugge, dass sie einem das Geld aus der Tasche zieht, um es dort drüben hineinzupumpen ... 

   Ich wäre gerne noch etwas näher an den beiden Finanzjongleuren gewesen. Die hatten vermutlich noch mehr von diesen Schlauheiten auf Vorrat – und nicht nur Ansichten über diesen Schlossherren M. (der Name darf aus presserechtlichen Gründen leider nicht genannt werden!). 

   Diener schritten immer wieder an die Grüppchen heran. Jetzt war einer bei den beiden, deren Gespräch ich belauscht hatte. Sie wechselten das Thema und begannen, über die Zigarren auf dem hingehaltenen Tablett zu diskutieren. Der Diener ertrug es mit Geduld, eine ganze Weile so dastehen zu müssen. Diese Haltung, ein Mix aus Artigkeit und Würde. Mir fielen jetzt die vielen Butler auf. Alle wie man sie vom Film kennt. Sie waren weiß behandschuht, hielten ihr Tablett auf angewinkeltem Arm, boten Cham­pagner oder Zigarren und Zigaretten an, reichten den Rauchern Feuer. 

   Ich sitze auf dem Trockenen, packte mich der Neid. Ein in Rokoko gewandeter Maître de Pläsier ließ einen Tusch ausbringen und ersuchte die hochverehrten Da­men und Herren um geneigte Aufmerksamkeit. Während zwei Posaunen erschallten, deutete der Maître mit einer ungemein graziösen Geste auf eine Tür. Ich hatte kaum Zeit, über diese Verrenkung zu reflektieren, denn da schwebte bereits ein Dutzend Schürzchen und Häubchen herein. Das Aufsehen war groß und die Küchenfeen wurden mit Beifall bedacht. Jede der kurzberockten Maiden hatte auf elegante Weise ein Tablett mit Häppchen geschultert. Sie tänzelten hin und her und zwischen den Grüppchen hindurch. 

   Die Posaunen zogen ab und machten fünf feixenden Violoncelli Platz. 

   Bald waren etliche Tablettserien abgeräumt und die Mägen fürs Erste wohl gefüllt.  

   Die Ballerinas tanzten ab. 

   Die Cellisten hatten immer noch ihr Grinsen, während sie die Instrumente stimmten.   Etliche Herrschaften wandelten nun ein wenig plaudernd umher. 

   Jetzt schienen die nach Ansage akademischphilharmonischen Musiker ihre Instrumente auf Klang gebracht zu haben. Ihre Mundwinkel waren immer noch honigkuchenpferdesüß, als sie zu einer Melodie ansetzten. 

   In die ersten Takte hinein hörte man jemand mit erhobener Stimme zu einem Vortrag ansetzen. Aus der Ecke zur rechten Seite kam es und steigerte sich. Die Musik nahm sich höflich zurück. Nach und nach hörten alle dem Störenfried zu. Man verstand ihn allerdings trotz seiner Lautstärke nicht genau, denn er hatte offenbar Schwierigkeiten, seine Zunge zu steuern. Ungefähr in der Mitte der Treppe zur Galerie stand er. Ein etwas struppiger Mann in mittleren Jahren. Er steckte in seinem Frack in einem buntkarierten Hemd. Er redete und redete und fuchtelte dazu wild mit den Armen.  

   Man merkte sofort, dass er zu dieser Stunde bereits gehörig abgefüllt war. Wissendes Lächeln in seiner Zuhörerschaft. Er war offenbar in diesen Kreisen eingeführt – und ich wunderte mich, dass er nicht auch bereits pressebekannt war, was ich natürlich bei Gelegenheit zu korrigieren dachte. Auf dem Gipfel seiner lautlichen Möglichkeiten angelangt, brüllte er mit überschnappender Stimme ein Wort in den Saal. Exalismus!, oder so ähnlich hatte es geklungen. Es hatte sich wie eine Drohung angehört. Alles verstummte im Nu. Er schrie es gleich noch mal. Tatsächlich: Exalismus. Die Leute in seiner Umgebung wichen etwas zurück, man konnte ja nicht wissen. Dagegen haben sich etliche Damen und Herren, die im Saal weiter weg ihrer Unterhaltung nachgegangen waren, der Szene genähert. Von diesen Zuwanderern wollte wohl einer den Redner noch mehr entflammen: Dieser Sartre, dieser wunderliche Ober-Existenzialist, ist doch zu den Bader-Meinhofs, dieser ganz ordinären Mörderbande, ins Zuchthaus gepilgert! 

   Etwas Unruhe im Saal. Laute, die wie 'pfui Teufel' klangen, waren zu hören.   Dazwischen ein verlorenes Kichern. Es war für einen Moment ganz ruhig. Ich wunderte mich. Selbst an den Celli wurde nicht mehr geschabt. Der Mann stand jetzt auf seiner Stufe ganz allein und glotzte ins Publikum. Das rotkarierte Hemd ätzte noch intensiver aus dem Frack. 

   Das ausdrucksstarke Nichts ist da zu betrachten, jenes mit Sartre und Co.!, war aus einer Ecke zu hören.  

   Den Worten folgte ein schütteres Klatschen. 

   Ich hatte mich nur für einen Moment gebückt, um die Kamera vom Boden zu nehmen, und wollte mich jetzt wieder dem Rotkarierten auf der Treppe zuwenden. Der Existenzialist war aber verschwunden. Nun, er war wohl irgendwie abgetaucht, um den Abend schlafenderweise, unter einem Tisch vielleicht, zu verbringen. 

   Nach dieser kleinen Einlage nickten sich die Musikanten zu und begannen unter ihrer Grimasse, die Saiten zu greifen und zu schrubben. Wagners 'Einzug der Sänger auf der Wartburg' erklang prall aus den Bäuchen der Instrumente und rief bei etlichen älteren Herrschaften leises Entzücken hervor. 

   Ich wechselte meinen Standort und besetzte einen Platz, der mir einen günstigeren Blickwinkel bescherte: Frisurenlandschaften taten sich auf, speckig glänzende Zonen dazwischen. Einige Paare schlenderten umher. Es wogte dort unten – und manchmal direkt im Takt der seifigen Musik. Die ganze Szene war eingerahmt von Greisen und Matronen, die in Polstersesseln hingen und in Gedanken, Gespräche und Genüsse vertieft waren. 

   Bewegung, Geräusch – und Erwartung. Natürlich, das hätte ruhig noch eine Zeit so weitergehen dürfen. Aber das geht hoffentlich nicht dauernd nur so weiter! Doch nicht bei diesem Malefiz, der nun auch noch Schlossherr war! Man kannte ihn ja, diesen famosen Kerl. Er hatte doch immer noch etwas in petto, mochte in den allmählich wohl etwas gelangweilten Köpfen umgegangen sein. 

   Vielleicht wird nach der Show mit den Häppchen bald das große Buffet eröffnet, bewegte mich. Ich war fest entschlossen, mich mit einer allerdings noch zu erfindenden List darüber herzumachen. Nur etwas Genierlichkeit wegen meiner knautschigen Klamotten hätte mich zurückhalten können, offen in Aktion zu treten. 

   Es zog sich noch eine ganze Weile so hin. Die Musik, mal Offenbach, dann wieder was von einem Walzer-Strauß. Die milden Klänge durchzogen die Gesprächskulisse und dieses Gemenge schwappte zu mir herauf. Gelegentlich konnte ich da und dort ein Gähnen beobachten. Das war ansteckend. Abwechslung wäre fällig gewesen ... Rauchen habe ich auch nicht dürfen. Da hätte mich der süßbrandige Qualm meiner ordinären Selbergedrehten als Fremdkörper verraten. 

Auf einmal begann sich ein Paar zu dem Streichen zu drehen. 

   Es waren ältere Leute. Die Umstehenden nahmen es kaum zur Kenntnis, machten lediglich ein wenig Platz. Die schiere Verzweiflung, lästerte ich. Zwei, drei Paare ließen sich schließlich anstecken. 

   Das mit dem bisschen Tanz konnte es ja auch nicht sein. Man wartete weiter auf etwas, was neuen Auftrieb gebracht – und vielleicht ein wenig voneinander abgelenkt hätte. 

   Die Celli schrubbten allerdings, durch die spärliche Verwertung ihrer Kunst herausgefordert, um einiges wackerer. Doch das verebbte dann auch wieder, nachdem die Tänzer nach und nach ihr Drehen eingestellt hatten. 

   Zwar etliche Gesprächsinseln. Aber Stumpfsinn hing im Raum – wie die Tabakhechte da und dort. Die Damen und Herren sind schon von einem Bein aufs andere getänzelt. Etliche hatten sich auf den Stufen niedergelassen. 

   Gelangweilte Blicke zur Decke. Ich folgte ihnen. Ach ja, die Fresken, in Stuck gefasst: Eine barockfüllige Diana mit Pfeil und Bogen in angenehmer pastellfarbener Natur, von drallen Putten umschwirrt. Raffiniert streckte Diana ein üppiges Stuckbein aus dem Fresko. Dieses Überquellen der Körperlichkeit: Vielleicht ein Fall für Weight-Watchers, kicherte ich mir zum Zeitvertreib. 

   Wie ich so vor mich hin ödete, schockte mich der Gedanke, dass da noch die Ansprachen zur Eröffnung ausstanden. Um Gottes willen, das würde besonders unangenehm werden, wenn Politiker anwesend sind. Ich suchte nach welchen.   Bestimmt werden dann im ganzen Haus alle Toiletten besetzt sein.

   Ich guckte umher, dieses und jenes fiel mir auf, nichts Besonderes zunächst, doch war ich immer sozusagen sprungbereit, etwas einzufangen. Das ist der Beruf, sagte ich mir. Ich hielt Ausschau über die Köpfe hinweg und auch zum Portal hin. Da! Es durchfuhr mich wie ein Blitz! Was war denn das für einer? Ich starr­te dorthin und riss die Kamera hoch. Eine bizarre Gestalt war am Eingang aufgetaucht. Kurioses Outfit: Schlapphut, Sonnenbrille, lappiger Trenchcoat ... Sonnenbrille hier und jetzt? Wie in einem miesen Krimi. – Den Fotoapparat in Anschlag gebracht. – Wie dieser Bursche durch das Foyer hastete und schnurstracks die Treppe hinauf, zwei Stufen auf einmal. – Abgedrückt! – Hatte nicht nach links, nicht nach rechts gesehen. Kopf eingezogen und durch. – Noch ein Bild, denn das könnte irgendwie interessant werden! – Ach ja, mit einem Koffer war der Mensch hier durchgerannt, erinnerte ich, als er bereits weg war. Auch das Gesicht! Das musste schon einmal etwas von einer Schrotladung abbekommen haben. 

   Diese Beobachtung hatte mich richtig aufgekratzt. Ich dachte mir, dass da endlich noch etwas anstünde, was wieder Laune bringt. Dann machte ich mich an die Flasche heran, die da jemand abgestellt hatte. Erst schnuppern, sagte ich mir, denn da kann alles Mögliche drin sein. Vielleicht hatte gar einer Ro­koko total gespielt, blödelte ich bei mir, wo sie keine Toiletten in ihren Schlössern hatten. Aber es roch angenehm nach Sherry. 

   Diese Pulle setzte mir allmählich zu. Ich war bald ein wenig benebelt. Die Musik, das Stimmengewirr und die Mixtur des Echos von den hohen, kahlen Wänden her. Dieses Gedröhn, das bei mir ankam. Ich setzte mich und lehnte mich lässig an die Säule. 

   Da zerriss ein schrilles Kreischen meine Dunstglocke. 

   Im Saal herrschte augenblicklich Stille. Überraschung.

   Kommt jetzt endlich etwas? Abwechslung, Aktion, Amüsement?

   Die akademischen Philharmoniker blickten sich eine ganze Weile erschrocken an. Sicher, der Laut hatte ihre Harmonie zerfetzt. Die freundliche Larve war nicht mehr im Gesicht, und sie vergaßen zu streichen, ließen den Bogen an den Saiten entlang nach unten schaben. Aus den Bäuchen der Instrumente kamen noch ein paar Grunzlaute. 

   Alles lauschte. Dann schaute man etwas ratlos um­her und wartete auf eine Fortsetzung, wenigstens Wie­derholung, besser natürlich noch Durchführung, von was auch immer, aber immerhin von etwas. 

   Doch da kam nichts mehr. Achselzucken. 

   Schließlich fiel alles wieder in diese träge Bewegung. Die Musik hatte auch wieder ihr Gesicht – und 'Donau so blau' erklingen lassen. 

   Ein gellender Schrei vom Treppenhaus her übertönte die Donauwellen. Es hatte fast so geklungen, als hätte da jemand Feuer gebrüllt! 

   Prompt versiegte die blaue Donau, und den Leuten hatte es mitten im Satz, mitten im Wort die Sprache verschlagen. Man stand wie angewurzelt da. 

   Feuer!, zerriss diese gespannte Lautlosigkeit. Das hatte geschockt, alle waren im selben Augenblick zu so einer Bewegung wie zu einem Knicks zusammengezuckt. 

    Jetzt packten die Gesichter ihre Instrumente und machten sich davon. Die Herrschaften beachteten diese Flucht nicht. Sie standen immer noch beinahe reglos da. 

   Jetzt ein Winsellaut von irgendwo da oben. Es hatte schier etwas Komisches an sich. Man hätte lachen können – wenn einem da nicht doch noch der Schock von vorhin im Griff gehabt hätte. 

   Die Blicke bewegten sich zur Galerie hinauf. Doch da war nichts auszumachen. Alles suchte die Decke ab – und man wanderte in seiner Angst ganz unsinnig mit der Göttin Diana durch heitere Landschaft. 

   Es brennt!, gellte es gleich darauf. 

   Die Leute standen starr wie Skulpturen da. 

   Nach einer Weile löste man sich wieder, schaute im Raum umher und hinauf ... Es schien fast so, als ob alle auf eine Wiederholung warteten, vielleicht zur endgültigen Bestätigung des noch immer Unglaublichen. Da kam tatsächlich ein Kreischen: 

   Es brennt! 0 Gott, es brennt alles!

   Es hatte sich eigenartig hohl angehört. 

   Ein Verdacht keimte auf. Richtig wie im Theater hatte es sich angehört und hinter der Kulisse hervor. Ein Schauerstück! Alles fast so wie inszeniert! Verdammt, das war es doch auch! 

   Einer der Gäste stieß Laute aus, die sich wie Lachen anhörten. In die Gesichtszüge kam wieder Leben. 

   Da, ein Meckern, das wieder ein Lachen gewesen sein konnte. Prompt das Echo von irgendwo im Saal. 

   Das ist Theater!, war eine sonore Stimme zu hören, sie klang bedächtig, fest und Vertrauen erweckend. 

   M.!, rief einer in diese karge Heiterkeit. Menschenskind, das ist es ja! Das habe ich mir doch die ganze Zeit gedacht! Der Sprecher blickte in die Runde und holte tief Luft: selbstverständlich! Ich habe mir doch gedacht, verehrte Freunde, dass hier bei unserem M... noch etwas kommen müsste! Der Herr wendete sich zur Treppe und rief ins Leere hinauf: Meister! Wo bist du denn überhaupt, alter Junge? Er lach­te trocken und feixte in die Gesellschaft. Alle hielten Ausschau nach dem Hausherrn. Ich ging hinter der Säule in Deckung, als die vielen Augen meine Gegend erreichten. M. war jedoch nicht ausfindig zu machen. Es war allerdings zu spüren, wie die Ablenkung von der Horrormeldung, die ja jetzt als Klamauk gedeutet war, die Stimmung gelöst hatte. Die Herrschaften begannen zu plaudern, führten ihre Gespräche fort. Ein Kichern da und dort. 

   Siehe da! Auf der Bühne dort drüben saßen auch wieder die Kniegeiger und grinsten und machten ihre Musik. 

   Eine verflucht heikle Sache, das!, durchdrang eine mahnende Stimme das tönende Allerlei. Die Musik, allmählich darauf eingestellt, hielt mitten im gerade angeschlagenen Takt inne. Alle Augen wandten sich dem Rufer zu. Das sage ich ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren!, setzte der nach, um seine War­nung zu bekräftigen. 

   Zunächst kam nichts mehr. Man konnte den Mahner nur orten, wie er, grau und fett, mit Sektglas und Zigarre – und bereits wieder in seine Unterhaltung vertieft – an der Treppe stand. 

   Ungemein gefährlich!, trompetete der Mann dann doch noch ins Publikum, als dieses sich bereits abgewandt hatte. In diesem alten Kasten hier ist es allzumal gefährlich. Mit dem uralten, zunderdürren Holz!  

   Während die meisten jetzt diesen Worten durch Nicken ihre Zustimmung erteilten, machte er sich daran, ein paar Stufen zu erklimmen. Es dauerte etwas, die alten Knochen nach oben zu bekommen. Jetzt legte er die Stirn in Falten und alarmierte weiter: Da darf man Feuer nicht mal auch nur mit nackten Worten heraufbeschwören! 

   Erneut zustimmendes Nicken, das sich langsam steigerte, als immer mehr Leute diese Bewegung als eine allgemeine erkannten. Der ganze Saal nickte bald so. 

   Von wegen alter Kasten!, wagte sich da einer. Was für ein stilloses Wort für dieses Prachtstück hier!, setzte er hinzu. Hier ist ja immerhin beinahe alles so gut wie neu, und was sollte denn da passieren? 

   Diesen Worten begegnete man allerdings mit etwas Murren. Dahinein drang von der Galerie her ein Summen, ein Zischen, durchsetzt von einem Knistern. 

   Was war denn das wieder?, dieses komische Zischen und Knacken vorhin!, hörte man eine ängstliche Frauenstimme. 

   Aber Gnädigste!, wurde sie beruhigt. Das ist das neue Material. Das Neue stellt sich jetzt sozusagen dem Alten vor, mit seinen lauten Äußerungen! Mehr kann es ja nicht. Wir wissen doch alle, dass das Neue das immer auf diese unangenehme Weise unternimmt, denken wir nur an unsere Jugend! 

   Man freute sich: Ja, ja, in der Tat! 

   Ich habe es gleich gewusst, meinte ein Herr noch. Das habe ich nicht nur geahnt, dass unser M. da et­was inszeniert! Zum Teufel, das ist diesem Gauner denn auch gelungen! 

 

   Die Angelegenheit um das Feuer schien fürs Erste erledigt:

   Das Ganze eine Möglichkeit, freilich! Freilich auch mit einem gewissermaßen hohen Unterhaltungswert von schauerlicher Schönheit, die der Gesellschaft dort allerdings weniger das Zwerchfell als sie außen herum mittels Gänsehaut pflegte. 

 

   Jetzt rührte es sich wieder im Parterre, lebhafter noch als vorhin, allem Anschein nach richtig entspannt. Man war gelöst und über die bisherigen Attacken hinweg und konnte das mittlerweile anstrengende Lachen als freundliches Schmunzeln in den Mundwinkeln verschwinden lassen. 

   Freilich, was kann denn an unserer genormten, nachhaltig überprüften Sicherheit so einfach vergänglich sein? Das fragte sich sicher auch unser Gewährsmann. Er fuhr wohl mit den Augen das Säulenpaar empor, um sich der Geborgenheit zu vergewissern: Diese mächtigen marmornen Stämme! Sie ragten in die Höhe und haben ja Dianas Himmel getragen, und das bereits seit etlichen Jahrhunderten. 

   Als dann sein Augenmerk in Richtung Treppe ging, fiel ihm ein Tischchen auf. Drauf befand sich ein Tablett, auf dem irgendwelche Engel eine Pyramide von Köstlichkeiten aufgeschichtet hatten. Ein Geschenk des Himmels, dachte er sicher, begab sich hin und griff zu. 

 

   Ich hätte jetzt eigentlich ein paar Fotos von dieser heiteren Gesellschaft da einen Stock unter mir schießen können. Aber um Gottes willen, jetzt kein Blitzlicht! 

   Ich steckte gerade noch einen Happen in den Mund, da stach mir etwas in die Nase. Ich war erstaunt: Das ist doch nicht das Rauchfleisch in deiner Hand! Ich beschnupperte das Restchen zwischen meinen Fingern – und konnte verneinen. Aber gleich war es noch deutlicher in der Nase. Ein beißender Gestank. Klar, etwas Verbranntes! Tatsächlich, etwas massiv Angesengtes. Ich würgte den letzten Happen unzerkaut hinunter, dass es im Hals schmerzte. 

   Etwas Öliges, etwas irgendwie verflucht Chemisches! Schiere Wirklichkeit! Kein Witz mehr! 

   Mir hatte es den Atem verschlagen. Jetzt holte ich tief Luft und wollte schreien: Feu... Ich schnappte wieder nach Luft, als wollte ich die paar schon ausgestoßenen Buchstaben wieder einsaugen. Menschenskind, mit so einem Warnruf trete ich Panik los und ein Fliehen, Stürzen, Niedertrampeln vermutlich! 

   Dass ich ihnen das nicht antun dürfe, davon war ich überzeugt. Sofort überkam mich auch gleich wieder der Zweifel. 

   Ob dieser Qualm nicht doch zu einer Show gehörte, einer mit maßlosem Aufwand betriebenen Show, die man einem reichen Exzentriker durchaus zutrauen könnte? 

   Ich beruhigte mich damit, dass die feine Gesellschaft es ja jeden Augenblick selber merken und entscheiden würde. Ganz gewiss. Alle Zeichen sprachen dafür. Diana war nämlich fast hinter einer grauen Wolke verschwunden. Nur dieses üppige Bein lugte noch hervor. Das beißende Grau quoll aus den oberen Gängen nur so nach ...

   Da konnte ich mich ruhig heraushalten und sie die Entscheidung wirklich selber treffen lassen. Worin sie ja inzwischen Übung hatten. Bei den vielen Warnrufen bis jetzt. 

   Ich gönnte mir einen Schluck Sherry. 

   Als ich die Flasche neben mich stellte und ins Parterre sah, fiel mir auf, dass dort eine ganz eigenartige Betriebsamkeit herrschte. Die Musik war verstummt – und gar nicht mehr anwesend. Richtig! Obgleich keine Warnrufe zu hören gewesen waren, hatten sie, anscheinend nur ihrer Nase, ihrem Auge folgend, die Gefahr erkannt. Na, siehst du!, sagte ich zufrieden laut vor mich hin. 

   Hektik hatte alle erfasst. Alles strömte dem Ausgang zu. 

   Das sah wirklich nach Flucht aus. Von meiner Empore aus behielt ich das Szenario unter mir im Auge.    


    Ich fühlte mich in der zwar immer beißender werdenden Luft noch irgendwie sicher. Also etliche Fotos geschossen. Unten erkannte ich hinter den Rüstigen und Jüngeren einige Lädierte humpeln. Ihr Jammern erweichte immer wieder einmal jemanden, und es wurde Platz gemacht. Ein alter Herr wurde von zwei Livrierten in seinem Lehnstuhl weggeschleppt, er teilte fortwährend mit seinem Gehstock ins Leere hinein Hiebe aus. 

   Noch ein paar Fotos! Das durfte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen! 

   Ein Torflügel war zugefallen. Du lieber Gott, bei dem Run darauf! 

   Ich schoss in das Geschiebe und Gedränge und sagte mir bei nahezu jedem Abdrücken, dass die Öffentlichkeit ein Recht darauf habe, das alles festgehalten zu bekommen. 

   Ein Auflauf war unten! So etwas wie ein Flaschenhals war entstanden. Einige Männer mühten sich ab, den zweiten Flügel zu öffnen, doch der Gegendruck von innen war stärker. 

   Eine ganze Serie festhalten! 

   Ich entdeckte einen großen Sektkübel, griff ihn mir und stülpte ihn mir als Helm über. 

   Der Pulk der Fräcke und Roben saß an der Engstelle fest.

   Ein immer heftigeres Stoßen und Drängen. Angstschreie, Schmerz, Empörung. Dazwischen Befehle. Einige liefen wieder in den Saal zurück, irrten klagend umher, einen anderen Auslass suchend, kehrten zurück. 

   Ein Bild und noch eines! Das ist Dokumentation: Wer alles war es oder wer war es zuerst, wer alles ist drüberweg getrampelt? Das kann wichtig sein, danach ... Da wird man der Öffentlichkeit zeigen können, wie es um die Verantwortung für den Mitmenschen in solchen Situationen gestellt ist. 

   Ich stand immer noch an meiner Säule, die mir wie ein treuer Wächter das Gefühl von Sicherheit schenk­te. Ich beobachtete und versicherte mir, dass das meine ureigene Aufgabe sei hier und mein verdammter Dienst an der Allgemeinheit. 

    Einige irrten ziellos im Saal umher ... Noch ein paar Aufnahmen. 

   Angesichts immer dichter werdender Schwaden sah ich mich dann doch genötigt, mich in Sicherheit zu bringen. Dabei kam mir zustatten, dass sich da ein von meiner Ebene aus gut zu erreichendes Fenster befand. Es war durch zwei Säulen verdeckt und von unten nicht zu erkennen. So konnte ich mich ungestört vom Ort der Katastrophe entfernen und in Sicherheit bringen. Ich nahm den zum Schutzhelm umfunktionierten Sektkübel vom Kopf und sprang die vielleicht nicht ganz zwei Meter hinab ins Freie. 

   Ich saß eine Weile im Taunassen mit dem Rücken zur Wand. Eine Wohltat, die frische Luft! In Sicherheit und in einer alles in allem schönen Nacht. Tief durchgeatmet und das Ambiente genossen, noch etwas von den Köstlichkeiten aus meinen Taschen zu mir genommen. 

   Es war wieder an der Zeit, meine Aufmerksamkeit den schlimmen Umständen zuzuwenden. Dem Schreien und Kreischen nach zu schließen, das durch die Fenster drang, herrschte im Saal noch Panik.  

   Ich hatte mich schon etwas entfernt. Da hörte ich aus dem Inneren des Schlosses ein fürchterliches Ächzen. Gleich krachte und polterte es und stürzte prasselnd zu Boden. Die Fenster barsten und die Funken sprühten durch die leeren Höhlen. Die Decke samt Deckenbalken! Ach, die barockdralle Göttin Diana war aus ihrem Himmel gefallen und in Staub und Asche gesunken. 

   Welch ein Gleichnis, armer Krösus! Dass deine Götter aus deinem Himmel fallen, ging mir durch den Kopf. 

   Im Park suchte ich einen Weg um diesen gewissermaßen riesigen Ofen herum. 

   Ich verirrte mich zwar ein paar Mal. Der unaufhörlich anwachsende Schein der gigantischen Fackel, die das Schloss abgab, führte mich zurück. So gelangte ich auf die Frontseite, wo sich noch vor wenigen Stunden die Auffahrt der Gäste ereignet hatte. 

   Umhereilen dienstbarer Geister. Eine Überraschung für mich: Etwas abseits flanierten die Herrschaften umher, Arm in Arm oder solo. Die Geretteten. Kein Hinken und Humpeln mehr wie vorhin bei der Flucht. Andere standen nur da und betrachteten das glühende Schauspiel. 

   Plötzlich begann ein Deuten und Winken zum Schloss hin. Sie mussten etwas entdeckt haben. Ich konnte ausmachen, wie ein paar rußgeschwärzte Figuren durchs Portal wankten. Sie wurden mit Klatschen empfangen, umarmt und geherzt. 

   Die Damen und Herren waren lange und ausgiebig mit den Herzlichkeiten anlässlich des freudigen Wiedersehens befasst. Sie dehnten ihre Übungen auf ihre ganze Ansammlung aus. – Ein paar Bilder. – Auch die­se menschliche Seite musste dokumentiert werden. 

   Als die feine Kommunität nach einiger Zeit des Her­umquetschens überdrüssig sein mochte, widmete sie sich wieder dem Untergangsgeschehen, dem Umherhasten der Dienstboten vor allem. Ein Herr meinte, man müsse aufpassen, dass diese Leute nichts beiseiteschaffen, was dann erst im Antiquitätenhandel wieder auftauchen würde. 

   Ein dienstbarer Geist kam jetzt mit einer Schubkarre voll Flaschen an. Es dauerte nicht lange und das lustige Knallen der Korken war zu hören. Gleich machten die Flaschen die Runde. Selbst feine ältere Damen unternahmen es nach einigem Zieren, daran wenigstens zu nippen. Da und dort Wölkchen Tabakrauchs. Man war deutlich entspannt, stand nur so da oder spazierte gemächlich umher – hatte sich und im Grunde auch die Vergnügung ins Freie und damit ebenfalls in Sicherheit gebracht. 

   Wo ist eigentlich die Musik?, wollte jemand wissen. 

   Beim Untergang der Titanic hat man auch bis zum Schluss seine Musik gehabt – jedenfalls im Kino!, erinnerte sich eine Dame feixend.

   Durchdringende Geräusche vom Brand her, da war ein Knallen wie von einer Salve von Böllern. Das war Gas!, glaubte ein Herr erkannt zu haben. Alle wandten sich dem Geschehen zu.

   Von dort strahlten Licht und Wärme herüber – in der beginnenden Kühle der Nacht eigentlich angenehm. Eben schlugen Flammen aus den oberen Fenstern und große Teile des Dachs sah man lichterloh brennen. Die Dienerschaft eilte nun noch aufgeregter umher. Diese braven Leute sammelten unaufhörlich Dinge auf oder schleppten Gegenstände, die wohl gleich zu Beginn in rettender Absicht aus den Fenstern geworfen worden waren. Dadurch wurde es für die feine Gesellschaft immer gemütlicher und fast wohnlich, denn man hatte jetzt Stühle und Tische zur Verfügung, konnte sich auf Teppichen bewegen und sein Glas, das es jetzt auch bereits wieder gab, abstellen. 

   Nun auch mal wieder auf den Brand gehalten und abgedrückt. Erst jetzt erkannte ich, dass schon ein Feuerwehrtrupp dagegenzuhalten versuchte – und hielt das natürlich fest. 

   Noch immer war es mir nicht möglich, den Schlossherrn ausfindig zu machen. Wie gerne hätte ich auch von ihm ein Bild gehabt. Ein paar Worte vielleicht auch. An ein Interview wagte ich gar nicht zu denken.

   Vom Dorf her drang nun das Tütatü einer Feuerwehr. 

   War die Gesellschaft bis jetzt nur mit sich beschäftigt, konnte sie nun dem Auftritt dieser Truppe Aufmerksamkeit schenken. Es dauerte nicht lange, da stand auch diese prächtige Wehr, wohl von etwas weiter her kommend, mit ihren großen, vor Sauberkeit im Feuerschein blitzenden Fahrzeugen vor Ort. 

   Die Uniformierten sprangen heraus, setzten sich in Trab, und gleich rollten die Schläuche. Behände wurden sie an die noch freien Hydranten angeschlossen. Alles lief perfekt auf Kommando und im Takt ab. Die Leitern waren kaum ausgefahren, da sah man auch schon die Männer mit ihrer Spritze oben stehen. Wasser marsch!, ertönte der Befehl mit fester Stimme. Wasser marsch!, klang die Annahme des Befehls aus den Kehlen der Retter. 

   In den Schläuchen rührte es sich jetzt. Lagen sie bisher platt und schlaff am Boden, so erwachten sie nun zu Leben und begannen sich zu regen. Zusehends füllten sie sich und wurden prall und steif. 

   Eine ältere Dame war zu hören, wie sie zu ihrer Nachbarin sagte, sie wolle bei Ernst-August in Zukunft auch auf 'Wasser marsch' setzen. Gewieher, und etliche begannen zu skandieren: Wasser marsch! Immer wieder: Wasser marsch! Bis die Orgie durch die strengen Blicke des Feuerwehrhauptmanns allmählich abklang. 

   Daraufhin stand man oder saß wieder ruhig da, beobachtete beinahe stumm das Tun der strammen Retter oder glotzte minutenlang in die Flammen und genoss es, als hätte sich da der heimatliche Kamin zum Monster ausgewachsen. 

   Ein Donnerschlag! Die Gesellschaft tat wie auf Kommando einen Sprung zurück. Der Aufschrei war den Leuten im Hals stecken geblieben. Einige standen eine ganze Weile mit offenem Mund da. In ihren Horror hinein fuhren fauchend Stichflammen aus den Kellerschächten und züngelten blitzschnell die Stockwerke bis zur Dachtraufe hinauf.  Für Sekunden war die Nacht knallrot zerrissen. 

   Dann waren da noch Schreie, Schmerzensschreie. 

   Sie galten vielleicht dem Tritt, den jemand beim Rückzug von seinem Vordermann erhalten hatte. 

   Oder sie galten einem anderen Ereignis. Denn da war ein Feuerwehrmann von der Leiter gestürzt, war jetzt zu sehen.

   Vermutlich war er von der Wucht des Feuers hinabgeschleudert worden. Was auch immer, der arme Kerl lag jetzt am Boden. 

 

   (Man kann sich an dieser Stelle gut denken, dass unser Reporter sofort in Versuchung war, das ausgestreckte Elend auf Film zu bannen. Aber er hielt sich zurück und wollte erst in Aktion treten, wenn der Un­glückliche gerade, auf Trage verbracht, in den Sanka geschoben wird. So würde er nämlich den Ernst der Lage gleich mit erfassen.) 

 

   Die meisten eilten zur Unfallstelle, drängten sich schon und bildeten einen Kreis um den Pechvogel. Die Helfer hatten es schwer, durch das Spalier der Gaffer zu gelangen, bis jemand zornig schrie, dass sie sich hier alle in größter Lebensgefahr befänden, jeden Augenblick sei es möglich, dass irgendwelche Teile herabstürzten, vielleicht sogar ganze Mauerpartien einbrächen oder weggesprengt würden mit ungeheuerer Wucht. 

   Das hatte die Neugierigen verscheucht. Während sie dann so beisammenstanden, versuchte ich herauszufinden, ob es wirklich alle geschafft hatten, den Festsaal zu verlassen. Ich zählte und kam auf die von mir allerdings nur zu schätzende Zahl.  

   Trotz­dem vermisste ich etwas. Das rotkarierte Hemd fehlte. Sie haben wohl ihren Exoten da liegen und verschmoren lassen, war ich gleich überzeugt. Schade, dachte ich mir, denn diesen Sonderling wollte ich auch einmal meinem Lesepublikum vorstellen.

   Ich hatte keine Zeit, diesen Gedanken um meinen Verlust weiter nachzugehen, denn da rollte eine dicke Limousine an. Eine mittelgroße, etwas pummelige Figur entstieg ihr, der Landrat. Er vollführte ein paar gymnastische Übungen, um sich zu lockern, und sondierte dabei das Terrain. Ihn habe die Nachricht von dieser Katastrophe hier während der Generalversammlung des Gartenbauvereins erreicht, bekundete er. Er sei jetzt angesichts dieses Trauerspiels hier heil froh, damals sein Bauamt angewiesen gehabt zu haben, wirklich alle Sicherheitsmaßnahmen zu veranlassen. Denn was wäre das für ein Debakel, wenn beispielsweise zu wenig Hydranten für das Löschwasser zur Verfügung stünden? Alle würden sie wieder über ihn und seine Beamten herfallen. 

 

   Es war natürlich allen bekannt, dass das Amt bei der Baugenehmigung für M. zunächst sehr verhalten, dann aber mehrere Male – um welchen Preis auch immer – über das Gewöhnliche hinaus entgegenkommend gewesen war. Niemand wollte daher das Haupt dieses Instituts vergraulen und sich damit seine ei­genen Möglichkeiten verbauen. Etliche werden versucht haben, in die Nähe des quirligen Ankömmlings zu gelangen, einen Smalltalk zu starten oder eine witzige Bemerkung, vielleicht über das höllische Wetter an diesem Abend, abzusetzen. 

 

   Nachdem ich mich eine Weile dieser sich selbst verzehrenden Pracht dort zugewandt hatte, war ich mit Gedanken bei M. Mein Gott, der Arme! Ich hielt Ausschau nach ihm. Er wird sich zurückgezogen ha­ben, dachte ich, und noch um Fassung ringen müssen.    Ich ging umher. Um mich genauer umzusehen, blieb ich immer wieder einmal stehen. Der vom Schicksal Geschlagene, wie ich ihn nun schon betitelte, war je­doch nirgendwo aufzuspüren. Dennoch erwies es sich als ganz interessant, diesen glühenden Untergang da vor mir, dieses sündteuere Feuerwerk, von immer an­deren Stellen aus zu betrachten.  

   Ich wollte noch um die Ecke dort hinten und um den Mauervorsprung von der alten Befestigungsanlage herum. Dort ist man ganz nahe an der Brandstätte und hat doch Deckung, meinte ich. Deckung vor den jederzeit möglichen gefährlichen Auswürfen dieses Höllenfeuers. Deckung auch vor den Blicken der Anderen, denn als Beobachter bin ich immer am liebsten selber unbeobachtet geblieben. Es war obendrein leicht möglich, dass sich da hinten auch abseits des Brandherdes etwas Sehenswertes ereignet. Wer weiß? Dass sich dort Leute herumtreiben, die sich etwas von den erlesenen Kostbarkeiten aus dem Schloss krallen und davontragen. 

   Zwielichtige Gestalten ... Aufregende Dinge gingen mir bei meiner Pirsch durch den Kopf. Dazu passend überlegte ich mir, wie ich einem Schurken die Augen verblitzen würde, sollte er mich angreifen wollen ... Gleich hinter der etwa mannshohen Wehr lagen qualmende und teilweise noch glimmende Holzstücke. 

   Plötzlich ein dumpfes Dröhnen! 

   Ich war hinter einen Baum in Deckung gesprungen, hatte mich unwillkürlich geduckt, mich dann aber doch beeilt, in die Richtung zu sehen, aus der das Getöse gekommen war. Ich durfte nichts zu versäumen. Teile des Dachs waren abgesprengt worden: Dachplatten und Blechteile lagen herum. Das hätte mir ja zusetzen können! Ich grinste in Gedanken meinem Sektkübel-Helm nach, den ich bei meinem Sprung ins Freie zurückgelassen hatte, und atmete tief durch. Ob es wieder einen von der Feuerwehr erwischt hatte? Es rumorte weiter im flackernden Haupt des sterbenden Prunkkörpers, hie und da löste sich daraus eine ganze Serie von Explosionen. Ich wartete auf den nächsten größeren Ausbruch dieses bizarren Vulkans. Während ich so dastand, wollte sich mir sogar so etwas wie die Schönheit dieser Tragödie da vor meinen Augen offenbaren: Es war mir nämlich so zumute, als würden die aus dem Flammenmeer ausgeschleuderten Geräusche vom Park wieder zurückgeworfen werden; als würden sie sich an den glühenden Mauern aufheizen, neue Kraft gewinnen, um erneut zwischen die Bäume zu schlagen, um, jetzt vertont, eine Sinfonie des Grauens ... Ich bremste mich allerdings bei dieser schieren Ästhetisierung, dieser immerhin zumindest ein wenig verrückten In-Schönheit-Setzung sofort wieder aus – oder hatte gar keine Zeit, damit fortzufahren, denn da bot sich immerhin ein grandioses Schau­spiel: Das glühende Gerippe des mächtigen barocken Dachstuhls sank stöhnend, knarrend, krachend in sich zusammen. Überwältigend! Ich stand wie gebannt da und genoss das Schauspiel dieses prächtigen Untergangs: Eine Fontäne von Funken sprühte flammendurchsetzt empor und übergoss den weiten Umgriff mit seinem sanften Licht und überflutete die Schatten des Parks. 

   Von Ferne tönten begeisterte Rufe zu mir herüber, Jauchzen und lautes Klatschen. Das entriss mich meinem beinahe ekstatischen Zustand. 

   Ich betrachtete jedoch weiter das Sterben des stolzen Herrenhauses – und in einer zugegeben etwas süßlichen Anwandlung dachte ich, ihm damit die letzte Ehre zu erweisen. 

   Ernüchtert begab ich mich zurück zur Vorderseite – ... des Schlosses, wollte ich gar nicht mehr denken, aber eben Ruine auch noch nicht! Jedenfalls versuchte ich, in die Nähe der Gesellschaft zu gelangen. 

   Ich staunte nicht schlecht, dort tatsächlich M., den ja jetzt wohl gewesenen Schlossherren – und auch in voller Aktion erkennen zu können. Er schien ausgesprochen – und für mich ebenso verwirrend – unbeschwert. Er war der Herr dieses seines Kreises. 

   Alle hielten sich an M. – wenigstens in seiner nächsten Umgebung – und mit dem Glas in der Hand an sei­ne Plaudereien. Die altbekannte Form von lässig überspielter Aufgekratztheit und um pointierte Mitteilung bemühter Gesprächigkeit war wiederhergestellt. 

   Die Feuersbrunst, wie sie einer der Herren bezeichnete, erwärmte Leib und Gemüt jetzt noch mehr oder jetzt erst richtig. Ausgesprochen angenehm war es. Wurde es einem doch zu warm, war mit ein paar Schritten in Richtung Park die Kühle der niederrieselnden Frische des nächtlichen Taus zu genießen. Das hier alles kredenzt mit flüssigen und festen Genüssen des Leibes und im das Gemüt beruhigendem Bewusstsein, den Herrn, dessen Pracht da vor ihren und seinen Augen in Schutt und Asche sank, in völlig gelöster Stimmung in ihren Reihen zu wissen. 

   Ein nachgerade genial guter Verlierer, dieser M.!, war zu hören. Da war auch einer, der dauernd den Kopf schüttelte und anscheinend etwas gar nicht fassen konnte. Ich wollte wissen, was ihn umtrieb. Brillant!, sagte er immer wieder vor sich hin, brillant! Dieser Mensch ist sogar noch bei so einer Pleite einsame Klasse! Das war zwar nicht viel, aber ich hätte da auch nichts ergänzen können. 

   Man hatte sich jedenfalls wieder und beschäftigte sich miteinander und stellte so etwas wie eine Insel der Seligen im immer noch irgendwie hastigen Getriebe dar. Eine Menge Menschen bewegte sich nämlich um dieses Eiland der Unbeschwertheit: Uniformierte Helfer von der Feuerwehr waren natürlich noch da, die ihren Spritzkameraden zugearbeitet haben; die Hüter des Gesetzes, die ihren Dienst taten; hilfreiche Geister aus dem Dorf, welche, sich immer noch redlich mit geretteten Gegenständen abmühend, hin und her eilten; anderes Volk, das zwar nur gaffte, jedoch mit seinen erstaunten Augen wie Kinder am Weihnachtsbaum und daher beinahe rührend anzusehen war. 

   Es drehte sich wieder alles um sie, die Society. Auch war da ja immer noch das Schauspiel dieses Verlustes der ganzen Herrlichkeit – jetzt bereits nur noch als Kulisse des Promitheaters: Es rauchte und roch und machte seinen Spektakel, loderte auf und fiel in sich zusammen ... Jetzt freilich bei weitem gedämpfter als zu Beginn und allem Anschein nach gebändigt. 

   Da jettet man durch die Lüfte und weit weg und überall hin, um etwas zu erleben, hörte ich einen Herr, als er sich gerade eine Zigarre angesteckte, und dann erlebt man auf heimatlicher Erde dieses hier und noch dazu so absolut überraschend, wo es doch sonst für unsereinen eigentlich gar keine Überraschungen mehr gibt. Bei diesem M., den man doch auch schon mal auch irgendwie ein wenig für einen Ha­lunken gehalten hatte oder es eben nicht ausschließen wollte. Es gibt nun mal Geschäfte, bei denen einer immer irgendwie mit einem Bein im Gefängnis steht. Doch auch die müssen gemacht werden. Nun ja! Aber jetzt erleben wir ihn doch als einen tadellosen, generösen ... – was auch immer –‚ einen Gentleman eben. 

   Auch da hätte ich nichts hinzufügen können. 

   Der feine Herr paffte mit dem Qualm seiner Zigarre Ringel in die Luft und sah ihnen gedankenverloren nach, wie sie der Luftzug vom Feuer her in den Park trieb. 

   Alle kamen sie gewiss auf ihre Kosten. Es ging bis in den Morgen. M. und seine Freunde wollten sich am Ende noch einen Spaß daraus machen, die Männer von der Feuerwehr zu Gast zu haben. Die gegen Morgen zu etwas verbrauchte Stimmung der noblen Runde sollte durch den Mutterwitz der einfachen Leute aufgemöbelt werden. 

   Die wackeren und ob ihres Einsatzes doch ziemlich abgespannten Männer zögerten zunächst. Sie wollten erst darüber beratschlagen, ob man 'bei den Bonzen da' mitmachen solle. M. wusste sich auch dabei zu helfen, indem er, mit merklich schwerer Zunge zwar, aber jedenfalls in scharmanter Art, der Truppe einen Zuschuss für die Anschaffung eines neuen Löschfahrzeuges auslobte. Sie sollten kommen, um den Betrag bei einem Fass Bier, das bereits auf das Anzapfen warte, auszuhandeln. 

   Nun gut!, sagte der Hauptmann. Die Feuerwache müssen wir sowieso halten! 

   Das frische Bier schwemmte dann die Genussnacht aus dem Gebiss der Herrschaften und schenkte der Feuerwehr frischen Mut. Es ging bald hoch und laut her. 

 

   (Nun soll jedoch unser Berichterstatter wieder seiner Muße nachgehen und sich erholen können; allem Anschein nach wird er es nötig haben. 

   Wir müssen jedoch tatsächlich weiter bei der bis jetzt geübten Zurückhaltung bei der Namensnennung, insbesondere des M. bleiben, jetzt allerdings gar nicht mehr so sehr nur aus presserechtlichen Gründen. In letzter Zeit wurde nämlich bekannt, dass in dieser Brand­sache staatsanwaltschaftlich ermittelt wird. Über den Grund kann vorerst leider nur spekuliert werden. Dabei braucht man jedoch nicht bloß im Nebel herumzustochern. Es liegt nämlich direkt auf der Hand, dass M. sein Schloss hatte ... Na ja. 

   M. gehörte zu denen, die treuhandlich abgewickelte DDR-Betriebe aufgekauft hatten, und zwar in seinem Fall im großen Stil. Das war weithin bekannt, denn M. hatte sich von der Presse als Wohltäter feiern lassen, der Vermögenswerte und vor allem Arbeitsplätze erhalte. Er war also im neuen Osten mit einigen Geldmitteln eingestiegen.

   Fehlte ihm dann das Kapital, das er in sein Schloss gesteckt hatte? Oder drückte ihn diese Kapitalbindung, weil er noch ein weiteres Betätigungsfeld dort drüben im Auge hatte? Wird er sich folglich sein Fest­gelegtes wieder lockermachen haben wollen, nämlich mit Hilfe der Brandversicherung?

   Wie auch immer, das werden Gerichte festzustellen haben. Selber muss man mit seinen Mutmaßungen auf der Hut sein, sich nicht das Mundwerk zu verbrennen, solche Leute hetzen gleich ihre Anwälte auf einen – wie an anderer Stelle bereits dargetan.

   Sehr viel unangenehmer könnte es jedoch für unseren Augenzeugen werden, der uns seine Erlebnisse schilderte. Er hatte ja mit einiger Sicherheit Beweismaterial geschossen. Man muss sich nur daran erinnern, dass er zum Beispiel diese wunderliche Gestalt auf Film nahm. Jenes hereingehuschte Gespenst mit Sonnenbrille und Schlapphut. Da hatte er mit der Kamera doch bestimmt einen Ganoven eingefangen. Es wird auch zu ermitteln sein, was dieser in seinem Koffer hereingeschleppt hatte!

   Das ganze Bildmaterial! Wenn diese umfangreiche Dokumentation nicht ein oder gar der Schlüssel ist zu einer Beweisführung in Richtung Brandstiftung!

   Also ist auch sein Name sozusagen unter sicherem Verschluss zu halten. Verschluss, ein Stichwort! Nämlich für den Umgang unseres Informanten mit seinem Filmmaterial. Am besten ganz weg damit, möchte man ihm raten. Freilich! Ob das aber genügte? Denn da ist vor allem auch sein Beweismaterial in seinem Gedächtnis.

   Man kann ihm nur wünschen, dass da nicht ein kriminelles Entsorgungsteam bei ihm auftaucht, das ihm dann das Material sogar aus seinem Hirn wischt.

   Gehört hat man schon von solchen Praktiken.)".

 

   So, das war es und ganz verdammt entfremdet obendrein. Deine ganze Schreibe immer. Es ist die Zeit, die du dir zurückholen willst. Das siehst du jetzt deutlich. Es ist so wie Antiquitäten zu sammeln. Bruchstücke vielleicht auch nur. Frage dich jetzt nicht, was damit anzufangen wäre! Das tut man als Sammler nicht. Dieses Ich, das dir da wieder begegnet ist? Es ist beunruhigend. Schiebe es wieder weg – vielleicht solltest du dir den Joke genehmigen, dass man mit Antiquitäten äußerst vorsichtig umzugehen hat. Je wertvoller sie sind. Wieder Distanz markieren zum Gegenstand. Bon! Mit dieser Sache da um M.s Feuerwerk sollst du nichts mehr zu schaffen haben. Dieser Buchstabe. Diese Namensverweigerung ... Herausgeschrieben, ausgeleert, aus. Als Schnurre nur noch tauglich. Du warst auch zu lange an diesem Stück Dreck Vergan­genheit. Es hat wahnsinnig angestrengt. Du spürst es. Jetzt auch so ein Drehen. Beinahe so wie damals. Als sie dich plattgemacht hatten. Anderer Schutt kreiselt sich da ein. Aha, in deine Leere schwappt es. Die Vermutung um den Brief vom Tisch drüben. Dessen du dich entledigt haben wolltest ...

   Da muss noch eine Pulle Sherry im Keller sein. In den Keller zu deinen Bildern solltest du sowieso mal wieder ...

   Wahnsinn. Jetzt kommt so ein Verlustgefühl auf. Dieser graue Wisch, den du aus dem Fenster hast segeln lassen. Er scheint dir plötzlich zu fehlen. Vielleicht nur Neugier darauf. Was die dir mitteilen wollten. Eventuell sogar eine Einladung. Zu einer Betriebsfeier ... Es schüttelt dich vor Lachen. Dass du husten musst wie einer aus der Lungenheilanstalt ...

   Es hat gedauert, bis du wieder klar warst. Da sucht dich doch sofort Karls Feuershow wieder heim. Den Typ mit dem Koffer hast du vor Augen. Standbild auf deiner Mattscheibe. Wie er durch­geflitzt war. Wie einer, der Dreck am Stecken hat.

   Dazu das entsorgte Stillleben, das da auf dem Tisch gelegen war.

   Es flimmert wieder im Kopf. Da geht alles durcheinander ... 

   Es sind die Zusammenhänge, die einen so leicht abhandenkommen, indem sie sich verwirbeln.

   Du musst Klarheit schaffen! Einfach wie Frischs Anatol Stiller abhauen und auf einen anderen machen. So was flirrt dir jetzt mit all der Wirrnis auch noch durch den Kopf. Identität. Es gibt so viele Möglichkeiten immer. Ein Trost. Mit jeder Geschichte, die du für dich erfindest ...

   Du brauchst ja Tage, bis du dir sagen kannst: Jetzt doch nicht wieder das mit dem Abhauen. Noch nicht wieder ...

   Jetzt wird es dir auch wieder klarer im Hirn: Was ist dran an den Bildern von dem Strolch, der da durch Karls Prachtbau huschte? Als es noch ein solcher war! Herrgott, dass du die Bilder hast! Ganz bescheuert hinterm Ziegel. Du hast ihn doch geschossen! Du hast ihn richtig von vorne erwischt. So Perspektive: Passfotoqualität vermutlich. Ein Fahndungsfoto!

   Ab in den Keller und an deinen Steinzeittresor! Auch nach was Trinkbarem suchen. Mit dem du die Eindrücke wegwaschen kannst. Die dich vielleicht zu ersticken drohen. Wenn du sie sich auswachsen lässt in dir.

   Du greifst dir den letzten Apfel und beißt hinein, dass es knackt. Wieder das Blut, als du hinsiehst. Das passt ja. Die Psyche blutet im Mund – oder so was ... Zu deinem Outfit auch noch das.

   Aber heute noch in den Keller?, bremst dich aus. Es ist bereits duster geworden mit deiner Schreiberei. Wenn du da unten mit Licht rummachst? In deinem Kellerverschlag. Kann doch jeder reinglotzen. Und überhaupt, jetzt wo dir die Ganoven sicher noch auf die Pelle rücken wollen! Die mischen dich wieder auf, wenn sie dich zu greifen kriegen. Noch dazu mit den Bildern aus der Wand. Gerade wenn du das alles in der Hand hast und die Pulle dazu. Dass sie dir wieder alles wegsaufen bei ihrer Lieblingsbeschäftigung, Fleisch zu klopfen ...   

   Es dauert, bis du dein Grauen ein wenig im Griff hast. Man muss sehen, sagst du dir dann. Die Tür auf. Oder erst einmal eine Zeit lang den Eingang beobachtet. Das Kommen und Gehen. Ob da fremde Gesichter auftauchen. Oder durch den Keller und alles durchsucht!, riskierst du kühn. Jede Ecke. Ein Messer. Die Lampe. Dann soll so ein Fiesling auftauchen!

   Man verludert, so allein und in der höllischen Angst, gibst du dir dann zu.

   Erst mal doch erst den Eingang beobachtet. Dein Spiegel. Diese tolle Autorücksicht vom Vorbewohner noch: Wenn es unten läutet, dann siehst du von hinter der Gardine vor in die Richtung, ohne dass die Gardine wackelt.

   Überraschend läutet es an der Tür. Du schrickst richtig zusammen. Warten. Wer will denn zu dir? Da hat sich bestimmt wer vertan.

   Dann klingelt es noch mal. Jetzt länger. Es kommt dir noch lauter vor.

   Das lange Küchenmesser!

   Du schleichst dich zum Guckloch. So behutsam, dass keine Diele knarrt.

   Du tust den Blick durchs Loch.

   Da ist nichts.

   Will dich wer narren? Kinder?

   Vielleicht sind es die Gangster!

   Du willst schon weg und ans Telefon ...

   Aber das ist alle. Sie haben das Telefon abgestellt wegen der Rechnung.

   Es geht dir kalt in die Knochen. Du bist allein. Die brauchen doch nur gegen die Tür zu treten. Dann ist die auf. Du hast richtige Schiss ...

    Da hörst du was draußen. Ein Hüsteln. Feine Stimme ... Du siehst wieder durchs Loch. Da steht so ein Zwerg, siehst du jetzt. Was soll das denn? Aber du atmest erleichtert durch, legst das Messer weg und machst auf – erst noch mit der Kette vor, denn wer weiß, ob die Göre nicht nur vorgeschickt ist ...

   Das Kind hält dir einen dreckigen Fetzen hin: Der hat auf der Wiese gelegen, und die Mama hat gesagt, bring ihm dem komischen Kerl da oben. Aber ich darf nicht reingehen und muss gleich wieder weg ...

   Das Papier sieht aus wie ein Brief – dein Brief, dein ganz ...

   Im Zimmer lachst du laut. Du hältst dir den Bauch vor Lachen. Du lachst. Das ist gar kein Lachen mehr. Das ist so ein irres Brüllen, stoßweise. Bis es dich in der Lunge sticht ...

   Im Kopf dreht es sich wieder ...

   Dazwischen so schwarze Löcher ...

   Als du wieder zu dir gekommen bist, rennst du zur Tür und siehst nach, ob du überhaupt zugemacht hast. Weil du so ein Irrer bist ...

 

 

 

 

Die Fliege sagt: Ich setze mich auf die Fliegenklappe, da weiß ich gleich, wenn einer danach greift, um mich zu erschlagen

   Du kriegst dich am Papier. Das kommt dir ganz klar, als du deine Ich-Zeilen noch einmal überliest. So ein windiger Halt. So ein Hirnwichser, wie du bist ...

   Und dieser Schluss. Mit dem man es sein Bewenden haben könnte ... Als ob es nicht immer weitergeht. Jetzt nichts mehr hinpinseln von all dem Möglichen immer. Es reicht ja, wenn es da ist. Als Vorstellung. Oder so windig wie eine Vermutung nur. Du kommst eben über deine Einbildung nicht ... Die du vielleicht sogar zur Ahnung verwolken lassen solltest. Das wäre dann irgendwie versöhnlicher alles. Und nicht mehr so begreifbar. Und nicht fest umrissen. Und auch nicht kantig. Und nicht verletzend vor allem für dich ...

   Du hast ja damals ... Irgendwann in dieser Nacht hast du deine Zurückhaltung aufgegeben. Dich einfach unter diese abgewrackte Bagage gemischt. Wegen dem Kohldampf vielleicht. Oder so etwas. Die Leute sind alle so blau gewesen. Du bist keinem aufgefallen. Bestimmt. Alle waren so fertig. Verausgabt bei dem Angebot da. Du konntest dann den Vorsprung von denen einholen. Neigensaufer. Restefresser. So eine ganz verteufelte Nacht. Sie kauerten sich irgendwo zusammen. Lehnten sich an jemand an. Streckten sich einfach wo hin.

   Am Ende bist du ebenfalls auf der Strecke geblieben.

   Erwachen. O Gott, so ein elender Tag dann. Das viele Licht ist das Schlimmste an so einem Tag. In das man gar nicht passte. Dass man sich selber peinlich war.

   Karl ... Wer sonst als Karl?  ... hatte so was wie einen Aufräumdienst organisiert. Für liegen gebliebene Gäste. Der ganze Unrat dort. Der Mensch als Rückstand.

   Das hattest du noch mitgekriegt. Mit einem Pulk Taxis und so. Klar, Karl war längst wieder hell wach gewesen. Hatte Pläne geschmiedet. Wie immer. Hielt alle Fäden in der Hand. Hat sogar dich zu deinem Laden karren lassen.

   So muss es gewesen sein!

   So wusste Karl Mentenheim auch. Dieses Aas. Wo du dich aufhältst!

   Du dann wieder eingeschlafen. In deinem Geschäft im Klo. Auf der Schüssel ...

   Du dann wach. Neben der Schüssel. Da hast du dich gefühlt! Wie eben nach so einer Nacht. Und so einer Schlafstätte. Gut, dass niemand mehr im Büro war. Du hast dich nicht mal getraut, in den Spiegel zu sehen beim Waschen. Doch den Text bereits im Kopf. Eine Vorstellung, welche Bilder.

   Da war noch Zeit. Irgendwie. Eine Stunde vielleicht. Warum?

   Den Cognac eingeschenkt. Warum nicht auch jetzt was, wo dir das durch den Kopf geht?

   Eine Idee jetzt. Du richtest dich danach.

   Weil du dir gesagt hast, dass man den Teufel am besten mit Beelzebub austreibt. Solche Sprüche immer.

   Du hast noch nicht daran genippt. Da, dieses Getrampel. Da, diese verfluchten Kerle im Büro. Haben an dir ihre dreckige Show abgezogen ...

   Genau das ist damals abgegangen. Was dir den gesegneten Krankenstand eingetragen hat. Dich drin hält. Für alle Zeiten. Die so richtig krank machen ... Dieser Satan von Mentenheim hat gewusst. Wo du zu finden bist ... Das muss sich jetzt erst setzen! Was sich da aufgewühlt hat. Was sich aufdrängt. Was du noch gar nicht so richtig kapieren willst, obwohl du weißt, dass es wahr ist, diese Wahrheit, die man nicht verstehen kann, obwohl man will, die sich einem verschließt oder so eine Verhextheit. Da macht sich alles zu. In der Birne ...

   Die Schreiberei aufgegeben. Alles gesagt. Bis auf ein paar Stücke vom Nur-Denkbaren. Der ganze Spuk da zwischen den Zeilen. Der sich immer einschleicht. Der dich packt beim Lesen ...

   Dieser verteufelte Brief da! Den du auch nicht loswirst. Du wieder dauernd dran vorbei. Du kannst dir noch so oft sagen, dass es bescheuert ist – und er ist sogar richtig dreckig von seinem Ausflug – Ausflug bringt dich zum Lachen, aus-geflogen ist er ja im wahren Sinne, du haust dir auf die Schenkel wie so einer vom Gebirgsvolk und springst wie so einer von denen in der Bude umher und lachst dabei, bis dir die Puste ausgeht. Das hat sauwohl getan, schnaufst du dich noch frei ...

   Musst dich irgendwie zur Ruhe bringen. So. Oder wieder mal flüssig vielleicht und irgendwie doch ...

   Das Muffensausen vor den Gangstern ist es. Das muss auch irgendwie weg. Waffe besorgen. Umlegen, wenn sie auftauchen. Befreiungsschuss. Jetzt das Filmmaterial. Das kann vielleicht ablenken. Auch von den ganzen idiotischen Quergedanken. Endlich aus dem Kellerloch geholt. Es wird ja über die ganze Schose Gras ... Jetzt schon? Das bissl Zeit danach.

   Oder aus dem Haus. Das blöde Zeug da im Keller. Was sich da vorhin als Verdacht gegen diesen Mentenheim aufdrängte am Dampfen lassen! In deiner vielen Zeit. Da gehst du ja immer wieder mal zur Brandstelle. Sozusagen im Kopf. Oder du weißt gar nicht. Warum nicht auch heute. Aber richtig. Eigentlich sollte man dem Kopf misstrauen. Der einen so oft in die Irre führt. Tun. Es könnte erhellen. In der Dunkelheit immer.

   Die Schläger sind bis jetzt nicht mehr aufgetaucht. Wer vergreift sich auch an einem wie dir, der so angeschlagen ist. Nicht das mieseste Menschenvieh. Es gibt sie vielleicht doch, die vorerst leider nur literarisch hervorgezauberte Ganovenehre der Schreiberlinge. Sich einfach den Luxus des Glaubens an die Menschheit leisten. Kurz vor dem Irrsein wenigstens. Ihn dort mit hineinnehmen. Haha, als satte Mitgift. Als reicher Wahnsinnswerber.

   Von Polizei keine Spur.

   Fühlst dich irgendwie aufgerufen. Es geht schließlich um Ordnung. Innere Ordnung willst du dir nicht gleich wieder behaupten. Das ist immer zu viel ...

   Raus also. Durch die Straßen. Du zwingst dich. Keinen Blick mehr nach hinten zu tun. Auch hier schon im Zimmer. Das Zurücksehen holt dir deine Gespenster immer alle aus den Löchern, über die man sonst hinwegsieht. Aus Angst oder sonst was. Du zwingst dich: Geradeaus gehen und sehen ... Dann in deine Nuckelpinne und ab. Was die ausgelutschte Pflaume hergibt. Du fährst in deinem Kopf ... Du siehst gleich vor deinem inneren Auge. Dieser lächerliche Ausdruck. Nun schon das abgebrannte Ding noch mit seinen bloßen Mauern. Was noch vor kurzem so fein war. Natürlich, was sonst? Immer alles vom Feinsten. Bei diesen Affen in ihrem Geldurwald.

    Wenn du es innen bei dir nicht siehst, dann siehst du es eben überhaupt nicht.

    Wenn du eintreffen würdest, da könntest du sehen, dass sie eigentlich nur ein wenig sanieren. Mauerkanten abdecken. Damit das Regenwasser nicht den Ziegel angreift. So mit Frost zusammen, erklärt dir einer vom Bau.

   Du gehst zu dieser Perversion von 'Indoor-Swimmingpool'. Da könnte sogar das Dach noch drauf sein. Der größte Kitsch findet nicht nur die breiteste Zustimmung immer, sondern hält sich auch noch am längsten, weiß man ja. Du siehst ganz deutlich, dass es die Schlosskapelle war, die sie da mit dem Planschbecken vergewaltigten. Den Altar haben sie gelassen. Das sieht alles unbeschreiblich verrückt aus. Du läufst in diesem Irrenhaus mit offenem Mund herum. Hinterm Pool fällst du dann geradezu auf die Knie. Es überkommt dich. Du wunderst dich über dich selber, als dir ein Gebet durch die Sinne zu fließen beginnt: Ave ... sie sagen jetzt nicht mehr Weiber bei der Gebenedeiung ... 

   Es tut doch gut. Der Kopf erspart einem die Handarbeit und Mundarbeit und alle Bewegung, die oft so mühsam ist. Solltest dafür dankbar sein.

    Du würdest ja weitergehen und da und dort näher hinzutreten. Ein Plausch hier, ein Schwätzchen dort mit den Typen vom Bau. Du warst noch immer gleich mittendrin im alten Job: Ein wenig herumgestochert. Hier im Schutt gegraben, sozusagen. Ohne sich dreckig zu machen, gewissermaßen.     

   Auch im Abfall, im Auswurf gewühlt, wenn es sein musste: Zum Stochern geboren, zum Wühlen bestellt; mit Auswurf verschworen, gefällt uns die Welt. So hat man schon auch mal seinen Meister Goethe missbraucht.

    Sie haben eine verkohlte Leiche ausgegraben, könntest du erfahren. Du wüsstest das natürlich sofort einordnen und denkst an den buntkarierten Besoffenen, der wider den Stachel gelöckt hatte und dann unter den Tisch gesunken und ganz vergessen worden war. Du hältst aber dein Sprechwerkzeug. Hast den Kopf gleich woanders. Träfe sich gut, das mit den Bildern. Du könntest vergleichen. Dieses da, und jenes dort. Aber du müsstest das Fotowerk doch endlich aus dem Loch im Keller holen. Und entwickeln. Dich trauen. Das ist es eben.

     Erst mal zuhören. Die Leute reden gerne. Am liebsten mutmaßen sie. Mit dem schönen Bekenntnis: Ich glaube das und das. Glauben muss man doch dürfen. Wenn man es kann, dann ist man sich oder sonst wem den Beweis nicht schuldig.

    Zu Hause hier wieder an die Bilder gedacht. Was denn dran ist? Man müsste die Feuerpolizei anbohren. Was war überhaupt die Ursache dieses Brandes? Man hat gar nichts gehört. Verdächtig. Oder sattes Schweigegeld. Die meisten warten jeden Monat auf ihre paar Kröten für ihre viele saubere Arbeit. Wie viel Cash geht immer rüber bei den gemeinen Geschäften. An den meisten braven Leuten vorbei ...

    Du stapfst mit den Gedanken weiter ab und zu auf der Baustelle herum. Gestern erst wieder. Oder ist es heute? Du weißt nicht recht. Aber du grüßt freundlich. Und zwar immer, wenn du am Spiegel vorbeigehst, grüßt du dich, den du für irgendwen hältst.

   Man wird sich ja noch selber grüßen dürfen. Du stelltest in die Bauhütte einen Kasten Bier hin. Ins Ingenieurbüro eine Pulle Whisky. Und du gäbest dich ansonsten scheinbar nur anwesend.

   Wo bist du wirklich? Und die Zeit?

   Warum wartest du eigentlich? Dass du wieder arbeiten darfst für die paar Kröten? Das ist es auch, warum du den Brief nicht aufmachst.

   Du lässt alles mit der Zeit kommen und gehen, schiebst es ihr in ihre großen Taschen. Wie lange schon oder noch? Dann lässt dich bestimmt auch die Angst aus ihren Klauen. Du lässt das Leben, diese blöde Gewohnheit.

   Wenn dir gelegentlich einer von der Baupolizei über den Weg liefe, würdest du ihn ausquetschen. Ja nicht hingehen. Das sähe nach Schnüffelei aus.

   Dann doch endlich mal die Bilder. Oder?

   Du hast noch gar nicht richtig einen auf Recherche gemacht. Da hättest du bereits in der Bauhütte ihrem Diskurs lauschen dürfen. Die Leute wären offen. Man dürfe aber nicht zu viel erwarten: Zum Teil würde da öffentliches und letztlich Versicherungsgeld in der Baukasse klimpern, hättest du von allen hören können.

   Oder hörst du so etwas jetzt schon, ohne die Ohren aufgemacht zu haben? Ein immenser Fortschritt. Brauchst du die Anderen jetzt womöglich gar nicht mehr mit ihrer ekelhaften Zuträgerei? Dieser unappetitliche Mundgeruch immer, wie wenn sie grade immer Käse gegessen hätten.

   Das mit den öffentlichen Geldern wäre ja nicht neu. Ansonsten brächten dir die rauen Burschen vom Bau ja mehr über ihre Urlaubsorte zu Gehör.       


    Und über ihren Durst. Der dich jetzt auch wieder plagt. Und über ihre liebestolle Tüchtigkeit auf der ganzen Welt. Weiße, mal eine Schwarze, Gelbe, Braune. Die ganzen Farben durch. Und es hätte auch nicht lange gedauert.

   Da wären die jungen Königsfrauen in England drangewesen. Wären sowieso überall dran. In der Presse und dann auch in den Köpfen in der Bauhütte. Wenn du nur aufpassen wolltest auf so was.

   Der Sänger Franz käme dich jetzt häufiger besuchen und wäre ganz wohlauf. Der alte Bock. Dem du jetzt und immerfort den Respekt nicht mehr schuldig bleiben willst.

   Nicht ergiebig, hast du dir gedacht. Aber das kennst du ja als Jäger, der du stets bist: Du musst erst eine Menge Kleinzeug aus dem Niederwald passieren lassen. Bis vielleicht endlich auch ein kapitaler Hirsch im Sucher ist. Dann abgedrückt und abgeknallt und umgelegt und gründlich ausgewaidet ...

   Du öltest die Kehlen der Männer vom Bau gelegentlich weiter. Oder nur die deine? Im alten Brandkasten wüchse jedenfalls kaum Innenleben. Der vorherige bauliche Standard wolle und solle anscheinend auch nicht mehr hergestellt werden. Leuchtete dir ein. Wie Recht sie hätten. So eine Sache nämlich. Wenn sie diesen Kitsch da veranstalteten und rekonstruierten und das alte Zeug nicht sterben ließen, was ihm ja zustände wie dem Menschen, der ja auch seinen Kratzfuß machen will, aber sich eben nicht gleich traut. Das hätte der Denkmalschutz auch bereits eingesehen, erführst du vom Ingenieur anlässlich der Visite des Konservators, der doch irgendwann mal kommen müsste. Trotzdem sollte es Geld geben für eine Ruinensanierung. Pervers alles. Wo du hinsähst. Da wäre die Verschwendung schon lange dort.

   Du bist jetzt noch häufiger vor Ort. In der Fantasie. Die jetzt immer leichter werden. Es spielt sich alles so beschwingt, duftig, luftig im Hirn. Gar nicht mehr so drückend und bedrängend ...

   Auch die Gemeinde greife in das Säckel, wolltest du gehört haben. Karl Mentenheim sollte zugesagt haben, dass sie ein Heimatmuseum in der verschont gebliebenen Kapelle einrichten dürften, wollte einer von der Bauhütte wissen, der einen Vetter im Gemeinderat haben soll. Jedem Gerede müsste man nachgehen. Man müsste es nachzeichnen in seinem Kopf, ja immer wieder der Kopf, das Haupt oben­drauf und nicht nur die Pforte fürs Fressen und Getränk, sondern ein Stockwerk höher im Gewerke. Das alles hast du immerhin noch nicht verlernt. Du dehntest dein Interesse aufs Rathaus aus. Der Hausmeister dort. Der ließe blitzschnell den Fünfziger in der Hosentasche verschwinden. Eine Geschicklichkeit, die auf Training zu schließen Veranlassung zeitigte. Er ließe raus, dass die öffentliche Hand auch den Umbau der vom Feuer gänzlich verschonten Stallungen im Schloss finanzieren würde, da dort ein Schulungsraum für die Feuerwehr geplant wäre. Das spuke alles jedoch vorerst nur in des Herrn Bürgermeisters und des noblen Herren Mentenheims Birne gespenstisch herum. Natürlich in seinem, des Hausmeisters, Ohr, wo es seine Wirklichkeit hätte. Nämliches, dass er es, das Ohr, anlässlich geheimer Besprechungen beim Bür­germeister nur ans Heizungsrohr zu drücken bräuchte. Was er selbstverständlich aus Gründen des Anstandes grundsätzlich nicht, sondern nur in Ausnahmefällen durchführe.

   Irgendwann steckte dir der Sänger Franz, dass er jetzt eine kleine Freundin hätte. Es hieße auch junge Freundin. Matratze, hätte er gesagt, obgleich du dich verhört haben könntest. Ganz egal, selbstredend, ob klein oder jung. Das wäre dem Franz wurscht. Er hätte gelacht, dass die jetzt wartete, dass er abkratze. Um das Haus zu kriegen, diese vier Wände, respektive mit dem Dach über dem Kopf, wie es heißt. Dass sie dann mit ihrem jungen Kerl einziehen könnte. Von dem er natürlich auch wisse, weil er nicht ganz so blöde sei. Was die dauernd miteinander für Sachen treiben, die eine Sünde sind, im Sinne der Unzucht. Was ihm auch nichts ausmachte. Solange sie ihn und ihm saubermachte. Jedenfalls sagte der Franz dir immer, dass das die billigste Art wäre, alt zu werden. Die angenehmste obendrein. Bei den gestiegenen Preisen in ihren Altersheimen.

   Es wäre nichts so falsch. Auch nichts so neidisch. So gemein. Und so weiter. Dass nicht doch ein bisschen Substanz dran wäre. Das beteuerst du dir immer. Ein Freundeskreis zur Erhaltung der Kultur des barocken Bauens – FEKbB e. V. hätte sich gebildet. Hieße es. Freunde der sich arg gebeutelt gebenden Familie Mentenheim, fürs Erste, sollten die Urheber sein. Sogar die Anerkennung der steuerlich so begehrten Gemeinnützigkeit würde eifrig betrieben. Weil die reichen Leute keine Steuern bezahlen wollten und das im Gegensatz zum kleinen Mann und seiner Frau von einer ebensolchen geringen Größe auch bewerkstelligen könnten. Darauf könnte mit einiger Sicherheit Verschiedenes finanziert werden. Was die Arbeitsplätze an dieser Baustelle wenigstens für einige Zeit erhielte. Sonst müsste man sich halt weiter mit billigen Polen und Tschechen behelfen. Du freutest dich mit deinem Informanten. Für den armen Karl. Du würdest dich aufs Amtsgericht begeben zum Vereinsregister. Um dich ein wenig schlauzumachen.

   Man wäre der King. Wenn man alles im Kasten hätte. Wenn man autark wäre bei seinen Ermittlungen. Im Grunde keinen mehr brauchte.

   Donnerwetter! Wer vereinsmeierte denn da alles so schleimig gemeinnützig? Es wäre ja die vereinigte Elite der immer reicher werdenden Steuer-nichtbezahlen-Woller. Die vereinigte Katastrophengesellschaft auch von neulich. Die du hier na­mentlich aufgeführt sehen könntest. Alle wollten den gebeutelten Karl ein wenig mit den dem Staats­säckel vorenthaltenen Spenden bedienen. Sie wären alle so freundlich und geduldig zu dir. Denn sie hielten dich für verrückt. Das hättest du natürlich längst gemerkt.

   Du wärst wieder im Geschäft. Glaubtest du fest.

   Ach ja, glauben! Es wird dir urplötzlich ganz hell, wie man es über Erscheinungen immer wieder mal hörte, dass da etwas meist von oben, dem Him­mel eben, auf oder über einen komme. Wie viel hat so ein satter, gleichsam erhebender, von der elenden Schwe­re der Erdlichkeit zumindest etwas entlastender Glaube nicht schon bewirkt?! Bei dir vielleicht – dann allerdings ohne dass du es sonderlich wahrgenommen hättest. Vielleicht auch wieder mal einen Versuch starten mit dem Glauben. Es ist ja immer so unfertig. Du hast es trotzdem schon so oft unternommen, erinnerst du jetzt doch. Mindestens so oft, wie du das Rauchen aufgeben hast wollen. Eine gewisse Zeit auch durchgehalten. Zu beten durchaus sogar, was ja zum Glauben gehört wie der Schnee zum Winter. Das alles als Ersatz für dein aufwändiges Schreiben setzen möglicherweise.

   Allerdings nicht übereilt – daher wieder vertagt, zunächst.

   Zurück zu dem, was du professionell beherrscht: die Recherche. Denn das mit dem Glauben hat man ja doch nie richtig gelernt. Also: Die Mehrzahl des von dir zwecks Nachforschung angegangenen Volkes wäre ganz bereit, in der Brandsache und Bausache seine Stimme zu erheben. Wenn auch in aller Regel nur, ohne den Mund aufzutun. Aber als Fachmann wüsstest du mit dem ausdrucksstarken Schweigen gehörig umzugehen. Du wärst mitunter gezwungen, teils wegen des Mangels an einigermaßen brauchbaren Beweisen im manchmal doch dann auch wieder erheblichen Gesabbere, das demoskopische Verfahren der Informationssichtung anzuwenden. Wenn sich Behauptungen häuften. Wenn sie sich in einem Punkt schnitten. Dann erkenntest du auf vox populi. Auf Stimme des Volkes. Von welcher man schließlich seit jeher vermutet, dass es sich dabei um nichts Geringeres als um Gottes Stimme und damit doch wieder um eine Glaubensfrage handelte.

    Es ist dir schon wieder so zumute, als wurde eben deinetwegen auch von jemand Unbekanntem oder einer Lichtgestalt selber das Licht angeknipst in deinem Hirnstübchen. Du fragst dich, wo du in der ganzen Dunkelheit rumgelaufen warst und wie du das überhaupt durchstehen konntest ohne diese Be- und gar Erleuchtung.

   An dein Filmmaterial im Keller denkst du jetzt in der Helle. Du machst dich jedoch nicht darüber. Dazu verzichtest du auf den eigentlich erforderlichen Schwung, der auch gar nicht nötig ist. Das räumst du dir ein. Die Leute wissen gar nicht, wie fertig es einen machen kann, dauernd etwas zu wollen, sondern geben dem Müssen alle Schuld.

   Alte Pläne tauchen wieder auf: Aus solchen heißen Sachen eiskalt etwas machen. Und sei's bei der Konkurrenz. Es den Kraftmeiern in der Chefetage zeigen. Wenn sie dich am gestreckten Arm verhungern lassen wollen. Mit ihrer bescheuerten Idee vom aufgedrückten Krankenstand. Aber Pech gehabt!

   Karl hat begonnen, wird dir dann klar, Aktienmehrheiten der Baubranche zu erwerben. Also nicht mehr bloß einen alten Kasten sanieren! Man dürfe getrost behaupten, dass er auf diese Weise für sich selber baut. Das hat es sicher bedeutet. Gepowert durch öffentliche Gelder. Die immer auch vom vielzitierten kleinen Mann und seiner kleinen Frau stammen. Ein Klacks für so einen Geldsack und für ihn eigentlich nicht der Rede wert. Man muss weiter sehen bei so einem! Der immer weiter ausholt. Nun haben wir schließlich die Wiedervereinigung mit ihrer Abwicklung. Da kann ei­ner wie Karl selbstredend nicht anders. Als sich von der sogenannten oder auch Treuhand. Die den Osten plattmacht. Auch etwas abwickeln und in seine großen, gar nie zu füllenden Taschen stecken zu lassen.

   Doch dich lässt die Firma weiter auf kleiner Flamme garen. Du wartest ja immer noch. Dass sie dich wieder holen. Da musst du ja gar nicht diesen Brief da auf dem Tisch aufmachen. Musst du dir auch gestehen. Und du, wenn du bisweilen zu dir ehrlich bist. Dann gibst du dir zu. Dass du noch wirklich krank wirst vom Warten. Oder sie sollen dir ein Geld schicken. Ein sozusagen Schweigegeld.

   Um an die großen Fische ranzukommen, müsstest du ... Nein. Um mit den großen Hunden laufen zu können, da musst du das Bein sehr hoch hochheben können. Hat neulich einer im Film gesagt. Wenigstens dein Team haben, besser aber noch Geld ...

   Aber du gibst nicht auf.

   War jetzt der Sänger Franz nicht doch im Altenheim, bis zuletzt? Seine Hände immer ...

   Du bleibst dir treu. Im Allgemeinen journalistisch redlich. Wenn man so denkt, muss man ganz einfach immer recherchieren. Man muss nachgerade erbarmungslos hineinlangen im Geiste ... (der Demut und mit zerknirschtem Herzen ... – war dir gerade doch tatsächlich aus dieser alten, immer runtergeleierten Bußformel durchs beknackte Hirn gerauscht!). Worauf wäre da auch Rücksicht zu nehmen? Ist das Leben rücksichtsvoll? Wenn du Leben bringen musst. Was bleibt dir da anderes übrig, als zu leben? Das ist so schrecklich synchron alles Gesunde, vor Leben Strotzende, zwischen seinen Zahnrädern den ganzen Sand im Getriebe Zermahlende! Es beschenkt sich fortwährend mit dem Optimismus. Möglich, dass sie die brutalen Fleischklopfer gar nicht mehr schicken. Sie sind doch so knauserig. Selbst dabei, nämlich im Verbrechen. Wenn jemand umzubringen ist. Denn das geht billiger und letztlich nicht so verfänglich wie mit solchen Typen. Die halten dich einfach fern von deiner Arbeit, die dein Leben ist. Die ja einfach deine heilige Kuh ist. Die immer gemolken sein will.

   Du hast den Schritt in die nicht zu versperrende Freiheit ja auch längst getan. Bist eigentlich schon draußen aus dem Zuchthaus der Verbindlichkeiten. Innerlich. So wie du aus dir selber draußen bist. Im Grunde.

   Die Fenster öffnen, und es lüftet sich. Selber weiter machen? Auch da darf es keine falsche Rücksichtnahme geben. Dabei erst recht nicht. Wenn du an der Arbeit bist. Man muss alles aufdecken. Vielleicht einmal bei Karl und seinem roten Hahn auf dem Dach in Richtung Betriebsfinanzen und Versicherung gehen?

   Die verrückten Bilder können sie sich sonst wohin stecken. Bloß die Sache da mit dem Kerl damals bei dem Fest. Wie er da plötzlich mit dem Koffer auftauchte! Dieser sonderbare Typ. Im Hintergrund vorbeirauscht. War eigentlich Fremdkörper auf dem Fest ... Kurz drauf wird es plötzlich so warm! Die sattsam bekannten Verdachtsmomente bei solchen Vorgängen mit Versicherung und Brand und Betriebsfinanzen. Nun durchaus auch bei diesem feinen Herrn Karl Mentenheim zu sehen: Wenn einer sich verkalkuliert hat und durch so einen warmen Abriss die Geschäftsbilanz zu korrigieren versucht. Wenn so einer dem Konkursverwalter den Stinkefinger machen will!

   Da musst du selber hinlangen! Die Bilder sind vielleicht doch nur Schrott. Die schickst du ihnen glatt. Mit 'Porto zahlt Empfänger' oben rechts. Du schreibst keinen Absender. Wenn sie's nicht annehmen wollen aus Sparsamkeit. Irre: Dann bleibt's bei der Post. Und ist dort in Verwahrung. Auch wenn die rumschnüffelt, woher es kam. Dich schüttelt es vor lauter Heiterkeit. Du kannst deinen eigenen Einfall nicht fassen. Diese Selbstverwirrung also einfach weglachen ... Als du wieder da bist, weißt du plötzlich auch: Das mit diesem Koffermenschen da genauer untersuchen! Wo der schließlich seinen Koffer gelassen hat. So doch nicht etwa. Wie der Koffer in Berlin: Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin!

   Dann macht das mit der Versicherung auch mehr Sinn. Abbrennen kann jeder. Aber wie es ihm geschieht. Oder er es sich selber besorgt! Genau dort einhaken! Alles klar! Du müsstest dem Staatsanwalt zuvorkommen. Selber ganz groß rauskommen! Ein Entree im alten Laden und daran vorbei in andere Gefilde. Nach der verordneten Krankheit bei deinem Wiederauftritt. Dass sie sich denken: Ein verdammter Könner, dieser Mensch, den wir verkannt haben, und bares Geld dazu kommt da wieder rein. Die Bilder aus dem Kellerloch holen! Endlich. Angefangen mit der Arbeit dran. Taschenlampe. Das lange Küchenmesser. In Zeitung gewickelt und ganz heiß nur ins eigene Blatt von dieser verruchten Firma, die dich kaltstellen will. Denn wenn sie dich im Treppenhaus mit der blanken Klinge sehen! Dann ab. Alles in einen Einkaufskorb, dass die Leute denken, du gehst nach sonst was in deinen Kellerverschlag, Kartoffeln ... wie Mutter Huber von nebenan. Und ab.

   Weiter zu dienen und zu dienern? Altdeutsches Arbeitsabhängigkeitsverhältnis. Die können dich mal auf Altdeutsch! Wo du so etwas wie eine Marktlücke entdeckt hast. Als Zulieferer von Verdachtsmomenten. Es ist ja heute alles ganz anders. Der fortschrittliche Mensch mit seiner Chance zur Bildung in einer Zeit. In der die Information als Voraussetzung dazu so breit gestreut ist wie nie zuvor. Käme dir auf deinem Trip in den Keller. Der erwartet gar keine fertigen Lösungen mehr. Er verbietet sie sich ausdrücklich. Wenn du unter diesem Aspekt deine Verdachtsmomente nur einigermaßen mit Fakten ausstatten kannst. Du musst ja nur von der Auffälligkeit über die Spekulation zum Anfangsverdacht kommen. Die erforderlichen Schlüsse soll der mündige Bürger selber ziehen dürfen und die Gerichte. Die Endwahrheit ist nicht dein Geschäft. Arbeitsteilung ist angesagt. Du bist wieder voll drauf. Das spürst du. Dann los, bevor du wieder in ein Loch fällst! Im Weiteren zwar erst, aber immerhin gilt es, Karl Mentenheims Machenschaften aufzudecken. Licht gemacht im Kellerloch. Oder besser dunkel lassen und mit Taschenlampe? Sieht verdächtig aus. Mit dem Messer den Ziegel aus der Wand geholt ... Wenn jetzt einer von hinten käme! Du wirfst den Kopf herum. He, verdammt, das hat im Genick richtig geknackt! Sticht wie tausend Nadeln ... Lege dich flach ... Erst den Ziegel ... Wie das ganz verhext zieht! Flachlegen! Du müsstest den Koffermann identifizieren. Jetzt wird es allmählich wieder. Freilich, was da in dem Koffer reingeschleppt wurde! Aber nicht bewegen! Eigentlich müsste man ganz stark hinlangen! Die beiden Ganoven von ihrem Auftraggeber weglocken, glatt wegkaufen. Etwas den Nacken massiert. Kaufen? Da ist dir der Daumen zu kurz. Denn mit dieser Sorte Käufer kannst du ganz bestimmt nicht mithalten. Aber in der Sache, wie du sie siehst, da ist Kohle drin. Damit müsste man sie eigentlich rüberholen können. Das tut gut. So ein richtiges Team machen mit den Schlägertypen! Ein ganz ausgebufftes und wenn es sein muss obendrein ganovisches Infobeschaffungsteam ... Das klingt aufreizend nach Zukunft ... Du musst demnächst mal sehen, wo sie den Brandschutt hinhaben. Dort nach den Kofferresten suchen. Nadel im Heuhaufen ... Die Filme aus dem Loch geholt! Dann weg hier und nach oben ...

   Heute noch wischst du dir mit diesem idiotischen Brief das Hinterteil. Du musst dir eine Aufbruchstimmung zulegen, sonst vermoderst du hier in deinem Loch. Wie viele gute Storys waren in der Vergangenheit in den Archiven geblieben. Und sind es noch in dieser Geschichtengruft, die auch ein Kerker der Geschichte als solcher ist und bleibt. Ab jetzt aber wird ausgestreut. So bist du jetzt richtig in Fahrt gekommen. Nun ist dir noch aufgegangen. Dass da was mit diesen Ostfahrten gewesen ist. Laut John. Der angeblich auch wieder mal hier ge­wesen wäre bei dir. Da war doch auch einmal die Meldung. Dass der Mentenheim mit abgewickelt hat dort drüben. Im großen Stil, versteht sich, wie Karl das eben immer so gemacht hat. Die eigene Stil­größe ist wie die eigene Konfektionsgröße. Die sich für gewöhnlich ändert. Wie einer vollgefressen ist. Wie denn, wenn sich der Mentenheim bei seiner Abwickelei nun doch einmal verkalkuliert hätte. Jetzt gehst du dir was zum Futtern machen. Sogar der dicke Kanzler hat sich verkalkuliert mit sei­nen blühenden Landschaften aus der Westentasche. Nur dass er daran nicht erstickt ist. Es liegt ja alles plötzlich auf der Hand: Wie der Kanzler seinen Irr­tum aus der Steuerkasse zahlen lässt. So könnte ja Karl auch die Öffentlichkeit ein wenig anzapfen. Nämlich die gute Gemeinschaft der Brandversicherungsnehmer und solche Zahlreichheiten. Schlau muss man sein. Selbstverständlich. Dieses jetzt versengte Märchenschloss war eben so ein Traum von Karl. Den er sich zur falschen Zeit geleistet hat. Nämlich im Jahr der Wiedervereinigung geleistet hatte. Damit hatte er sich finanziell zu stark gebunden. Das siehst du jetzt genau mit deinem geschulten inneren Auge. Bei diesem warmen Abbruch war gewiss so viel drin, dass er im Osten was Ordentliches damit anfangen können wird. Plus Anschubfinanzierung vom Steuerzahler und seiner Frau. Versteht sich. Oder irgendwas. Die Sache ist so reich an Facetten. Dass für dich eigentlich auch etwas drin sein müsste an sattem Ertrag – für die ganze Plag (gönnst du dir gedichtlich, wie sie immer auch gereimt haben mit ihren Weisheitsverpackungen in alter Zeit). Wenn du ihnen nur den Kotau machen gingest, um wieder reinzukommen. Diese Leute immer. Die sogar ihre Träume korrigieren können. Da bist du entschieden gut drauf. Zum Überschnappen gut. Das ist dir gleich ganz deutlich vor innerem Auge, das noch nicht zu kurzsichtig ist. Es hat mit der Entschiedenheit zu tun, die du allerdings doch erst ganz einfangen musst. Grundsätzlich könnte jedenfalls gelten. Es ist sie freilich. Die einem ja bedauerlicherweise so häufig fehlt. Bei den ganzen Facetten immer des Daseins und der Begegnungen, die einem widerfahren. Entschiedenheit. Es ist wäre genau nicht irgendeine, sondern die Entschiedenheit für sich? Dazu der irre Mut. Die Anderen damit zu enttäuschen. Wenn man so ganz unverrückbar bei sich stünde, säße und sonst was. Bis sie dich in eine Anstalt steckten zu den anderen. Die ihr Schicksal befreit hatte. Die auch jenseits des von den Angepassten für normal Gehaltenen herumwesen dürfen. Ein echtes oder vielleicht auch nur, aber immerhin ein Gegenvorschlag zum Grab ...

Mit der unerbittlich entschlossenen Entschiedenheit für dich ...

 


 

zweites Buch

der Komödie

 

 

Toms Auferstehung

   Tom hatte sich ja in seinem Job als Journalist, nämlich in seinem Bemühen, nichts weniger als die Zeit zu dokumentieren, in genau dieser verloren. Es war schließlich alles ganz schlimm für und über ihn gekommen. Am Ende balancierte er am Rande des Wahnsinns entlang und geriet zumindest zeitweise ganz in diesen.

   Nun, da er nicht mehr über sich, geschweige denn für sich sprechen kann, muss jemand anderes diese Aufgabe übernehmen. Da sei zunächst offen gestanden, dass sich jemand in dieser Stellung eines stellvertretenden Sprechers in diesem Fall in der fast misslichen Lage der schieren Unkörperlichkeit befindet. Anwesend nur auf und zwischen der jeweiligen Zeile – und man kommt sich in dieser Rol­le vielleicht doch auch einmal vor wie ein Gespenst. Das überall sein Wesen treibt, und zwar im Innen- wie Außenleben der zu vertretenden Figur. Bei diesen Umtrieben soll man sogar als der allwissende Erzähler firmieren müssen, wie gerne behauptet wird.

   Bei der Geschichte von Tom kann eben nicht da­rauf verzichtet werden, von dieser anderen Erzählhaltung aus zu agieren. Tom scheint, wie bereits an­gemerkt, für eine Weile nicht in der Lage zu sein, seine Interessen beispielsweise mittels Personenrede, wie er es vordem gerne getan hatte, selber einer einigermaßen gerechten Darstellung zuzuführen.

    Nun gleich zur Sache: Da hatte unser Freund noch persönlich in der vor Jahren der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Darlegung mitgeteilt, dass der Name Tom nicht etwa von seinen Erzeugern für ihn gewählt, sondern ihm von seinen Mitschülern gewissermaßen verpasst worden war. Sein richtiger Vorname lautete ... – er behauptete, dieser Name klinge genau so, wie man seinerzeit als Junge einen Zigarettenstummel bezeichnet hatte: Hugo nämlich.

   Pinser hingegen, Toms Familienname, kann ohne Vorbehalte verraten werden. Obgleich Tom auch diesbezüglich seine Bedenken hegte. Sie hatten näm­lich in seiner Schule so ihren Spaß, indem ihn immer wieder einmal jemand fragte, wie wohl sein Name auf Chinesisch ausgesprochen würde. Die Ant­wort – die er allerdings Schwächeren gegenüber mit Fußtritten ahndete – lautete 'Pinsel'.

   Mit dem ihm von den Klassenkameraden aufgenötigten Namen Tom hatte er sich dann nur in Abwägung mit seinem Hugo abgefunden. Denn auch Tom erschien ihm nicht eben respektabel, da er in Toms Schulwelt von dieser Figur aus dem Roman 'Onkel Toms Hütte' herrührte. Aber Tom gelang es, damit seinen Frieden zu schließen, da den Anderen die Herkunft des Namens bald nicht mehr er­innerlich war. Wie es bei Namen eben so ist. Tom, alias Hugo, konnte sich also mit seinem geburtsurkundlich verbürgten Namen im Grunde nicht wirklich abfinden. Ob sich so ein Konflikt nicht grundsätzlich auf die Einrichtung der gesamten Person im Umfeld, das man das soziale nennt, auswirkt? Es ist bekannt, dass viele Menschen sich in einer ähnlichen Lage befinden und sich mit ihren Benennungen lediglich irgendwie arrangiert, indessen nicht wirklich identifiziert haben. Sie leben dann ihr Eigentliches, zumindest Wünschenswertes mitunter bei allen sich bietenden Gelegenheiten in al­lerlei Verkleidungen aus. Die Frage – die Tom im Übrigen schon auch einmal gestellt hatte – ist, warum sich denn jemand überhaupt seinen Namen ge­fallen lassen muss.

   Über Tom kann nunmehr für den Fortgang dieser Darlegung hier etwas Wesentliches eröffnet werden. Sein Aufenthaltsort war für einige Zeit ein in der Nähe von München eingerichtetes Irrenhaus. (Dass es sich bei dieser Benennung um eine beim Fachpersonal dieser Anstalten verpönte Begriffswahl handelt, sei aus Gründen der angemessenen Distanzierung angemerkt.)

   Sie hatten Tom nämlich in der Fußgängerzone dieser reizenden, in ihrem Herzen überaus ge­müt­lichen, jedenfalls Störungen ziemlich abholden 'Weltstadt mit Herz' aufgegriffen. Er war mehrere Wochen dort (zunehmend abgerissen in seinem Outfit und auch in seinem Geisteszustand angeschlagen) umhergestrichen. Passanten, besonders die vielen lässigen Flaneure, hatte er angemacht (wie das salopp genannt wird). Er agierte unter der Vorgabe (und immerhin in alter Profession), die Leute zu interviewen.

   Das war wegen Toms äußerer Erscheinung und der nur als ein wenig wirr empfundenen Ausbrüche als groteske Bereicherung in der Fußgängerzone begriffen worden. Ja, viele Male hatte die Leute es sogar be­grüßt, belacht und willig mit eigenen Blöd­heiten be­dient. Tom hätte sich über die ganze Trau­be belustigter Interessierter freuen können (sollte er sich – was allerdings zu bezweifeln ist – als Fußgängerzonen-Clown betrachtet haben). Ansammlungen, die sich immer wieder einmal bildeten, wenn er mit lauten Reden so richtig in Fahrt war.

   Unter günstigeren Umständen wäre Tom sogar in der Betrachtung der Einheimischen ein Platz als Ori­ginal eingeräumt worden (etwa eingereiht in die Gruppe der zwar auch ein wenig bedauernswerten, doch eigentlich liebenswerten Gestalten – wie etwa ihrerzeit das Entenmutterl, das nämliches Tier immer in einem Kinderwagen durch die Stadt geschoben hatte). Über die Grundvoraussetzung dafür, näm­lich gar nicht auf Wert- und Liebschätzung ab­zuzielen, hätte Tom mit Sicherheit verfügt.

   Es mochte sein, dass viele (Bedenkenträger) annahmen, Tom laufe sich immer mehr aus dem Ruder und bringe es damit zur Gefahr nicht nur für sich, sondern auch für einen als arglosen Mitmenschen selber. Nämlich, wenn man in einer bei so einem durchaus ständig zu befürchtender explosiver Krise in seine Nähe gelangte.

   Wie dem auch sei, schließlich griffen die städtischen Ordnungskräfte ein – und fest zu. Einigen Passanten sollen überdies Toms Auftritte 'politisch zu einseitig und über die Maßen garstig' (so die Formulierung einer vornehmen Dame) erschienen sein. Was dieser Mensch da von sich gebe, verlautete dann später bei den Einvernahmen von Zeugen, sei gelegentlich nicht nur ordinär, sondern drifte obendrein gefährlich politisch extrem links ab. Damit war so etwas wie ein Stichwort gegeben, und jetzt sprudelte es heraus: Dieser Mensch habe sogar zu so etwas wie einer Revolte gegen einen bestimmten Personenkreis aufgerufen. Jeder habe immer sofort gewusst, um wen es sich in diesen Ergüssen nur handeln konnte. Es sei da nämlich um Leute gegangen, die durch Geschick, Glück oder einfach nur durch Erbe zu etwas gekommen waren. Wofür man sie ja schließlich nicht verurteilen könne. Groteskerweise über das Anzünden von Schlössern habe Tom flammende Hetzreden geführt. Weswegen die Zuhörer sie dann kaum noch als Ulk haben hinnehmen können. Am Ende habe sich ein Unbehagen eingestellt. Dieses gefolgt von der Überzeugung, dass solche bereits Agitation zum einen in diesem unserem Lande mit seinen architektonischen und sonstigen Kostbarkeiten und noch dazu in einer Zeit des zunehmenden Terrorismus' völlig unerträglich sei.

   Tatsächlich, Tom hatte ganz offensichtlich bei sich selber tiefsitzende, aus misslichen Begegnungen und Begebenheiten traumatisch begründete Überzeugungen wiedergegeben. Das alles hatte er immerhin einer sich selber natürlich als rechtschaffen einschätzenden Gesellschaft lauthals richtiggehend um die Ohren gehauen. (Nun gut, erinnert wer­den darf an dieser Stelle, dass Tom von seinem ehemaligen Kameraden, einem gewissen Karl Mentenheim, den er seit der Schulzeit bewunderte und dessen grandiosen Aufstieg zum Topmanager er beinahe andächtig verfolgt hatte, ausgenutzt und niedergemacht worden war. Und zwar dann, als Tom Einblick in dessen kriminelle Machenschaften gewonnen hatte. Dass er im Krankenhaus lag, nach­dem er niedergeschlagen worden war – vermutlich von Banditen, die im Auftrag des Mentenheim angeheuert worden waren. Und dazu sein Aus am Arbeitsplatz. Diese Menge Unheils erträgt nun mal der Mensch nicht ohne Folgen für sein seelisches Wohl!

   Dazu kam noch, dass Tom in seiner partnerschaftlichen Beziehung zu seiner Elsbeth gescheitert war. Also auch dieses Haltes verlustig war.

    Dass er die wohl etwas derbe, aber gute Haut von einem Bettnachbarn im Krankenhaus, einem gewissen Franz Sänger, als unverbildetes, vitales Prachtexemplar erkannt hatte, tröstete zwar ein wenig. Allerdings entzog ihm das Schicksal auch diesen Helden des Alltags via Dahinscheidens.)

 

   Es steht jedoch gleichfalls zu vermuten – um nach dieser kurzen Rückschau den Faden der unmittelbar anstehenden Geschichte wieder aufzunehmen –, dass auch Toms äußerer Zustand Anlass gab, ihn aus der Öffentlichkeit, der sozusagen guten Stube dieser Stadt zu entfernen. Denn bekanntermaßen ist diese von Publikum aus aller Herren Länder bevölkert, das sich beispielsweise zahlreich zur Betrachtung des spielwerklichen Schäfflertanzes zum späten Vormittag am Rathaus zu treffen pflegt. Gerade da und genau zu der Zeit dieser Abhaltung tauchte Tom nämlich, seiner Ausströmung nach gewissermaßen aus dem Kanal auf und ging die Gaffer an. Dass ihn dieser nahezu fäkalische Geruch umgab und er sich extrem underdressed zeigte in dieser immerhin einigermaßen schicken Flanier- und Einkaufsmeile, mochte der vorherrschende Grund gewesen sein, dass man ihn weggeschafft hatte.

   Das Gemeinwesen hatte damit natürlich seine Chance, ein Original und damit eine weitere Steigerung seiner Anziehungskraft zu gewinnen, gründlich vertan. Denn man hätte sich ja einmal etwas vor Augen halten können. Nämlich, dass wahre menschliche Individuen zunehmend seltener werden in einer immer unruhigeren, nachgerade ferngesteuerten und immer weniger sesshaften Gesellschaft. Diese neige zwar zur Zusammenballung, doch auch zur gegenseitigen Abreibung und folglich Gleichmachung. Ein menschliches Juwel, zu dem Tom heranzureifen ohne Zweifel begabt war, bedürfte einer gewissen Beständigkeit, um als fassbare, heitere, doch außerdem zum Nach­denken anregende Überzeichnung des Einzelwesens überhaupt erkannt zu werden. (So weit der Versuch, Toms journalistische Essayistik in seiner Abwesenheit, allerdings sein Einverständnis damit unterstellend, ein wenig fortzuführen – wohl wissend, dass er Satzlänge und Elaboriertheit der Darstellung gerügt haben würde, s. o. seinen Aushang, S. 162).

   Trotz der Berechtigung all dieser Erwägungen muss natürlich ebenso die Erkenntnis Raum greifen, dass Toms In-Obhut-Nahme sozusagen doch irgendwie auch zu seinen Gunsten geschah, da er sich outdoors mit einiger Sicherheit doch allmählich aufgerieben hätte.

   Bei der Einlieferung dann, nämlich in die Irrenanstalt (um sich dieses volkstümlichen Ausdrucks weiterhin, freilich mit allem Vorbehalt zu befleißigen), hatte Tom alles ihm Vorgelegte willig und ohne auch nur den Anschein zu erwecken, dass es ihm lästig sei, unterschrieben. Einen Stift in der Hand zu halten und damit sich – wenn auch nur äußerst bescheiden mit seinem Namen oder auch bei einem Papier mit drei Kreuzen – skribentisch zu betätigen, schien ihm gutzutun. (Er hatte da unter Zuhilfenahme seiner Finger die Zahl der Zeichen ermittelt.)

   So konnten sie sich gleich über seinen körperlichen Bewuchs hermachen und ihm vor dem Baden die grau melierte Matratze aus dem Gesicht zuerst scheren und nachbearbeitend schaben (Und Letzteres zu Toms offensichtlichem Ergötzen mit so einem altväterlichen Instrument, das zunächst auf ei­nem Riemen gegeigt werden musste, um die nötige Schärfe zu erhalten.) Dieser Befreiungsakt war für die Pfleger und Schwestern dortigenortes zwar nichts Ungewöhnliches. In diesem Fall blieben ei­nige jedoch wenigstens für einen Augenblick stehen, um zu sehen, was für ein menschliches Exem­plar unter dem überständigen Material hervorkommen würde.

   Dass jetzt die glatten Gesichtspartien die lebenszeitlich bedingt eher faltigen wieder ausglichen und das Aussehen dieses Menschen mit seinem wirklichen Alter versöhnt sei, bemerkte die junge Lernschwester mit dem Henriette-Schildchen am Kittel (tatsächlich so oder so ähnlich wertvoll formuliert).

   Dass sie offenbar eine für den Job hier für sich persönlich recht gefährliche ästhetische Ader habe, lästerte der mit dem Josef-Abzeichen am Gewand. Und schwang dazu den Scher-Apparat in seiner Hand. Sie solle damit auf jeden Fall gerade vor Ort bei ihrem dienstlichen Einsatz sehr zurückhaltend umgehen. Vor allem, was ihre mutmaßlichen Erwartungen bezüglich Verfeinerung des Arbeitsklimas in Bezug auf Patienten anbelange. Der Scherer lachte seinen Worten hinterher – und machte sich mit der Maschine auch übers schüttere Haupthaar von Tom. Der schien sich darüber zu freuen, grinste die ganze Zeit genüsslich und fuhr sich am Ende mit der Hand über seine glatte Schale und lächelte zufrieden.

    Henriette zog mit einer Träne auf der Wange ab. Sie wusste aber nicht, ob sich diese Gemütsflüssigkeit aus dem Auge wegen Josefs Häme oder aus Rührung über den jetzt Entmummten und zum wirklichen Patienten Mutierten gelöst hatte.

   Toms Behandlung nahm sodann ihren Lauf. Eingeleitet wurde das mit der Ausstattung mit sowohl (kordelloser!) bequemer wie auch zeitloser Anstaltskleidung. Danach folgte die Einweisung in eine Abteilung (Haus Johann Baptist Ertl – eines verdienten Anstaltsgeistlichen, wie auf einem Schild neben der Pforte vermerkt war), also in Wohn- und selbstredend Liegestatt.

   Da über den Fortgang der Behandlung zuverlässige, nicht minder denkwürdige Aufzeichnungen vorhanden sind, sollen diese nachstehend zu Rate gezogen werden.

   Demnach also aus dem Krankenbericht der Heilanstalt:

   Aktennotiz 1 

   Der Patient wurde der Beschäftigungstherapie 'Keramik' zugewiesen. Seit etwa zwei Wochen, so die Stellungnahme der Abteilung, wühlt und knetet P. zwar mit schon lüstern zu nennendem Gesichtsausdruck an der ihm vorgelegten Lehmmasse herum (Formulierung des Betreuungspersonals). Bei welchem Mienenspiel zunächst nicht ausgeschlossen werden soll, dass dieses ein gewisses Maß an Wohlbefinden verrät. Aus diesem Grund (nämlich des vermuteten Wohlbefindens) wurde seine Aktion lediglich beobachtet und auf einen leitenden Ein­griff verzichtet. P. zeigte sich jedoch gänzlich außerstande, dem ihm gegebenen Auftrag auch nur im Ansatz nachzukommen. Dieser hatte gelautet: P. habe die ihm persönlich wichtigsten Individuen seines sozialen Umfeldes als Tier-Personen darzustellen. Die Ergebnisse könnten im Grunde nur als unförmige Klumpen interpretiert werden: vermuteter Kopf (winziges Kügelchen), möglicher Korpus (so etwas wie eine dicke lange Wurst von ungefähr zweifacher Fingerlänge), davon im hinteren Part (vom mutmaßlichen Kopf aus gesehen) unten abzweigend, ein nach vorne gerichtetes dünneres längliches Teil. Diesem Element wurde vom Patienten doch immerhin und ganz offenbar mehr Aufmerksamkeit und Formintensität, vor allem aber Zeit gewidmet. (Es steht nach Aussage der Betreuung zu vermuten, dass es sich dabei nicht etwa um einen tierischen Schwanz, sondern viel eher um ein maskulines Geschlechtsteil handele).

   Aktennotiz 2:

   Wiederholt, so auch heute berichtete der Patient von nächtlichen Besuchen einer von ihm 'Sänger Franz' genannten männlichen Person fortgeschrittenen Alters, einfacher Wesensart und dem Anschein nach der sozialen Unterschicht zugehörig. Es sind hierbei ggf. Träume, evtl. auch Zustände halluzinatorischer Qualität zu diagnostizieren.

Maßnahme:

   P. ist dahin zu bringen, seine nächtlichen Eindrücke ('Begegnungen', nach seiner Darstellung) erzählerisch auszubauen und nach Möglichkeit zu for­men und zu fixieren.

   Terminsetzung: Die Ergebnisse sind sofort nach Fertigstellung sicherzustellen. Es ist jedenfalls zu verhindern, dass Retusche vorgenommen und damit die Ursprünglichkeit des Materials verfremdet wird. Die Elaborate sind jeweils anderntags zur Vor­lage und Besprechung zu bringen.

   Von der Arbeitstherapie wurde P. bis auf weiteres freigestellt – was er allerdings mit einigem Bedauern (relativ verhaltenem, jedenfalls nur schwach ag­gressivem Trotzen) quittierte. P. schloss mit der Bemerkung, nun dieses Formen am eigenen Körper vornehmen zu wollen.

   Die Pflege erhält hiermit den Auftrag, diesem Pa­tienten im Hinblick auf besagte Ankündigung besonderes Augenmerk zu widmen und zu gegebener Zeit Vorkommnisse und Auffälligkeiten schriftlich zu dokumentieren.

   Fortsetzung und erste Aufarbeitung der Darstellung des P.:

   P. erschien pünktlich nach T-Vorgabe mit seiner ersten, ihm unmittelbar zuvor wieder ausgehändigten Arbeit: Er berichtet darin über die o. a. maskuline Person Sänger Franz und deren Schilderung von einem Schmieden von Nägeln. Als Geselle sei dieser Sänger Franz in den zwanziger Jahren der Handwerksordnung gemäß gewandert. Übers Land sei er gezogen und von Ort zu Ort, bis eine geeignete, das hieß ordentliche und Lohn versprechende Werkstatt gefunden war. In der Regel habe er, Sänger Franz, zur Probe Nägel schmieden müssen. Dieser Vorgang sei folgendermaßen abgelaufen: Nach Aushändigung von Werkzeug und Material habe der Meister eine Sanduhr aufgestellt und damit gemessen, wie ergiebig die Menge der Probeproduktion des Bewerbers ausgefallen sei.

   Auf die therapeutische Frage nach dem Realitätsgehalt der Darstellung des P., nämlich welchen Zeitumfang die Sanduhr wohl erfasst habe, erging seitens P. folgende Antwort: Dass Zeit immer erst im Empfinden des Betrachters entstehe und da er (der Patient) nicht anwesend gewesen war, könne er nicht Auskunft darüber erteilen, welche Zeit sein nächtlicher Nägel-schmiedender Gast vor langer Zeit in Anspruch nehmen hatte müssen. Um jedoch aufs Große und Ganze im richtigen Leben zu kom­men und sich über die Froschperspektive zu erheben, wolle er die Feststellung treffen: Eines jeden Lebenssanduhr sei unterschiedlich groß und ebenso natürlich und von jedermann gewusst, sei auch seine Lebenszeit von unterschiedlichem Ausmaß. Diese simple Weisheit, als welche diese Feststellung doch zu bezeichnen sei, lasse sich ohne weiteres auch auf diese Sanduhren in Schmieden übertragen.

   P. drang mit bohrenden Blicken ins Auge des hier Unterfertigten, um seine Worte bestätigt zu erhalten. Im Übrigen wäre sein Gast, nämlicher Sänger Franz, im Augenblick seines Berichtes eben auch nicht mehr bei diesem Nagelschmieden anwesend gewesen, sondern nur in seiner Erinnerung. Dieser Rück­blickerei sei immer aufs Schärfste zu misstrauen. Allerdings diese, nämlich die Berichtzeit des Sänger Franz, könne er schon umschreiben. Nämlich mit dem allseits bekannten Begriffszwilling 'kurz und bündig'. Wie es eben einer guten handwerklichen Arbeit entspräche, wenn es sich um eine ehrliche solche handle.

   Obwohl P. anschließend von stoßweisen Lachattacken heimgesucht wurde, fuhr er dazwischen fort zu deklamieren. Das dabei ausgeworfene verbale Konglomerat konnte Unterfertigter mit einiger Mühe sinnvoll zusammenfügen. Es hieß da: Viel interessanter und vor allem lustiger, um nicht zu sagen lustvoller seien die Vortragungen des Sänger Franz gewesen. Es habe den persönlichen Nachklang betroffen, wenn er an einer Stelle existenziell vor An­ker hatte gehen können. Dass das auch neben so manchem Wirt auch das eine oder andere Mäd­­chen amüsiert habe. Natürlich hielten diese Mädchenfreuden nur an, solange Sänger Franz nicht auch seine genetischen Spuren bei ihnen hinterlassen habe. Was bei den ehemals mangelhaften Vor- und trotz der teuren Nachsorgemöglichkeiten durchaus auch gelegentlich geschehen sei.

   Mit fortdauernder Erregung merkte P. an, dass da dem Zuhörer doch der Schauer über den Rücken oder die Röte ins Gesicht laufen bzw. schießen würde, sollte P. in seinem Bericht konkreter werden. Denn dieser Sänger Franz sei allemal erheblich eingestiegen. Überhaupt sei ihm, dem P., dieser Sänger Franz von Anfang an als ein äußerst vitaler, um nicht zu sagen viehischer Naturbursche vorgekommen.

   Etwa vier Minuten in äußerlich durch leichtes körperliches Beben deutlich werdender Binnenerregung, schien P. von Erinnerungen an diese Begegnung überaus eingenommen.

   Wieder zur Ruhe gekommen, schloss P. mit dem altertümlichen Gruß: Gott segne das ehrbare Hand­werk.

   P. wurde daraufhin entlassen und der Pflege über­geben.

   Aktennotiz 3:

   Heute Nacht habe bei P. dieser Sänger Franz in einer Kriegsmontur vorgesprochen. Er habe einen Wehrmachtsstahlhelm häuptens gehabt. Für den er (so P.'s Worte) wohl heutzutage bei einschlägig orientierten, gerade jungen rechtslastigen Zeit­genossen ein schönes Taschengeld nach durchgeführter Veräußerung erlösen könn­te. P. habe sich diesen Fetisch aus ihm (wie er fest versicherte) unerfindlichen Gründen ebenfalls aufs Haupt setzen wollen. Dies obzwar er nach eigenem Bekunden Pazifist 'bis in die Knochen' sei. Er habe immer wieder nach diesem Furcht erregenden Stück ausgeholt, allerdings ständig ins Leere gegriffen (wes­wegen ihn heute – so P.'s Befürchtung – der Pfleger Josef wieder auslachen werde, wenn er zum Dienst auftauche, und ihn sicher als einen Luftangler und Nullgreifer herabwürdigen werde).

   Viel mehr bewege P. jedoch, dass diese Erscheinung Sänger Franz geäußert habe, sich für immer zurückzuziehen. Er habe das mit den Worten getan, dass sein totaler Weggang an der Zeit sei nach seinem ausführlichen Auftritt im Diesseits. Er, Sänger Franz, plane, seinen finalen Abgang sozusagen mit einem mannhaften Paukenschlag zu vollführen. Das sei er seinem Beruf als Nagelschmied selbst dann noch schuldig, wenn er auch zuletzt Jahrzehnte in der Fabrik gearbeitet, vielmehr meist sogar geschuftet habe für die paar Groschen immer. Seinem Abgangswunsch betreffend, erkläre sich die Kriegsmontur seines letzten nächtlichen Auftritts. Sänger Franz habe überlegt, ob er es nicht der Gepflogenheit der Zeit gemäß im vorderen Orient veranstalten sollte. Indem er sich als Bombe unter irgendwelchen Mitmenschen in die Luft sprenge, um diese dann als Reisegefährten mit ins Jenseits zu nehmen. Niemand wisse, wie lange – und womöglich langweilig – sich diese Fahrt gestalte. Aber er habe starke Bedenken, dass man ihn einmal wegen seiner Montur und vor allem wegen seines fortgeschrittenen Alters dort nicht akzeptieren werde. Da man in dieser Gegend lieber seine jungen Männer auf diese Reise ins Jenseits schicke. Denen ja dann im islamistischen Him­mel gut siebzig Jungfrauen zustünden. Sänger Franz soll mit der Bemerkung, was er in seinem Alter mit so vielen und noch dazu erst in die Geheimnisse der Liebeshandlungen einzuführenden Mädchen denn anstellen solle, für seine Verhältnisse überraschend verschämt gelacht haben. Er wolle das mit diesen doch letztlich vermaledeiten Körperlichkeiten ab jetzt endgültig den Jungen überlassen. Auch habe er ja zwar keine Nachkommen, jedenfalls so­weit er es wisse. Denn wissen könne es bekanntermaßen ein Mann nie mit Sicherheit, wie es heißt. Eine Benachteiligung gegenüber der Frau, ließ er sich noch herbei, die es ja nun mal bestimmt merke. Obgleich man da schon auch einigermaßen unglaubliche Sa­chen gehört habe, dass es eine erst gemerkt haben will, dass da was angestanden ist, als ihr der Klapperstorch sein Bündel schon beigelegt hatte.

    P. fügt an dieser Stelle ein, dass die Nächte mit dem Besuch von Sänger Franz stets sehr kurzweilig gewesen seien, da dieser mit seinen Aufschlüssen immer so ins Volle gegriffen habe. Dass er, P., es äußerst bedauerlich finde, dass sich Sänger Franz nun abgemeldet habe.

   Darauf fährt P. jedenfalls in Darstellungen von Sänger Franz fort und berichtet von dessen ergänzender Mitteilung, dass sich bei ihm ein Neffe gemeldet habe, der auf Sänger Franz' Nachlass, insbesondere das Häuschen verwandtschaftlichen Zugriff im Ablebensfall seines Onkels geltend zu machen gedacht habe. Was ihm, Sänger Franz, keinerlei Probleme bereite, ja vorerst sogar außerordent­lich wurscht sei. Doch er habe sich über diesen Nef­fen als menschliches, respektive verwandtschaftliches Exemplar, das da wie aus dem Nichts aufgetaucht sei, doch zunächst einigermaßen erheitert. Es handle sich um einen quasi geistigen Nachkommen genau der Leute, die immer über ihm als dem Malocher Sänger Franz waren. Diese fetten Vögel waren allerdings so weit oben, dass er, Sänger Franz, ihnen selbstredend nie direkt begegnen hätte können. Deren Existenz auf Fernansicht ihrer selbst (sie hatten sich nämlich selber so gut wie aus dem Auge verloren), hingegen auf Nahwirkung ih­rer Veranlassungen für ihre unterdrückten und ausgebeuteten Kreaturen ausgerichtet war. Solche leider men­schenähnlichen Gebilde mit dem glatten Gesicht über der Krawatte, aus dem diese gierigen, fresssüchtigen, schon immer vorweg alles verschlingenden Augen brannten. Kreaturen, die auf allem, was unter ihnen war, herumtrampelten – ohne ihnen, den armen Schweinen unten, im Eigentlichen wehtun zu wollen (was man ja auch wieder feststellen müsse, was letztlich auch wieder irgendwie zu ihren Gunsten spreche und schließlich tatsächlich in ein Quäntchen Mitleid einfließe. Näm­lich dafür, dass man ihnen mit all der gegenwärtigen Kritik in der Regel doch auch ein bisschen Unrecht tue). Schlicht und ergreifend seien sie, nämlich die eben erwähnten armen Schweine, lediglich in Ermangelung anderer als der menschlichen Gerätschaft zum Aufstieg dieser Figuren erforderlich gewesen.

   Ach, habe Sänger nach einer kurzen Pause am Ende geseufzt, so etwas habe man selber sozusagen auch mit hervorgebracht und es sei aus seinem verdamm­ten proletarischen Fleisch und Blut, wenn auch um ein paar Ecken herum.

    Ach, echote nach dieser Wiedergabe nun P. und fuhr fort: Sänger Franz habe sich offenbar hoch befriedigt davongemacht, bedauerlicherweise für immer. (P. habe er allerdings zunächst mit der Verwunderung über seine, Sänger Franz', überaus und überraschend wuchtigen Sätze zurückgelassen. Nämlicher pflegte sich ansonsten in einer Kürze auszudrücken, die ihm häufig sogar die Vollendung seiner syntaktischen Gebilde verwehrt habe.

    Sänger Franz' Charakterisierung der – wie er sie nannte – fetten Vögel, habe P. an einen Schulkameraden, einen gewissen Mentenheim, erinnert. Sänger Franz habe ihm die Augen dafür geöffnet, dass besagter Mentenheim ja in dieses Raster der schon auch irgendwie Mitleid erweckenden Amoraliker passe.)     

 

  Vermerk:

   Es ist durchaus angezeigt, dass P. mit der Vakanz eines zwar für ihn kurzweiligen, doch immerhin therapeutisch störenden Elements in den Genuss ei­nes Heilungsfortschritts gelangt. Möglicherweise hat sich damit das Personeninventar seines halluzinatorischen Vorrats tatsächlich verringert, wenn nicht gar erschöpft.

   Aktennotiz 4:

    Heutigen nachts sei P. eine Frau Hedwig erschienen, eine Heilige, wie er behauptet. P. holt in seiner Aufzeichnung etwas historisch aus. Dass es sich für ihn zunächst um jene mittelalterliche Edelfrau aus Andechs am Ammersee handle (wie er schelmisch anmerkt: Eine Dame, die lange vor der Einrichtung der Bier­wallfahrt durch die Mönche dort oben gelebt hatte), welche mit dem schlesisch-polnischen Piasten-Herzog Heinrich verheiratet worden war.

   Diese Chimäre (ärztl. Anm. – sit venia verbo) ha­be P. zu verstehen gegeben, dass sie jetzt pflegerisch besonders Notleidenden gegenüber tätig sei. Dies geschehe mittels ihres überirdischen Status’, dem sie sich verständlicherweise nicht entziehen könne und wolle, – sehr ätherisch. Und zwar nach ihrer Pro­motion medizinisch im weitesten Sinne. Diese heilige Frau Doktor Hedwig trug P. die Ge­schichte von einem ganz bestimmten, ihm (P.) gut bekann­ten, Mentenheim genannten, Erfolgsmenschen vor. Nämlich einem, wie er in historisch-religiös-moralisierender und was sonst noch Literatur gelegentlich auf-, aber doch leider selten ganz ausgeführt ist. Diese heilige Frau Kollegin (Anm. des Behandelnden) habe aufgezeigt, wie dieser gewesene Erfolgsmensch nun verelendet existiere. Wie nämlich er ehedem gewissermaßen gerade von seinen Erfolgen aufgeputscht und dessen Kräfte von seiner unersättlichen Raffgier verschlungen wurden. Wie dieser Mensch dann von seiner Habsucht aufgefressen, zumindest stark angenagt worden war.

   P. habe bei dieser Darlegung der Heiligen an den Magen als sozusagen Fresssack gedacht. Welcher erfahrungsgemäß tatsächlich im Stande ist, sich auch selber anzudauen. P. habe, davon ausgehend, tatsächlich sofort an einen ehemaligen Mitschüler, einen gewissen Karl Mentenheim, denken müssen, dem er gegen Ende seiner Außenzeit (nach seinen Worten zitiert) äußerst kritisch gegenüberstand. Besagter sei ihm (P.) die ganzen Jahre Sonne gewesen, in deren Schatten sich P. aufgehalten habe. Schließlich sei ihm (P.) jedoch aufgegangen, dass dieser Mentenheim ein Ausbund an Ichbezogenheit war, für den die Anderen nur allemal als Sprossen seiner Karriereleiter gedient hätten.

 

   Diesem M. sei er jetzt jedoch im Begriff, nichts mehr nachzutragen. Obgleich er diesem M. (setzt P. erneut an) ja in dessen Fresslust zum Opfer gefallen und beinahe ganz verschlungen worden wäre. Wenn P. sich dem nicht durch Tarnung seines Inneren (sic!) im letzten Moment entzogen hätte. Für ge­nannte Bewegung zu einer Art Fern-Versöhnung sei allerdings doch letztlich die zwar indirekte, doch immerhin begnadete Vermittlung o. g. Frau Doktor Hedwig ausschlaggebend gewesen.

    P. gibt schließlich vor, allmählich, vor allem bei näherem Hinsehen in deren Physiognomie – und nach etlichen verbalen Passagen, nebst ihrer Art, sich auszudrücken, eine gute alte Bekannte ausgemacht haben zu wollen. Eine gewisse Elsbeth stecke in dieser Verwandlung, erklärt er erregt atmend, um sich schließlich tief seufzend zu befreien. Eine Dame, mit der er eine Zeit lang (doch nur der alten Redeweise nach und nicht wirklich, jedenfalls nicht fortwährend) Tisch und Bett geteilt zu haben wähnt. Er holt aus: Eine Person anderen Geschlechts zwar, die in seiner Nähe sich aufgehalten, aber doch in ihrer Abgehobenheit seine, des P., ir­dische Lebensgewohnheiten beharrlich überflog. Bis sie eines Tages ganz entschwebt gewesen sei. Er sei auch mit der Annahme des Namens Hedwig, derer sie sich offenkundig befleißigte, absolut einverstanden. Da dies wohl dem Heiligwerden dienlich sei, wie alle Welt es vom Heiligen Vater in Rom erfahren konnte, der (wie stets seine Vorgänger) auch seinen Namen wechselte. P. wäre nun über die Verwirklichung Elisabeths vorbestimmter Engelhaftigkeit hoch befriedigt. Er gönne ihr das Hedwigsein von Herzen, beendet seinen Vortrag und geht schweigend offenbar seinen Schemen gedanklich weiter nach.

  

 Vermerk:

   Wenn sich der hier Beurteilende auch des Eindrucks einer Beruhigung des Patienten dank der ihm verordneten therapeutischen verbalen Aufarbeitung nicht verschließen kann, so sei doch ungeachtet dessen auf eine Mutmaßung in vorliegendem Fall hingewiesen: Der Patient befleißigt sich zumindest phasenweise einer gewissen, graduell noch nicht ganz festzulegenden Simulation. Die Anführung von P., er habe sich einer Tarnung seines Inneren bedient, mag als ein deutlicher, durchaus ernst zu nehmender Hinweis darauf gewertet werden.

   Aktennotiz 5:

   Der Patient Pinser bittet heute um einen erneuten Totalhaarschnitt, nebst -rasur, und zwar (ganz nach seinen Worten) auch an den gewöhnlich nicht öffentlich gemachten Stellen des Körpers. Seine Wor­­te folgend im Zitat: Über nämliche Leiblichkeit, der heutzutage häufig vernachlässigten Nichtöffentlichkeit der Körperteile, über welche die Höflichkeit zwar immer noch ihr überaus verschlissenes Gewand des Schweigens zu breiten versuche, wolle er sich gelegentlich moralisch auslassen.

    Herr Pinser begründet seinen Antrag folgendermaßen: Mit zunehmender Haarlänge falle er in letzter Zeit immer häufiger in eine Art Messiasrolle. Ins­besondere, wenn er sich im Nachthemd aus Gründen nicht weiter zu unterdrückenden Harndrangs zum Urinieren begeben genötigt sehe. Wie weit das lange, hinten offene und irgendwie beflügelt wirkende Kleidungsstück dabei eine fördernde Rolle einnehme, das möge vorerst dahingestellt sein. Denn es solle der Anstalt keinesfalls unterstellt werden, dass sie sich ihre Engel mit derlei simplen Maßnahmen selber zu schaffen in der Lage sei. Dieses o. a. Messiasgefühl aber überkomme ihn ganz besonders dann, wenn er sich im Anstaltsandachtsraum des Tags oder zu späterer Stunde aufgehalten hatte und (Zitat) zu einem guten Gespräch mit Allelter (zu welcher Bezeichnung später abzuhandeln sein würde) gefunden hatte.

   Das Besondere an seinem Messiasgefühl sei, dass er sich dessen während seines Theaters (wie er es ruhig, doch voll Respekt nennen wolle) nie selber bewusst ist. Er sei erst vom Pfleger Josef darauf hingewiesen worden. Er nehme es jedoch diesem ohne weiteres ab (sein unanständiges Grinsen dabei großzügig ignorierend). Herr Pinser fühle sich dann so wohl, ja überaus und geradezu selig. Herr Pinser sei sogar in Versuchung, darin fortzufahren, sich ganz da hineinfallen zu lassen, weil er zu wissen glaube, dass er in diesem Falle gar nicht bodenlos stürzen könne, sondern sogar mit Netz und doppeltem Boden bei diesem Fall ganz überirdisch gesichert wäre. Hingegen fühle er sich all dessen als – dem alten Ausdruck nach – Erdenwurm gar so unwürdig.

   Vermerk:

   Herr Pinser erörterte noch, nachdem die Vorlage seiner schriftlichen Ausführungen zur Kenntnis genommen war (zwar unaufgefordert, aber immerhin), sein o. a. Allelter-Konzept. Er erklärte, dass die gängige, religionsfundierte, von der Kunst umgesetzte christliche Gottvorstellung bei ihm nicht nur auf Skepsis stoße, sondern auf grundlegende und ganz entschiedene Ablehnung. Herr Pinser führte aus, dass die unsägliche (Zitat) Darbietung: Vater, Sohn und Geist (in der Kunst, besonders des Barock, entsprechend infantil ausgeführt) für die postulierte Dreieinigkeit eine Zumutung verkörpere. Er beurteilt dieses unsäglich platte (Zitat) Unterfangen sogar als gotteslästerlich und im Besonderen gegen das abrahamitische Grundgebot verstoßend, sich nämlich kein Bild machen zu sollen. Für den heutigen, nicht mehr magisch und mystisch ori­entierten Menschen selbst sei diese oben gerügte Vorstellung unverständlich, um nicht auch zu sagen: eine Zumutung.

   Wolle man einer Vorstellung einer All-Person mit menschlichen Mitteln nahe kommen, was ohnedies wegen der Beschränktheit der irdischen Geistigkeit eine Anmaßung sondergleichen verkörpere, so müsse man an etwas so Gewaltiges wie eine Allursprünglichkeit, Allgegenwärtigkeit, Allmöglichkeit denken und diese darüber hinaus, an etwas wie Elternschaft koppeln können, um die menschlichen Bedürfnisse nach Ursprung zu befriedigen. Daher sei seine Konstruktion dieses Allelter, das ohne Artikel zu gebrauchen sei und damit die unglaubliche Frage nach der Geschlechtlichkeit auch erst gar nicht aufkommen lasse.

... (Eine weitere Akteneinsicht war dann leider nicht mehr möglich.)

   So weit also die anstaltlichen Notizen über die mutmaßlich morbide Phase des Hugo Pinser, alias Tom. Es ist zu vermuten, dass weitere Aufzeichnungen existieren, in welchen verschiedene weitere Vorgänge, nämlich die etwas heftig aus der Normalität laufenden Gegebenheiten festgehalten sein mögen. Diese werden dann wohl in der gewiss zwar auf Ungewöhnlichkeiten eingestellten Einrichtung dennoch unter Verschluss gehalten werden. Da taucht vermutlich das absonderliche Verhalten des ärztlichen Kollegen auf. Das in der Be­legschaft zwar belächelt und nur gelegentlich mit der Vermutung belegt wurde, dass auch in solchen Einrichtungen eine Ansteckungsgefahr gegeben ist – und sich jeder in Acht nehmen müsse. In der Führungsetage betrachteten sie die Vorgänge allerdings als Peinlichkeit, bei der allerdings der Ball flach ge­halten wer­den sollte, damit bald Gras darüber wachse. Doch gelegentlich darauf angesprochen, war auch zu hören – vielleicht mit einem Lächeln unterlegt –, Dr. Sommer habe nur die Fakultät gewechselt, nämlich von der Medizin zu einer Art reformatorischer Theologie.

   Zu erfahren war immerhin, dass dieser behandeln­de Arzt, Dr. med. Alfons Sonner, nach der letzten Sitzung mit besagtem Patienten (den er im Übrigen nicht mehr so betitelte, sondern respektvoll mit vollem Namen benannte) zunächst mehrere unruhige Nächte zu durch­leben, eher zu durchwachen hat­te. Worauf er sich als nervlich aufgerieben und kör­perlich erschöpft als dienstunfähig meldete.

   Um den weiteren Weg der beiden Männer einigermaßen verfolgen zu können, muss man sich leider der Gerüchte darum annehmen. Und zwar zunächst der wahrscheinlichsten, nämlich dass Dr. med. Sonner Herrn Hugo Pinser gesundgeschrieben, freilich entlassen und zum Erstaunen aller persönlich seinen Hut genommen habe.

   Zu diesem Vorgang – so wird behauptet – sei die Entwicklung von Herrn Pinsers Allelter-Folgerung auf Dr. Sonner von überwältigender Wirkung gewesen. Er habe sie quasi übernom­men. Und nicht genug damit. Er versuchte sogar, sie in seinem Umfeld wiederholt zu erwähnen. Für den entscheidenden Schritt war dann ausschlaggebend, was Dr. Sonner im Kollegenkreis vortrug. Dass nämlich Herr Pinser ihm gegenüber mit einer sehr klaren und dem geistigen Verwirrtsein nicht zuzuordnenden Folgerung aufgewartet und ihn damit zunächst an klassische Beweisführung erinnert und darauf in Erstaunen versetzt habe. Diese Äußerung Pinsers habe gelautet:

Obersatz: Christus sprach mit dem alleinzigen Gott.

Untersatz: Christus ist Gott.

Schlusssatz: Also sprach Christus mit sich selber.

   Und im Übrigen brauche jemand, der Göttliches suche, damit ohnehin erst mit der Ursache alles Seins vor dem Urknall beginnen. Habe Herr Pinser ausgeholt. Denn bis zu diesem Ereignis vor etwa vierzehn Milliarden Jahren sei man wissenschaftlich vorgedrungen und wisse ziemlich viel. Zu glauben habe einer also lediglich, dass die Forscher recht haben.

 

   Dr. Sonner hatte diese Darlegung des Herrn Hugo Pinser leider nicht mehr protokolliert, so also hier die freie Übernahme der Mitteilung 'aus zweiter Hand'. Es steht zu vermuten, dass Dr. Sonner Herrn Hugo Pinser umgehend nach Absetzen der zitierten Beweisführung für gesund beurteilt hatte und dass er deswegen Herrn Hugo Pinsers Ausführungen keinen Platz mehr in der Krankenakte einräumen wollte.

   Wie man das nun auch immer würdigen mag, was einem da zu Ohren gekommen ist, ob man es überhaupt aufzunehmen bereit und gar zu beurteilen geneigt ist: Die beiden sollen seither im Lande umherziehen und als eine Art Wanderprediger auftreten. Ordentlich gekleidet seien sie, etwa in der Mode (wenn überhaupt), jedenfalls dunkel gehalten. Sie erzeugten, obendrein als Duo, gewissermaßen den Eindruck wie jene umherziehenden Evangelisten, die weidlich als Besucher an der Haustür und als überaus gesprächsfreudig bekannt sind.

 

   Unsere beiden Freunde hätten sich allerdings auf Pfarrhäuser spezialisiert gehabt.

    Ob und (wenn überhaupt) in welchem Maße sie dort immer auf Aufnahme- und Gesprächsbereitschaft trafen, konnte vorerst leider nicht in Erfahrung gebracht werden.

    Obwohl die beiden Verkünder sehr dezent auftraten und so gut wie keine Spuren hinterließen, war doch vor einiger Zeit in der örtlichen Presse ein Leserbrief auszumachen. Dieser war wohl in Replik der Maßregelung eines katholischen Priesters, der es gewagt hatte, mit einem protestantischen Geistlichen sozusagen sakral zu Tische zu gehen. Der Redakteur hatte dieses Schreiben aus zwei Gründen angenommen, vermuteten Insider. Einmal kannte er Dr. Sonner (nicht etwa als Patient, sei hier versichert), zum anderen war von ihm, dem Zeitungsmann, selber weidlich bekannt, dass er gerade in ambrosischen Dingen gerne mal wider den Stachel löcke.

 

Ökumene – und so weiter?

 

Welch eine Unstimmigkeit: Das ist (mein Leib). kontra (z. B. bei den Zwinglianern) das sei (...) – Geht es lediglich um Wirklichkeitsform gegen Möglichkeitsform?

Es handelt sich dagegen nicht nur um ein grammatikalisches Problem. Die Auseinandersetzung zielt auf nichts weniger als auf die Kernaussage der christlichen Eucharistie (deren ursprüngliche Bedeutung 'Danksagung' die Erweiterung 'Leib des Herrn' erfahren hatte).

So etwas Gewaltiges und gleichermaßen Unbegreifliches wie die Ver-Wandlung, mit Fachbegriff Transsubstantiation, des Brotes in den Leib des Gottessohnes steht zur Erörterung.

Hierbei ist es überflüssig anzumerken, dass die menschliche Wahrnehmung ganz und gar außer Stande ist, eine 'Metamorphose' des Brotes in den Leib Christi zu erfassen. Ja, die Erwartung, dass in der Kommunion der 'Leib Christi' sinnlich ergreifbar gereicht würde, erscheint nachgerade unsinnig.

Den Anhängern der Lehre aber, dass die gottesdienstliche Wandlung eine Wirklichkeit schaffender Vorgang sei, erscheint Luthers Vorstellung unannehmbar, es handele sich um einen symbolischen Akt, auch wenn Luther zugesteht, dass Christus stets in allem gegenwärtig sei.

Den katholischen Anti-Symbolisten ist es (ebenso) unmöglich, auf Rationalität abzustellen. Sie kommen gewiss nicht umhin, eine Art innere Wirklichkeit zu bemühen.

Es liegt bestimmt im Wesen von Religion schlechthin, dass die Vertreter der einen wie der anderen Richtung gehalten sind, den zitierten rationalen Bereich der Wahrnehmung zu überschreiten, um zum Glauben zu gelangen. Im emotionalen Bereich des Glaubens jedoch fallen die Gegensätze zusammen. Ja, sie heben sich auf. Gleichgültig also, wie formuliert wird, beide Richtungen finden sich im Glauben (so man denn dazu fähig ist) an die Gegenwärtigkeit von Christus wieder – und vor allem finden sie dort zusammen.

Ist demzufolge unter Gläubigen die wahre Ökumene nicht bereits gestiftet? Auch die erwähnten Anti-Symbolisten sind dort längst angekommen, ohne es sich allerdings einzugestehen: Die Wandlung findet ausschließlich im Glauben statt, und sie ist ein Akt der Seele.

(Vermerk 1 bezüglich des Glaubens: Man muss nicht glauben können, sondern man muss 'nur' glauben wollen, um gerechtfertigt zu sein.)

Dass dies auch von den römischen Fundamentalisten so oder so ähnlich gesehen wird, ist anzunehmen. So steht zu vermuten, dass es Rom um eine andere Qualität geht, sozusagen um eine Begleitgröße des Dissenses. Auf katholischer Seite wird der Verlust der Exklusivität des Sakramentempfangs in der Ökumene befürchtet. Es wird unterstellt, dass das Kommunizieren in eine Beliebigkeit 'abgleitet' und der voranzusetzende 'Reinigungsakt' in Beichte und Buße nicht mehr (ausreichend) gepflegt wird. Ein führender Katholik wurde immerhin mit der zynischen Bemerkung 'Brötchen essen' als Bezeichnung für das evangelische Abendmahl zitiert.

(Vermerk 2 und zur wohl wichtigsten Aufgabe von Kirche: Sie hat die Atmosphäre zu schaffen, in wel­cher der Glaube beim Einzelnen entstehen kann.)

 

Dr. A. Sonner, z. Zt. verreist

 

   Der Redakteur galt, nachdem der Text wie üblich 'außer Verantwortung der Redaktion' erschienen war, als seinerseits 'z. Zt. verreist', wegen Urlaubs, wie es hieß. Etliche Antwortschreiben liefen bei der Zeitung ein. Darunter befanden sich richtige Abhandlungen. Es ging immerhin um die Seele und in der Anschauung von entsprechend engagierten Zeitgenossen um deren Heil, also um Belange der Ewigkeit, einer Zeit-, also Endlosigkeit, wie man annimmt. Das ist gerade in der Provinz, wo die Menschen offenbar mehr Zeit haben, also sich der Ewig­keit vielleicht näher fühlen, von großer Bedeutung, wussten sie in der Lokalredaktion. Neben den Briefen ging so manche telefonische Anfrage ein, vornehmlich von Leuten, die sich dem Anschein nach nicht unbedingt abgedruckt und damit öffentlich festgelegt wissen wollten. Jemand wollte etwa wissen, ob das Heimatblatt nun doch endgültig zur Kirchenzeitung mutiert sei. Einen anderen Fernmündlichen interessierte, wie das Lokalblatt dazu komme, sich in so einen großkirchlichen Nicht-Dialog einzumischen, in das sanktionierte Schweigen der beiden gerne auch so genannten Bräute Christi nämlich, wo sich in dieser Sache bereits Luther und Zwingli nicht einigen konnten.    

    Dass mystische Erhabenheiten einfach keine Aufklärung duldeten und dass das jeder mit einem Funken Bildung wissen müsse, meinte eine Anruferin zwar entrüstet, aber doch wenigstens kurz und bündig.

   Nämlicher Zusatz des Verreistseins beim Verfasser eines Leserbriefes gelte selbstverständlich als ganz und gar unüblich, schimpfte noch einer telefonisch, da so eine Floskel nichts anderes bedeute, als in Ruhe gelassen werden zu wollen. Das solle sich eine Tageszeitung gefälligst aus existenziellen Gründen versagen. Er spiele jedenfalls mit dem Gedanken, sein Abo zu kündigen.

  

   Da die Welt ständig neue Erstaunlichkeiten hervorbringt, wurde der Angelegenheit bald keine Aufmerksamkeit gewidmet.

   Die Herren Sonner und Pinser betreffend, konnte nach einiger Zeit doch auch noch in Erfahrung gebracht werden, dass die beiden des Klinkenputzens, wie ja der unschöne Ausdruck für Hausbesuche lautet, bald leid waren. Auch sei ihnen eines ziemlich be­dränglich auf die Seele gegangen. Nämlich die Erkenntnis, gerade an den Häusern der geweihten Herren abgewiesen zu werden. So kamen sie auf die Idee, sich diese Türen dadurch zu öffnen, indem sie sich jeweils zum Beichtgespräch anmeldeten. Dort werden sie dann möglicherweise wenigstens versucht haben, ihr aufklärerisches Anliegen um die Speisenwandlung mittels Glaubenskraft und die anderen Erleuchtungen zu diskutieren oder einfach nur vorzutragen. Etwas Genaueres über Inhalt und Verlauf dieser Aktionen im Beicht­-Raum war natürlich aus den allseits – zumindest aber in den konfessionell konformen und daher eingeweihten Kreisen – bekannten Gründen nie zu erfahren. Diese Methode habe sich jedenfalls einige Zeit bewährt, da die geweihten Herren, mit denen sie in diesen Diskurs traten, an das Beichtgeheimnis gebunden (wie vorhin angedeutet), nichts verlautbaren lassen durften.

    Ganz erfolglos dürften diese Gespräche für unsere beiden nicht gewesen sein. Das zumindest in ei­gener Einschätzung, da sie eine ganze Weile fortgesetzt worden waren. Doch sind auch etliche Beob­ach­ter damit zu vernehmen gewesen, dass sowohl Dr. Sonner wie auch sein Partner Hugo Pinser, alias Tom, die so­zu­sagen heiligen Hallen stets mit einem sehr zufriede­nen Gesichtsausdruck verlassen haben sollen.